Liebe und Scham

In Platons Symposion präsentiert Aristophanes, einer der anwesenden Gäste, als Komödiendichter eine humorvolle, aber extrem einflussreiche Rede über die Natur der menschlichen Liebe. Er erzählt eine Schöpfungsgeschichte, in der die ursprünglichen Menschen vier Arme, vier Beine und zwei Gesichter hatten. Diese Wesen waren sehr mächtig und stellten eine Bedrohung für die Götter dar.

 

Aus Angst vor ihrer Stärke beschloss Zeus, sie in zwei Hälften zu teilen, wodurch die Menschen, wie wir sie heute kennen, entstanden. Nach dieser Teilung sehnten sich die Menschen ständig nach ihrer verlorenen Hälfte und suchten sie ihr ganzes Leben lang. Dieses Verlangen, die verlorene Hälfte wiederzufinden, ist laut Aristophanes die Grundlage der menschlichen Liebe.

Aristophanes‘ Erzählung dient dazu, die menschliche Sehnsucht nach Ganzheit und Einheit zu erklären, und wie Liebe dieses Bedürfnis anspricht. Man muss sich aber nur das Bild dazu anschauen, wie hässlich und grotesk es wirkt, um zu sehen, dass das nicht der Sinn der Liebe sein kann.

Der Sache näher kommt IMHO Jacques Lacan mit seiner „Lamelle“, einer Art Parodie der Plazenta. Lacan nennt’s einen Mythos, also ein Bild, um etwas Unfassliches zu veranschaulichen. Indem wir geboren werden, trennt sich nach diesem Märchen von uns die Lamelle, wird in gewissem Sinne abgerissen, hinterlässt deswegen Löcher in unserem Leib, welches die Öffnungen der Triebe sind: Mund, Augen, Ohren usf. Das Tun unserer Triebe wird danach als Versuch gedeutet, die Lamelle – das Abgerissene – zu vergegenwärtigen. Das Bild des unvollständigen Menschen bleibt also erhalten, aber ihm/ihr geht nicht jemand anderes, sondern „die Lamelle“ ab.

Das hat Konsequenzen für die Liebe. Lacan meint (wohl), dass wir im Moment des Verliebens in Verbindung zur Lamelle geraten, indem wir das Bedürfnis nach ihr im anderen gewahren, der somit nicht Gegenstand, sondern Leitung unserer Liebe wird – der Gegenstand ist die Lamelle. Und stimmt es nicht, dass wir uns eigentlich nie in die andere Person, sondern in etwas an ihr verlieben, das eher einer Schwäche gleicht?

Ich musste daran denken, als ich gestern Darren Aronovskys The Fountain sah, der als völlig missglückt gilt, aber ein tatsächliches Liebespaar in seiner Mitte hat. Und sie nutzen einander als Mittler zu etwas Unsäglichem.

Verliebt wären wir, so gesehen, eher, wenn der andere uns etwas offenbart, was ihn oder sie selber überrascht, am besten erröten lässt. Wir verlieben uns also nicht in das Instagram-Profil einer Person, sondern in etwas, weswegen er oder sie sich schämt.