Im Gilgamesch-Epos gibt es an zentraler Stelle das gewaltige Gebet der Mutter des Helden an die Göttin Ishtar:
Herrin, die du der Himmel geworden bist
Und groß wie die Erde, die du an ihrem Kreis
Aufgehst wie Shamash und mit ihm untergehst,
Herrin, die du der Morgenstern bist und der Stern
Dieses Abends, die du den Himmel hinansteigst
In deinem Glanz, der schrecklich anzusehen ist,
Herrin, die du dein Licht über die Erde bringst,
Wenn du über die Berge kommst und die Zedern,
In deinem Glosen aufflammen lässt ihre kalte Glut,
Herrin, die du den Himmel zu uns herunterbringst
Wie eine Klinge gegen den Schild der Erde und sie
In Blut tauchst in der Schlacht, die den Tag schlägt,
Herrin, die du die Nacht bist mit ihrem Rachen,
Ihre Krallen, die sich in die Erde graben,
Die im Dunkeln leuchtenden Augen einer Löwin,
Herrin, die du die Nacht des Himmels abschreitest
Und über dem Abgrund der Gebirge stehst:
Als du zu deinem Berg kamst, war niemand da,
Dir die Huldigung zu erweisen, die dir zusteht,
Niemand, der vor dir im Staub lag, niemand,
Der dir ein Opfer brachte, niemand, der dich dort
An deinem Gipfel auf den Thron hob, niemand.
Herrin, du hast deinen Arm auf das Gebirge gelegt
Und deine Hände dem Himmel geöffnet.
Doch niemand war da im Wald und am Gipfel
Und hat dir gezeigt, wie sehr er dich fürchtet.
Herrin vergib ihnen, sie waren nur Männer,
Die nicht wussten, was sie tun. Vergib Gilgamesh:
Er glaubte nun, ein Mann zu sein, doch muss er erst
Lernen, was es heißt, ein König zu sein!
Und nun bitte ich dich, erscheine zu dem Fest,
Das Gilgamesh versprochen hat, dir zu weihen,
Wenn er heil zurückkehrte. Die Gerste ist zur Ernte
Jetzt bereit, und du allein bist es, die dem neuen Jahr
Seine Fruchtbarkeit verleiht: Komm᾽ und kröne es!
Die starke Faszination, die von diesem Text ausgeht, rührt von der Bewunderung her, die wir als Kinder für unsere Eltern empfinden oder, allgemeiner gesagt, als Menschen für diejenigen, die wir nachahmen, um „jemand“ zu werden. Denn wir werden nicht mit einer Persönlichkeit geboren, die sich entfaltet, sondern in ein Umfeld hineingeboren, das wir in uns aufnehmen und an dessen Regeln wir uns aufrichten.
Die ursprüngliche (kindliche) Ahnung oder Erwartung ist die einer Vollkommenheit, an der wir (noch) nicht selbst, aber durch Identifikation teilhaben. Jeder Mensch weiß, dass er oder sie höchst unvollkommen, nur ein halbes Wesen ist – im Vergleich zu denen, die es bringen oder gebracht haben, zu Göttern oder Berühmtheiten, zu Influencern. Die Verherrlichung des Anderen liegt dem Missbrauchsverhältnis zugrunde, etwa dem Verhältnis der Prostituierten zu ihrem Zuhälter, das in seiner Krassheit um so deutlicher das Verhältnis des Gläubigen zu seinem Gott widerspiegelt.
Wenn Feuerbach sagt, der Mensch bete in Gott sich selbst an, so hat er nur halb recht. Denn der Mensch betet in Gott nicht sich selbst an, sondern das, was er sein möchte, die Vollkommenheit, die er vermisst.
Das ist in allen Religionen der Fall, die einen herrschenden Gott haben.
Eine merkwürdige Ausnahme bildet das Christentum mit seinem gespaltenen, sterblichen Gott, der sich in seiner Unvollkommenheit offenbart, zugrunde geht und dann noch einmal kurz auftaucht, um alles, was zählt, dem „Heiligen Geist“ zu übergeben.
Es gibt dazu eine bemerkenswerte Stelle im Matthäus-Evangelium: „Deshalb sage ich: Alle Sünden können den Menschen vergeben werden, selbst die Gotteslästerungen, die sie aussprechen. Wer aber den Heiligen Geist lästert, wird keine Vergebung finden. Wer etwas gegen den Menschensohn sagt, dem kann vergeben werden. Wer aber gegen den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der kommenden.“
Es kommt mir so vor, als ob Jesus die Blasphemie, die in anderen Religionen mit dem Tode bestraft wird, ausdrücklich erlaubt oder dazu auffordert. Er würde damit so etwas signalisieren wie „nobody is perfect“ (nicht einmal Gott) – außer (dann): der Heilige Geist.
Der aber ist nichts anderes als die Gemeinschaft der Menschen:
„Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.“ JOHANNES 15.15
Darin liegt eine Solidarität Gottes mit den Menschen, die nicht mehr durch ein Machtverhältnis bestimmt ist, sondern Gott zwischen Menschen ausmacht, ohne die es ihn nicht gäbe („Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte …“). Nicht besonders sexy und der Impotenz verdächtig. Aber vielleicht doch nachhaltiger als die Vorherrschaft eines allwissenden, perversen Gottes.