Jeder kennt die Diskussionssituation, die etwa so endet: „Das ist Deine Meinung – dagegen habe ich meine Meinung. Und das ist gut so, wir leben schließlich in einer Demokratie. Ich würde alles dafür tun, dass Du Deine Meinung äußern kannst, auch wenn ich sie nicht teile.“
Es wird vielleicht Zeit, dass wir hierin die ultimative Mikroaggression entdecken. Denn wer fühlt sich von so einer Antwort nicht völlig erübrigt? Warum ist das so?
Ich lese gerade „Shakespeare – Die Biographie“, in der der Autor Ackroyd herausstellt, dass bei Shakespeare erstmals deutlich das Individuum als Träger und Treiber der Handlung auftaucht, die Götter der Mythen und Mysterienspiele davor ersetzend. Dass der Mensch selber Herr seines Geschicks sein soll, dessen Schicksal er dann mit anderen auf dem Marktplatz der Gelegenheiten aushandelt, ist eine relativ neue Idee. Traditionell fühlen wir uns als Menschen eingewoben in einen größeren Zusammenhang, der uns aufhebt und mit Sinn versorgt. Shakespeares selbständig handelndes Individuum geht einher mit der Genese des Kapitalismus und der Neigung, sein Gegenüber auszubeuten.
Und Shakespeare gilt als unantastbar. Wer kann etwas gegen Shakespeare haben (der übrigens als steinreicher Mann starb, da er nebenher so etwas wie ein Daytrader in den wirtschaftlichen Zusammenhängen seiner Zeit war)?
Es ist vielleicht interessant, sich zu erinnern, welche Geistesgrößen nichts mit Shakespeare anfangen konnten. Vor allem fallen mir dazu Tolstoi und Wittgenstein ein. Beide hielten Shakespeares Stücke für unverständlich bis läppisch. Mit Tolstoi kenne ich mich weniger aus; ich nehme an, dass er die Gottlosigkeit von Shakespeares Helden nicht mochte. Bei Wittgenstein rührt die Ablehnung wohl aus seiner Philosophie oder Anti-Philosophie.
Wittgenstein hatte sich geweigert zu theoretisieren, stattdessen nur die Worte unserer Sprache beschrieben, um herauszukehren, was sie bedeuten: was jeder zugeben muss, der eine Sprache spricht, weil er oder sie sonst nichts verstünde. So konnte Wittgenstein entdecken, dass wir nicht sprechen, um Gedanken mitzuteilen, sondern im Sprechen denken. Etwa wie ein Spieler den Fußball einem anderen Spieler nicht mitteilt, sondern aus dem Verständnis des gesamten Spiels heraus handelt, um diesem eine Richtung zu geben.
Unsere Gedanken, Gefühle, Vorstellungen sind demnach immer öffentlich, gehen die ganze Menschheit an und schlagen ihr eine Richtung vor. Das ist so wenig eine Privatangelegenheit wie der Ball, den ein Fußballer dem anderen zuspielt. Insofern liegt in der Nichtbeachtung einer fremden Meinung immer etwas Abtreibendes. Die Tröstung der anderen Person, sie habe ein Recht zur Meinung, die man nicht teile, vertuscht das.
Muss deswegen jede Meinung gelten? Wäre logisch unmöglich, weil Meinungen sich mitunter ausschließen, nur eine auf Kosten der anderen zugestimmt werden kann, welche sie somit konturiert. Insofern trägt jede Meinung zu einem Gesamtbild bei, das durch sie – so oder so – eintritt. Und das ist auf jeden Fall eine öffentliche, keine Privatsache.
Treffender ist es daher eventuell, dem Widerpart nicht zu sagen, er habe ein Recht auf seine Meinung, sondern sie sei gebunkert. So wird durch Individualisierung weniger verkannt.
Was meint dann aber das Wort Individuum? Ich nehme an, die Möglichkeit einer Richtung, welche die Allgemeinheit nehmen kann.