Unwille zu bleiben

„Are we doomed?“ fragt David Runciman – London Review of Books Vol. 47 No. 21 · 20 November 2025 – Der moderne Mensch stirbt nicht an Katastrophen, sondern an seiner eigenen Bequemlichkeit, dem Überfluss an Möglichkeiten und dem schwindenden Willen, sich fortzupflanzen.

Donne ch’avete intelletto d’amore

In Donne ch’avete intelletto d’amore wandelt Dante die Liebeslyrik des dolce stil novo zur feierlichen Lobdichtung um, richtet sich an Frauen, die das Wesen der Liebe verstehen, und begründet damit eine neue, von Guido Guinizzelli inspirierte Form poetischer Erhebung, in der das Loben selbst zum Ausdruck göttlicher Erkenntnis wird.

Penetranz der negativen Reste

Je weniger echte Laster und Gefahren bleiben, desto empfindlicher reagieren wir auf ihre Reste – und verwandeln selbst den harmlosen Schluck Cola in ein gesellschaftliches Bekenntnis.

Ein Streifzug durch die Apparate der Gnade

Evangelikale Politik mobilisiert kurzfristig über Ereignisse, doch die katholische Verwaltungskultur übersetzt Glauben verlässlich in Verfahren—und politisch setzt sich am Ende jene Seite durch, die Strukturen und Verfahrensschutz beherrscht.

Die Glockenrede

In GARGANTUE UND PANTAGRUEL verspottet Rabelais mit der grotesk-gelehrten „Glockenrede“ eines Pariser Magisters die hohle Scholastik, als dieser vergeblich die Rückgabe der von Gargantua gestohlenen Glocken von Notre-Dame fordert.

Von der Kreativität

Ursprung, Tat und Gerinnung bleiben nur dann lebendig, wenn Theorie, Institutionen, Kapital und KI nicht als Quellen missverstanden werden, sondern als Werkzeuge, während Schöpfung letztlich Mut, Freiraum und Liebe braucht.

Wieso das Christentum zur Weltreligion werden konnte – und warum seine Heilszeitenlehren bis heute wirken

Das Christentum wurde in einer von Ungleichheit und Sinnkrisen geprägten Epoche zur Weltreligion, weil es als narrative „kostenlose Hoffnung“ soziale Blockaden in Verheißung verwandelte – eine Dynamik, die sich in der modernen Heilszeitenlehre fortsetzt, indem sie enttäuschten Gesellschaftsschichten eine Rolle im göttlichen Geschichtsplan zuschreibt.

Nichts passiert – überall Öffentlichkeit

Kierkegaard hält unsere Zeit – damals wie heute – für ein Zeitalter lähmender Reflexion, in dem wir statt leidenschaftlich zu handeln endlos reden, vergleichen und konsumieren, und ruft dazu auf, endlich Entscheidungen zu treffen und „das Ding zu tun“.

Wie geht Utopie

Erleuchtung wirkt nicht aus dem Verstand, sondern über diesen hinaus. Aber worin zeigt sich der Einfall, wenn nicht in der Schöpfung neuer Begriffe, also im Aus- oder Umbau des Verstandes? Begriffe bilden Lebensform; neue Lebensformen entstehen nicht durch Denken oder Bewegungen des Verstandes, sondern durch Geistesblitz – Dichtung. Der Zustrom neuer Lebensform liegt in der…

Katholizismus

Der Katholizismus, oft als weltfremd belächelt, war in Wahrheit ein Versuch, durch spirituelle Disziplin und institutionelle Innovation Ordnung in eine chaotische Welt zu bringen – von der Askese bis zur Diplomatie.

Vom Nationalgott zur Weltreligion

Aus einer ursprünglich national gebundenen Religion entstand über das Christentum und den Islam ein universaler Monotheismus, der – jeweils auf eigene Weise – auf jüdischen Grundlagen aufbaute, sich davon ablöste, imperiale Strukturen übernahm oder selbst hervorbrachte und so zu einem prägenden Modell religiöser Weltordnung wurde.

Co-Autoren der Schöpfung – Schreiben als göttlicher Akt

Das biblische Gottesbild – verkörpert durch einen sprechenden, lernfähigen und revidierenden Schöpfer – zusammen mit der Figur des poetischen Königs David und einer mutmaßlich weiblichen Erzählinstanz begründet eine literarische Revolution, in der Autorität nicht durch Gewalt, sondern durch Sprache, Selbstreflexion und fortdauernde Interpretation entsteht.

Bibel als Apologie König Davids

Die Bibel ist kein einheitlich offenbartes Gotteswort, sondern ein vielschichtiges Macht- und Identitätsdokument, das in einem historischen Spannungsfeld entstand, politische Interessen literarisch verarbeitet und bis heute kulturell wirksam ist.

Alfred Sohn-Rethel – Wie unser Denken vom Handel geprägt wird

Die Grundidee: Erst handeln, dann denken Alfred Sohn-Rethel stellt eine wichtige Frage: Wie kommen wir eigentlich auf Dinge? Die meisten Philosophen dachten: Zuerst haben wir Ideen im Kopf, dann handeln wir. Sohn-Rethel dreht das um: Zuerst handeln wir, und dabei entstehen unsere Denkformen. Sein wichtigstes Beispiel ist der Handel mit Geld. Wenn ich einen Apfel…

Tango-Plot

1. Zentrales Gegensatzpaar Zwei Hauptfiguren mit stark kontrastierenden Eigenschaften, Lebenshaltungen oder sozialen Rollen. Sie sollen auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen – z. B. kühl vs. impulsiv, erfahren vs. naiv, regeltreu vs. anarchisch. 2. Vieraktstruktur I. Prolog: Begegnung oder Vorgeschichte Zeige eine erste Begegnung oder eine angespannte Vorgeschichte, die den Grundkonflikt etabliert. Verzichte auf Erklärungen –…

Hochgebirgsgesellschaften in den Anden

Die andinen Hochlandgesellschaften entwickelten über Jahrtausende ein einzigartiges, nicht-marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem mit ökologisch gestaffeltem Landbesitz, frostresistenter Landwirtschaft und staatlich organisierten Produktions- und Verteilungsmethoden, das bis heute Spuren in Sprache, Ethnographie und agrarischer Praxis hinterlässt.

Schwerkraft als Ursprung von Sprache, Sinn und Verantwortung

Grammatik, Moral und Bedeutung entstehen nicht aus Regeln oder Symbolen, sondern aus leiblich getakteten Bewegungen im Widerstand der Schwerkraft – weshalb Künstliche Intelligenz nur dann wirklich versteht, wenn sie zu fallen, zu halten und im Gleichgewicht zu handeln vermag.

Leben vor der Theorie – und was danach bleibt

Wer nur dekonstruiert, verliert leicht das Maß – und gerade darin unterscheiden sich Deleuze, Derrida und Foucault von einer Philosophie, die das gelebte Wort und den leibhaften Anderen zum Ursprung nimmt.