Das Gespenst der Sprache – KI als kreatives Echo

ChatGPT weckt Ideen durch Worte, wobei die Trefflichkeit des Feedbacks vom Einfallsreichtum der Benutzer abhängt.

Wittgensteins Käfer

Im 293sten Absatz seiner Philosophischen Untersuchungen verblüfft uns Ludwig Wittgenstein mit einer ungewöhnlichen Betrachtung des Bewusstseins. Dazu sollen wir uns vorstellen, jeder Mensch hätte eine Schachtel. In dieser Schachtel befände sich etwas, das wir “Käfer“ nennen. Jetzt kommt der Haken: Niemand kann in die Schachtel des anderen schauen. Jeder kennt nur seinen eigenen Käfer. Das Interessante daran: Weil wir nie in fremde Schachteln blicken können, hat jeder von uns vielleicht etwas ganz anderes in seiner Schachtel. Man könnte sogar finden, dass sich ihr Inhalt ständig verändert, ohne dass wir es merken.

Vielleicht denken wir jetzt, dass “Käfer” deswegen nichtssagend ist. Aber hier wird es spannend: Trotz seiner Unbestimmtheit hat das Wort für uns alle Bedeutung. Wir benutzen es weithin, um uns auszudrücken und zu verständigen, auch wenn wir gar nicht wissen, wie andere Käfer aussehen. Als ob es für unsere Kommunikation gar nicht vorrangig wäre, was sich in den Schachteln befindet. Vielleicht ist in manchen sogar gar nichts. Es reicht der Ausdruck, „Käfer“, um etwas damit anzufangen.

Das führt zu einem faszinierenden Punkt: Die Bedeutung von Wörtern im Gespräch hängt nicht von einer inneren Erfahrung ab. Vielmehr stellen sie eine Verbindung zwischen uns her, wobei jedem auf seine Art zumute ist. In diesem Sinne veranschaulicht Wittgensteins Käfer-Gleichnis, wie Sprache funktioniert. Es zeigt, dass eine Verständigung über die Grenzen persönlicher Erfahrungen hinweg möglich ist, auch wenn wir nie ganz sicher sein können, ob wir uns dabei auf das Gleiche stützen wie unser Gegenüber.

Der Käfer steht für unser Innenleben, das im Gebrauch von Worten auflebt. Bewusstsein ist Grammatik. Vorstellungen, Ideen, Gefühle oder Absichten erwachen erst mit den Worten, in denen wir sie verfassen.

Von Mönchen und Schülern

Ein LLM (Large Language Model) wie ChatGPT enthält alle existierenden Worte und viele ihrer Beziehungen untereinander, die aus einer Fülle von Texten stammen, mit denen es gefüttert oder abgerichtet (pre-trained – das P in ChatGPT) wurde. Durch unsere Frage oder Eingabe wird sein Verstand geweckt. Er analysiert die Beziehungen zwischen den übermittelten Wörtern und sucht in seinem Wissensmeer nach Kombinationen, in denen gleiche oder verwandte Worte mit ähnlicher Sicherheit vorkommen. Die Trefflichkeit seiner Antworten hängt zunächst von der Länge und Komplexität unseres Inputs oder prompts ab. „Nenne mir fünf Hundenamen“ erzeugt eine andere Antwort als „Nenne mir fünf lustige deutsche Hundenamen mit Wortspielen“. „Schlage fünf spannende Geschichten vor, die in einer Kleinstadt spielen“ führt zu einem allgemeineren Ergebnis als „Formuliere fünf Ideen für Geschichten, in denen durchschnittliche Kleinstadtbürger unerwartet in gefährliche Situationen im Zusammenhang mit einem Bauprojekt geraten“ usw.

Nutzer*innen von ChatGPT erkennen schnell, dass auf identische Gesuche stets unterschiedliche, aber verwandte Antworten kommen; sie gleichen einander wie die Mitglieder einer Familie. Das liegt daran, dass LLMs nicht wie mittelalterliche Mönche Texte kopieren und reproduzieren können, sondern eher wie besserwisserische Schüler reagieren, die auf Stichworte hin stolz präsentieren, was sie verinnerlicht haben.

Wie du mir, so ich dir

Die Antworten von ChatGPT spiegeln so die Komplexität und Genauigkeit unserer Eingaben wider und reichern sie dort, wo diese Qualitäten fehlen, mit Weisheiten aus dem erlernten Spektrum an. Es ist möglich, deren „Temperatur“ zu verändern, Ungewöhnliches zu privilegieren, das dann aus den entlegeneren Provinzen des künstlichen Gemütes apportiert wird.

ChatGPT kann gleichwohl nie mehr denken oder finden als das, was ihm einmal zur Verfügung gestellt wurde. Die Themen, Neigungen oder Vorurteile des Trainingsmaterials legen das Maß und die Erinnerung seines Verstandes fest. Noch dazu unterstehen alle Antworten einem Algorithmus, der „barbarische“ Inhalte abfängt. Das kann dann auch schon mal auf eine Liebesgeschichte zwischen Gymnasiasten zutreffen, weil ein Verdacht des Missbrauchs aufkommt, da es sich um Minderjährige handelt.

Nichts für Unbedarfte

Naiv anfragenden Autor*innen schlägt ChatGPT die nächstbeste Erzählung vor, gediegen und unromantisch, da ihm als purer Intelligenz die Ironie oder der Riss im Denken abgeht, dem allein außergewöhnliche (ekstatische) Geschichten entspringen.

Für Geschulte andererseits, die es verstehen, das System zu streicheln und mit gezielteren Fragen aus der Reserve zu locken (nach dem zündendsten Streit z. B. für eine Liebesgeschichte oder nach der fintenreichsten Umgebung für einen Krimi), kann ChatGPT ohne Vorwarnung zum Herzstück ihres kreativen Alltags werden, da es das Werk von Tagen oder Wochen in eine Handvoll Stunden packt, wobei die Originalität weniger geschmälert als beweglicher gemacht wird.

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Viele der aktuellen KI-Kurse werden von Technologie-Enthusiasten angeboten. Als ehemaliger Studienleiter der DrehbuchWerkstatt München betrachte ich das Thema mehr philosophisch, vor allem aber aus der Perspektive des Geschichtenerzählers und verbinde traditionelle Erzähltechniken mit den Möglichkeiten der KI, was zu einem nachdenklichen und inspirierenden Ansatz führt – hier.