Genozid-Fantasien der Bibel

„Wenn du dich einer Stadt näherst, um sie anzugreifen, so biete ihr zuerst Frieden an. Wenn die Stadt den Frieden annimmt und ihre Tore öffnet, dann sollen alle Bewohner der Stadt für dich arbeiten und dir dienen. Wollen sie aber keinen Frieden und kämpfen gegen dich, so belagere die Stadt. Wenn Gott dir den Sieg schenkt, töte alle Männer, aber nimm Frauen, Kinder und Tiere als Beute. – Bei Städten, die weit entfernt sind und nicht zu den Gemeinschaften oder Völkern gehören, deren Besitz dir nach dem göttlichen Plan zusteht, darfst du so verfahren. In Bezug auf die Ortschaften aber von Völkern, die dir laut himmlischer Anordnung zufallen, sollst du niemanden am Leben lassen. Du sollst sie vollständig zerstören, damit sie dich nicht dazu verleiten, ihre abscheulichen Bräuche anzunehmen und gegen Gott zu sündigen.“ 5. BUCH MOSE Kap. 20

Die Historizität der hier geschilderten Eroberung des Gelobten Landes wird inzwischen stark bezweifelt, so dass der Text nicht als wörtlicher Bericht von tatsächlich stattgefundenen Ereignissen zu verstehen ist. Vielmehr könnte es sich um eine Art „Kompensation“ für die Unfähigkeit der Israeliten handeln, gegen mächtigere Feinde wie die Assyrer oder Babylonier vorzugehen.

Das Konzept der „Kompensation“ ist aus der Psychologie und Soziologie bekannt. Wenn Menschen oder Gruppen in der Realität nicht in der Lage sind, bestimmte Ziele zu erreichen oder bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, neigen sie dazu, dies in der Vorstellung oder durch symbolische Handlungen zu kompensieren. In diesem Fall könnte die Fantasie von der Eroberung ihres Landes für die Israeliten eine Möglichkeit gewesen sein, ein Gefühl von Macht und Kontrolle zu erlangen, das ihnen in der realen Welt verwehrt blieb.

Der Text kann auch als Manifest für die Unabhängigkeit Judäas nach der assyrischen Herrschaft gesehen werden. Die Assyrer waren für ihre brutale Kriegsführung und Unterdrückung der eroberten Völker bekannt. Nach dem Ende der assyrischen Herrschaft könnte das Volk Israel ein starkes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit verspürt haben. In diesem Zusammenhang kann die blutige Fantasie von der Eroberung des Landes als eine Art „postkoloniales“ Narrativ betrachtet werden, das dazu dient, die Identität und den Zusammenhalt des Volkes zu stärken.

Dies stellt die ethische Legitimität des Textes in Frage. Wenn er in erster Linie als symbolische oder kompensatorische Erzählung verstanden wird, wie sollte er also in der modernen Welt interpretiert werden? Kann er als Rechtfertigung für Gewalt oder Unterdrückung dienen oder sollte er als Produkt seiner Zeit und Kompensationstraum gelesen werden?

Liefert diese Deutung ev. auch einen Schlüssel zum Schreck der Hamas-Charta?