Lauter Liebe

AFTERSUN beschäftigt mich weiter als Dramaturg, weil der Film keinen Spannungsborgen hat, trotzdem sehr stark wirkt. Wie kann das sein? Die Regisseurin beschreibt im Interview, wie sehr ihr die “script labs” (Sundance) während der Drehbuchbesprechungen mit analytischen Fragen zusetzten. Die aber wohl alle nichts brachten für ihre Absichten. Sie kann sie selber nicht in deutliche Worte fassen (sonst hätte sie den Film nicht zu machen brauchen). In einem Nebensatz erwähnt sie, so gut wie jeden Ziel-Konflikt aus der Beziehung zwischen Vater und Tochter entfernt zu haben, da es ihr um lauter Liebe gegangen sei. Klingt leicht kitschig, hätte echt daneben gehen können. Der Film trifft aber ins Schwarze. Was macht er so richtig?

Wenn Hingabe in unserem Leben ein Rolle spielt, wenn wir uns verlieben, haben wir das nie geplant, werden also überrascht davon. Wir erfahren eine Befriedigung, die wir uns so nie vorgestellt hatten. Die uns deswegen aus der Fassung bringt. Eine Liebesbegegnung ist nie ein Moment reinen Glücks, in dem “alles zusammenkommt”, sondern geht notwendig einher mit Verblüffung, Verwirrung, dem Gefühl, dass wir über etwas verfügen, von dem wir kaum wissen, was wir damit anfangen sollen. Dabei durchaus angenehm, vielleicht das einzig Bedeutende überhaupt.

Zwei Antworten sind darauf möglich. Entweder steigen wir auf die Sache ein – oder wir versuchen, rückwirkend eine Absicht zu konstruieren. Damit können wir im Fall von Liebe steckenbleiben: wenn die unfreiwillige Befriedigung zu etwas Gewolltem gemacht wird, indem wir den anderen etwa zur Antwort auf unsere Gebete stilisieren und damit das Element des Unberechenbaren verwerfen, das Unmögliche zum Möglichen machen und die Liebesbegegnung rekonfigurieren zu einem Erfolg. In wahrer Liebe aber wird, wie’s aussieht, gerade die Nichtzuordenbarkeit zur Bedingung des Verhältnisses. Wir bekommen nicht nur nicht, wonach wir verlangten, sondern obendrein, wonach wir nicht verlangten. Liebe kann daraufhin auch weiter nur bestehen als unerwartetes Ereignis. Ihr Schicksal gleicht insofern (dramaturgisch) dem der Komödie, indem beide (Liebe wie Komödie) sich um etwas drehen, das die reibungslose Ergänzung von Wunsch und Erfüllung ausschließt, und es in einer Beziehung verkörpern, deren Genießbarkeit durch die Harmonie ihrer Bestandteile Schaden nähme – was die Parteien aber nicht trennt, sondern ihren unverfälschten Zugang (von Du und Du) erst ermöglicht.

Liebe wäre, so gesehen, erreicht durch ihr Eintreten, also bereits am Ziel, indem sie vorfällt. Dramaturgisch macht das einen Strich durch jeden Spannungsbogen, der ja eine Funktion von Absichten (sich kreuzenden Willensbahnen und Leidenschaften) ist, die gerade im Fall der Liebe (aber auch echter Komödie, das wäre ein weiteres Thema …) keine Rolle spielen dürfen. Aftersun scheint mir, so betrachtet, reine Liebe, die uns während 90 Minuten immer wieder überrascht und tief befriedigt. Die Herangehensweise der Macherin zeigt sogar auch den Versuch, eine Absicht und damit Verstand in das Geschehen zu zwingen, der es zerstören würde, indem eine sentimentale Erinnerung darauf gerichtet wird, die irgendwie glücken soll. Indem aber auch sie schließlich scheitert, das Geschehen sein Unberechenbarkeit verteidigt, bleibt der Film ein perfektes Meisterwerk.

P. S. Nach meiner Erfahrung mit Geschichten ist die erfolgreichste von allen Aschenputtel. Es könnte passieren, dass ich nochmal ein ganzes Buch darüber schreibe, so perfekt ist dieses Märchen. Es enthält alles, was einen zum Menschen macht und unserem Leben Bedeutung verleihen kann. Ein wichtiger Moment in Aschenputtel ist das Geschenk von Zaubermitteln, die es einem erlauben, die Welt nach seinen Wünschen zu gestalten. In Aftersun muss es das auch geben, sonst würde der Film mir nicht so gefallen. In der Szene, einer meiner liebsten, kriegt Sophie ein All-Inclusive-Armband geschenkt und bestellt sich damit eine Fanta. Die Szene ist ein kleines Meisterwerk, zeigt das Talent der Regisseurin, ihren Sinn für Timing, Witz. Ist obendrein thematisch interessant, denn für das Mädchen, welches Sophie beschenkt, ist das Armband wertlos, da sie sich zu viel darunter vorgestellt hatte, das allein deswegen – weil es fantasiert wurde – nie überzeugend wahr werden kann. Für Sophie hingegen bedeutet es eine tolle Überraschung, die sie gleich mal mit einer fetten Fanta ausbaut.