Gleichheit – sät Gewalt?

Ich folge gerade den Gedanken René Girards in einem Blitzkurs zum bitteren Ende, der eine Art Zen-Rückzug vor der Welt empfiehlt, damit diese nicht zugrunde geht.

Girard leitet das alles aus der von ihm unterstellten Tatsache ab, dass wir nichts spontan machen, sondern alles lernen. Wir werden also zu Menschen, indem wir Vorbilder nachahmen, zunächst unsere Eltern, später die Familie, eine Gruppe von Gleichgesinnten usw.

Hat er damit recht? Wenn es anders wäre, neige ich zu sagen, würden wir von alleine anfangen zu sprechen und müssten es nicht lernen – durch Nachahmung dessen, was uns vorgesprochen oder vorgekaut wird. Und was ist Sprechen anderes als Denken?

Die Folge des Erwerbens einer Persönlichkeit durch Nachahmung ist dann, nach Girard, dass wir entsprechend gleich ticken, was bedeutet, dasselbe begehren. Denn wir wünschen nichts spontan, sondern weil es „alle wollen“. Ein gleichgültiger Gegenstand weckt unser Interesse und wird zum „Fetisch“, indem wir merken, dass jemand anders ihn begehrt.

Wir sind infolgedessen dazu verurteilt, früher oder später übereinander herzufallen. Das ist die bittere Pointe Girards, die er mit seiner Auslegung urtümlicher Überlieferungen, z. B. dem Schicksal Kains und Abels, begründet.

Girard entwickelt dann eine Theorie des beschwichtigenden Rituals, das sich ursprünglich um ein Menschenopfer dreht. Dieses stiftet eventuell eine Gottheit, die dann über den Schritt des Christentums ein Rechts- und Verwaltungssystem zur Folge hat. Dies umfasst vor allem das Gewaltmonopol des Staates, aber auch die freie Marktwirtschaft, welche den Brudermord auf raffinierte Weise umsetzt.

Trotzdem befürchtet Girard, dass wir verloren sind, weil die Betonung der Gleichheit unter Menschen ihren Untergang einläuten muss.
Das wirkt auf den ersten Blick absurd oder steht allem entgegen, was unseren moralischen Horizont stählt. Betrachten wir aber mal die Ehe als eine der Institutionen, um Gewalt zu binden – ist es gut für sie, dass die Parteien in ihr immer gleicher werden? Oder wird ihr Rahmen nicht im Gegenteil davon gesprengt?

Man muss sich dafür vorstellen, dass Mann und Frau denselben Beruf haben, gleich viel verdienen, z. B. sind beide Schauspieler. Jetzt aber hat einer mehr Erfolg als der andere, die Frau erhält z. B. die Hauptrolle in einer Serie, während der Mann an einem kleinen Stadttheater engagiert wird. Wird er nicht seiner Partnerin, aller Liebe zum Trotz, ihren Erfolg eher neiden, als sich mit ihr darüber zu freuen? Und wäre es umgekehrt nicht ebenso (wenn die Frau mit ansehen muss, wie ihr Partner zum Star wird)?
Welche Ehe, könnte man spekulieren, ist mehr zum Untergang verurteilt: die, in welcher die Partner nach denselben Zielen streben, oder die, in welcher sie unterschiedliche Ziele verfolgen (in der sie weniger gleich sind)?

Girard glaubt entdeckt zu haben, dass die Gefahr von Mord und Totschlag in dem Maße wächst, in dem Menschen sich ähneln. Und er denkt, dass wir heute – infolge von Massenmedien und globalem Handel – uns so ähnlich werden, dass es zu einer Apokalypse kommen muss. Diese wird im Inneren einer Gemeinschaft abgewendet oder im Zaum gehalten durch das Gewaltmonopol des Staates und seiner Rechtsprechung. Zwischenstaatlich aber gibt es keine solchen Monopole, weswegen ein Atomkrieg unausweichlich ist.
Girard selbst hatte sich zum Ende seines Lebens deswegen von der Welt abgewandt und Frieden in einer Art mönchischen Abgeschiedenheit gesucht.

Eine beunruhigende Aussicht.

P. S. Mit fällt dazu auf einmal der mittelalterliche Mönch Meister Eckart ein, der das Hauptgebot er Christenheit, die Liebe (also die Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt) ketzerisch in Abrede stellt und durch „Abgeschiedenheit“ ersetzen will: „Die Lehrer loben gar gewaltig die Liebe, wie zum Beispiel Sankt Paulus mit den Worten: »Was ich auch üben mag, habe ich nicht Liebe, so habe ich gar nichts.« Ich aber lobe die Abgeschiedenheit mehr als alle Liebe. Zum ersten darum, weil das Gute an der Liebe ist, dass sie mich zwingt, Gott zu lieben. Nun ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir zwinge als dass ich mich zu Gott zwinge. Und das kommt daher, dass meine ewige Seligkeit daran liegt, dass ich und Gott vereinigt werden; denn Gott kann sich passender mir anpassen und besser mit mir vereinigen, als ich mit ihm. Dass Abgeschiedenheit Gott zu mir zwingt, das bewähre ich damit: ein jedes Ding ist doch gerne an seiner natürlichen Eigenstätte. Nun ist Gottes natürliche Eigenstätte Einfachheit und Reinheit; die kommen von der Abgeschiedenheit. Darum muss Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen hingeben.“