Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie

1051 Wie verschwommen auch mein Gesichtsbild sein mag, so muss es doch eine bestimmte Verschwommenheit haben, so muss es doch ein bestimmtes Gesichtsbild sein. Das heißt wohl, es muss einer genau passenden Beschreibung fähig sein, wobei eben die Beschreibung die gleiche Vagheit haben müsse, wie das Beschriebene. – Aber nun wirf einen Blick auf das Bild und gib eine in diesem Sinne passende Beschreibung! Diese Beschreibung sollte eigentlich ein Bild, eine Zeichnung sein! Aber hier handelt sich’s eben nicht um eine verschwommene Kopie eines verschwommenen Bildes. Was wir sehen, ist ein ganz anderem Sinne unklar. Und ich glaube, die Lust, von einem privaten Gesichtsobjekt zu reden, könnte einem vergehen, wenn man öfter an dies Gesichtsbild dächte.

Die Abbildungsweise, die sonst möglich ist, ist eben hier nicht möglich.

Wittgenstein spekuliert hier, scheint mir, über die Möglichkeit, eine Kopie oder ein Bild des menschlichen Gesichtsfeldes anzufertigen. Ist das denn möglich? Ein Bild hat z. B. immer Grenzen, einen Rahmen, während unser Gesichtsfeld grenzenlos ist, indem nie genau festgestellt werden kann, wo es anfängt oder aufhört. Es ist so verschwommen wie der Übergang vom Wachsein in den Schlaf.

Wir können unser Gesichtsfeld nicht reflektieren infolgedessen, sondern sind ihm ausgeliefert, seiner Unschärfe. Bilder schaffen Ordnung, ziehen Grenzen in die Verschwommenheit, lassen das Unpassende außen vor. Bilder, denen es nicht um Ausschnitte, sondern das ganze Gesichtsfeld geht, müssen daher etwas Ungewisses ausstrahlen (das Lächeln der Mona Lisa).

Man könnte auch sagen, echte Kopien des Gesichtsfeldes müssen eine Abwesenheit signalisieren. Das gelingt Worten besser als Bildern; denn ein Wort steht per se für die Abwesenheit dessen, was es vertritt. Ein kurzes Gedicht kann „die ganze Welt“ eingeben.

186 Wenn ich z. B sage „Ich bin aufgestanden, um zum Milchwagen zu gehen“, – soll man das die Beschreibung eines Erlebnisses des Beabsichtigens nennen? Und warum ist das irregeleitet? Darum, weil es hier keinen ‚Ausdruck‘ eines Erlebnisses gab?

Ich vermute, Wittgenstein geht es hier um das psychologische Phänomen des Willens. Wie kommt dieser zu seinem Inhalt? Indem er ihn von etwas (Innerem, also Unsichtbarem) abliest?

In der Erklärung meiner Absicht, dies oder das tun zu wollen, die Beschreibung eines Erlebnisses zu sehen, heißt es dann weiter noch, wäre „irregeleitet“. Aber warum?

Wenn ich sagte „Verdammter Mist, ich muss jetzt wieder zu diesem Drecksmilchwagen gehen“, würde das z. B. eine innere Bewegung, in diesem Fall Überdruss, ausdrücken. Die aber macht meine Aussage nicht zu Absicht – mutwillig wird sie durch etwas anderes als das, was dabei in mir vorgeht.

Ich denke, Wittgenstein will hier darauf hinaus, dass Emotionen, Bewegungen, Gemütszustände – „Psychologisches“ – nirgendwo abgelesen, sondern artikuliert oder geäußert werden. Meine Zahnschmerzen etwa werden nicht von mir beobachtet, um dann ein Bild (eine Beschreibung) von ihnen anzufertigen, sondern realisiert in ihrer Äußerung, die sie nicht deutet, sondern ausmacht.

Auch Intendieren (wie die Erklärung der Absicht, zu dem Milchwagen gehen zu wollen) ist etwas Inneres (Psychologisches), indem es seine Sache nicht beschreibt, sondern ausspielt.

Was wir „Innenwelt“ nennen, besteht, findet Wittgenstein, in nichts, von dem sich etwas ablesen ließe, sondern in spontanen Äußerungen. Was ist der Unterschied zwischen einer Beschreibung und einer Äußerung? Eine Äußerung ist nicht reflektiert (kann nicht lügen) und verlangt immer eine Antwort oder Handlung, indem sie dafür sorgt, dass etwas in jemandes Hände gelangt, gleich einem Ball in einem Spiel. Dessen Nachvollzug ist Gegenstand der Psychologie.

338 Es könnte so sein: Denk Dir, ein Maler wollte ein Bild entwerfen: “Beethoven beim Schreiben der neunten Symphonie”. Ich könnte mir leicht vorstellen, was etwa auf so einem Bild zu sehen wäre. Aber wie, wenn einer darstellen wollte, wie Goethe ausgesehen hätte beim Schreiben der neunten Symphonie? Da wüsste ich mir nichts vorzustellen, was nicht höchst unpassend und lächerlich wäre.

Wieder eins dieser verblüffenden Bilder Wittgensteins. Es geht wohl, denke ich mal, um die Maßgeblichkeit der Umgebung für einen seelischen Inhalt oder Vorgang. Wir denken und schaffen nicht aus uns heraus, sondern kraft einer Rolle, welche wir spielen, also durch einen größeren Zusammenhang. Ich schaue weiter in den Bemerkungen nach, konsultiere die Umgebung von 338, etwa den nächsten Absatz:

339 Schau ein wohlbekanntes Möbelstück, am alten Platz, in Deinem Zimmer an! “Es ist ein Teil eines Organismus” möchtest Du sagen. Oder: “Nimm es heraus, und es ist gar nicht mehr dasselbe” und dergleichen. Und natürlich denkt man da an keine kausale Abhängigkeit eines Teils von den übrigen. Eher ist es so: ich könnte diesem Ding einen Namen geben und von ihm etwa aussagen, daß es von seiner Stelle gerückt ist, einen Fleck hat, staubig ist, etc.; wollte ich es aber ganz aus seinem jetzigen Zusammenhang nehmen, so würde ich sagen, es habe aufgehört zu existieren, und ein anderes sei an seine Stelle getreten.

Hier würde ich einsteigen mit „keine kausale Abhängigkeit“ eines Teils. Ich habe z. B. nach dem Tod meiner Mutter Möbelstücke von ihr übernommen in meine Wohnung. Dort stehen sie teilweise wie Fremdkörper; denn sie sind Teile eines anderen Zusammenhangs. Ihre Abhängigkeit von diesem Zusammenhang ist nicht kausal, sondern bedeutsam. Sie sind also nicht wie Zahnräder, die aus einem Getriebe entfernt wurden und durch andere ersetzt werden könnten. Ihre Beziehung zu ihrer Umgebung ist nicht „extern“ oder zufällig, sondern „intern“; sie hören in einem bestimmten Sinne auf zu bestehen in einem anderen Zusammenhang.

Ich schaue auf der Suche nach noch mehr textlicher Umgebung in die Absätze über 338, dort ist die Rede von der „Aura“, also Ausstrahlung eines Gegenstandes. Auch diese ist eine Weiterung seiner Umgebung. In einem anderen Kontext wirkt derselbe Gegenstand oder dieselbe Geste bizarr bis unmöglich, wie z. B. das Komponieren der 9. Sinfonie durch Goethe – oder Formulieren der Relativitätstheorie, könnte man sagen, durch Anne Will usf.

Wittgensteins Gedanken beziehen sich dabei, schließlich geht es in seinen Bemerkungen um Psychologie, auf innere Vorgänge (das Komponieren …). Auch deren Bedeutung hängt – wie die eines Möbelstücks – ab von ihrer Umgebung. Andernfalls könnten wir uns Goethe beim Komponieren der 9. Sinfonie vorstellen.

So gesehen, bricht der seinsmäßige Unterschied zwischen Innen und Außen zusammen. Psychologische Bewandtnisse oder seelische Zustände sind Zusammenhänge wie andere auch, nur nicht kausal, also nicht mechanisch, sondern (lt. 339) ‚organisch‘.

Was unterscheidet eine ‚Organ’isation von einem Getriebe? könnte man weiter spekulieren. Sie hat, fiele mir spontan dazu ein, eine Seele (Corporate Identity), muss also psychologisch, nicht mechanisch gedeutet werden. Wobei die Seele eben nicht dem einzelnen Mitglied entspringt, sondern seinem Zusammenspiel mit der Umgebung. (Soviel zum Hirngespinst des „freien Marktes“.) Die 9. Symphonie kann gewissermaßen keine Privatangelegenheit sein.

Dazu passt die Beobachtung viele Autoren und Künstlerinnen, dass sie ihr Werk nicht selber schaffen, sondern „channeln“. Werden bzw. sind wir, so gesehen, etwa nicht unsterblich?

228 Denken ist eine imaginäre Hilfstätigkeit; der unsichtbare Strom, der alle diese Arten des Handelns trägt und verbindet. – Die Grammatik von „denken“ aber gleicht sich der von „sprechen“ an.

Denken und Sprechen haben also eine verwandte Grammatik, sind in ähnlicher Weise geregelt. Menschen, welche dieselbe Sprache sprechen, denken analog. Was wir ganz gut in der Fremde, im Urlaub bemerken, wenn wir unerwartet auf einen Landsmann treffen, der uns dann noch zu unsympathisch sein mag, trotzdem verstehen wir auf Anhieb besser, wie er tickt, als unsere neuen Freunde unter den Eingeborenen, deren Sprache wir nicht gelernt haben.

Denken wiederum ist, sagt Wittgenstein in seiner Bemerkung, Handeln. Was sich mit anderen Worten nicht bewegen kann, würde auch nicht denken (können). Andererseits wird Denken charakterisiert als „Hilfstätigkeit“. Hilfe ist immer zweitrangig, nie unerlässlich, sondern verfängt, wenn ein Verlauf in Not geraten ist, wieder auf Spur gebracht werden muss. In diesem Fall wird gedacht. Denken hat also keinen eigenen Inhalt, sondern betrifft die Innigkeit einer Handlung. Insofern gleicht es dem Zögern. Wir können nicht schlechthin zögern, sondern nur bei etwas, das auch ohne Verzögerung anschlägt. Zögern ist nur eine „Hilfstätigkeit“. Wie Denken.

Denken, heißt es, sei der „unsichtbare Strom, der alle diese Arten des Handelns trägt und verbindet“. Hängt eine Handlung also zusammen, weil sie gedacht wird, würde ohne Denken zerfallen? Denken wäre dann keine Hilfstätigkeit mehr, sondern das Wesen einer Handlung. Aber denken wir immer, wenn wir handeln – nicht vielmehr erst dann, wenn eine Handlung irgendwie unsicher wird, zu entgleisen droht? Gibt es erst das Denken, entsprechend danach das Handeln, oder ermöglichen neue Handlungen neue Gedanken?

Wittgenstein will die beiden, Denken&Handeln, offenbar nicht trennen. Demnach müsste alles, was wir uns denken können, auch getan werden können. Wenn nicht im tatsächlichen, dann im „imaginären“ (so gut wie wirklichen) Raum.

Denken gleicht auch insofern einer Handlung, als es einen Anfang und ein Ende (echte Dauer) hat. Ich kann jemand auffordern zum Denken wie zu einer Handlung: „Denk doch mal nach!“ Auch: „Mach dir da mal keinen Kopf!“ Diese Aufforderungen klingen nicht unsinnig.

1050 Wenn es sich nun so verhält, daß es ein Bedeutungserlebnis zwar gibt, dies aber etwas Nebensächliches ist, – wie kann es dann so sehr wichtig scheinen? Kommt das daher, daß dies Phänomen einer gewissen primitiven Deutung unserer Grammatik (Sprachlogik) entgegenkommt? Aus dem gleichen Grunde, wie man sich oft vorstellt, es müsse die Erinnerung an ein Ereignis ein inneres Bild sein, und wie ja so ein Bild manchmal wirklich existiert.

Hm – den Abschnitt würd‘ ich von hinten aufrollen … Wenn wir uns an etwas erinnern, haben wir nicht immer dessen Bild vor Augen. Wir können uns auch an etwas erinnern, ohne es vor uns zu sehen. Das innere Bild gehört nicht zum Wesen der Erinnerung, kann aber hinzutreten, um sie auszumalen. Dann ist es ein Erinnerungsbild.

Wittgenstein vergleicht das mit einem „Bedeutungserlebnis“. Eine Bedeutung kann mit anderen Worten begriffen, zusätzlich aber auch noch erlebt werden. Am Begriffenen liegt uns dann mehr, indem wir’s nicht nur verstehen, sondern obendrein auch noch erleben, z. B. den Klang oder die Stimmigkeit eines Wortes oder die Erhabenheit eines Alltagsgegenstandes (etwa einer Blume oder von Holzschuhen in dem Bild van Goghs …).

Es gibt Leute, die sind bedeutungsblind: sie verstehen zwar, was Sache ist, aber nicht die „zarten Hinweise“ darüber hinaus. Solche Leute tragen zum Beispiel zweckmäßige, aber hässliche Kleidung & sehen nicht, was dadurch abgeht.

Das Erlebnis einer Bedeutung ist logisch oder praktisch überflüssig, gerade dadurch aber besonders kostbar = Sinn des Lebens. Sein Hinzutreten stört so wenig wie das Bild einer Erinnerung, ist aber überflüssig.

110 Die unheilbare Krankheit ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Hm – eine Anspielung darauf, dass wir sterblich sind? Oder dass uns grundsätzlich etwas fehlt, lebenslang? Welchen Kontext implizieren die Abschnitte davor und danach?

106 “Ich wußte, von wem ihr geredet habt.” – Wie konnte ich’s wissen? Und was war das für ein Seelenzustand, das ‚Wissen, daß von diesem Menschen die Rede ist’?

107 „Von wem habt ihr gesprochen?” – “Vom N.” ‒ ‒ “Von meinem Freund N.” – “Von dem Menschen auf dieser Photographie.” – “Von dem, der jetzt zur Tür hereinkommt.”

108 Gott, wenn er in unsere Seele geblickt hätte, hätte dort nicht sehen können, von wem wir sprechen.

109 In der Philosophie muss man unterscheiden: zwischen Sätzen, die unsere Denkneigung ausdrücken, und denen, die das Problem lösen.

Soweit die Abschnitte vor 110 – danach dann:

111 Du beziehst Dich mit dieser Äußerung auf den Zeitpunkt des Redens. Es macht einen Unterschied, ob Du Dich auf diesen, oder auf jenen Zeitpunkt beziehst.
(Die bloße Worterklärung bezieht sich auf keinen Zeitpunkt.)
Wie fängt man an, das zu sagen? (Worin liegt die Wichtigkeit dieser Frage?)

Dieser Kontext gibt mir ein, dass es hier um den „Ort“ des Wissens geht: „Gott, wenn er in unsere Seele geblickt hätte, hätte dort nicht sehen können, von wem wir sprechen“. Wenn wir z. B. über „N.“ redeten, kann man aus dem, was dabei in uns vorgeht, nicht ablesen, ob es sich dabei um den Mann handelt, der gerade zur Türe hereinkommt, oder den Mann auf dem Foto, das z. B. auf dem Schreibtisch steht oder an der Wand hängt.

Wittgenstein will, denke ich, darauf hinaus, dass unsere Gemütszustände alleine noch kein Wissen enthalten, sondern dafür in einem weiteren Zusammenhang stehen müssen. Wenn ich z.B. gerade meinen Klapprechner verwende, um diesen Text zu schreiben, wird eine Untersuchung dessen, was sich dabei in der Zentraleinheit abspielt, nicht abwerfen, was Sache ist. Beispielsweise sind die Leser dort nicht verzeichnet und ihre inneren wie äußeren Antworten, ohne welche die Bedeutung unvollständig bliebe.

Selbst wenn wir jemand wie „meinen Freund N.“ deutlich vergegenwärtigen, ist daraus für Gott, der in unser Gemüt blickt, nicht zu ersehen, was damit gemeint ist. Weswegen die SF-Fantasie des Hochladens meiner Gehirnzustände in einen Rechner nie abwerfen kann, was sie verspricht. Denn sie ergeben nur Sinn in einer bestimmten, geschichtlichen Umgebung.

In der Philosophie, geht es dann (109) weiter, müsse man unterscheiden zwischen Sätzen, „die unsere Denkneigung ausdrücken, und denen, die das Problem lösen.“ Darauf folgt der Abschnitt 110: „Die unheilbare Krankheit ist die Regel, nicht die Ausnahme.“

Das Philosophieren wäre demzufolge Ausdruck einer Krankheit, die sich heilen lässt oder unheilbar bleibt. Unheilbar infolge eines bestimmten Stils, der lediglich „Denkneigungen“ auswalzt, etwa die Annahme, unser Gemüt (als Gegenstand der Psychologie) enthalte Dinge, die etwas bedeuten. So kommt, findet Wittgenstein, man nie wieder auf die Beine.

Der folgende Abschnitt 111 führt dazu näher aus, dass es eben einen Unterschied für die Bedeutung macht, zu welchem Zeitpunkt ein Wort gesagt wird (ob sich dabei z. B. jemand mir vor oder nach der Äußerung zuwendet oder wegschaut). Rein philosophische Erklärungen wären dagegen zeit-, damit bedeutungslos.

303 Um Dich in einer Umgebung auszukennen, mußt Du nicht nur den richtigen Weg von einer Ortschaft zur andern kennen, sondern auch wissen, wohin Du gerietest, wenn Du diese falsche Wendung nähmst. Dies zeigt, wie ähnlich unsere Betrachtungen Wanderungen in einer Landschaft sind zum Zweck des Anlegens einer Karte. Und es ist nicht unmöglich, daß eine solche für die Gebiete, die wir begehen, einmal angelegt werden wird.

Ich nehme an, hier beschreibt Wittgenstein seinen Stil des Philosophierens. Ziel ist das Anfertigen einer Landkarte. Diese gibt nicht die gesamte Landschaft wieder, sondern die Wege, welche von einem Punkt zum anderen führen. Um zu so einer Karte zu gelangen, müssen wir auch die Wege kennen, die ins Nichts führen.

Als ich angefangen habe, Wittgenstein zu lesen, habe ich so gut wie gar nichts verstanden, weil mehr als die Hälfte seiner Darlegungen in der Beschreibung von Wegen besteht, die ins Nichts führen. Sie werden nie als solche gekennzeichnet, sondern wir werden eingeladen, ihnen zu folgen – bis ans Ende – und dadurch selber zu sehen, was es auf sich hat mit ihnen.

Wittgenstein stellt so gut wie keine Theorie auf, sondern spürt nur der Verwendung von Worten in unserer Sprache nach und den möglichen Irrwegen, welche sie eingeben. Sein Spätwerk Philosophische Untersuchen geht größtenteils auf folgende sogenannte „mentale“ Phänomene und Begriffe ein: „verstehen“, „lesen“, „weiterwissen“, „Regelfolgen“, „Empfindung“, „denken“, „vorstellen“ und „Vorstellungen“, „träumen“, „Ich-Bewusstheit“, „beabsichtigen“, „wollen“ usw.

Wittgensteins Nachvollzug der alltäglichen Bedeutung dieser Worte läuft hinaus auf den Zerfall des Trugbilds einer „inneren Welt“, aus der er das Seelenleben befreit, wodurch es echter, genießbarer wird.

Wittgensteins Wanderungen durchs Gebiet der Sprache zersetzt die über 2.000 Jahre alte philosophische Vorstellung, das Gemüt des Menschen sei aufgebaut nach dem (und gerechtfertigt durch das) Vorbild der Welt äußerer Gegenstände. Seit den Zeiten des heiligen Augustin wird eine „Innenwelt“ voller geistiger Angelegenheiten als erwiesen erachtet; dasselbe gilt – in verweltlichter Form – für Descartes oder später für Kant und seine „transzendentale Psychologie“.

Die „Innenwelt“ genießt ein enormes Ansehen. Die in ihren Vergegenwärtigung erscheinende „Geistigkeit“ macht sie sowohl philosophisch als auch religiös interessant. Geist, der sich eigentlich nicht verdinglichen lässt, bekommt Gewicht und Prestige kraft seiner Verkörperung durch (innere) Angelegenheiten nach dem Muster wirklicher Gegenstände, die man behandeln (sich vorknöpfen und „hinkriegen“) kann. Verloren geht dadurch freilich, wie Wittgenstein uns zeigt, etwas unendlich viel Wertvolleres: das lebendige, atmende Seelenleben.

Die im Verlauf von 2.000 Jahren versteinerte Vorstellung, das „Ich“ könne seine „mentalen Inhalte“ betrachten, sich irgendwie vorstellen, hat sich dermaßen festgesetzt, dass sie als Gemeinplatz gilt und ihre Leugnung folglich als Mangel an Verstand betrachtet wird. Jeder bedeutende westliche Philosoph seit Plato – und heute auch jeder Psychologe – geht in der einen oder anderen Weise von „inneren Angelegenheiten“ des Selbst oder Bewusstseins aus. Sie alle nehmen an, dass Vorstellungen, Gedanken, Eindrücke, Ahnungen und dergleichen einen Standort im menschlichen Gemüt haben.

Plato, Aristoteles, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, William Occam und seit der Renaissance Rationalisten wie Descartes, Spinoza und Leibniz oder Empiriker wie Locke, Berkeley, Hume – sie alle gehen aus von „geistigen Gegenständen“, mit denen der Mensch inwendig verkehrt und umgeht, wenn er etwas „weiß“, „wahrnimmt“, „sich vorstellt“, „glaubt“, „denkt“ oder „beabsichtigt“. Dass es „mentale Inhalte“ gar nicht geben könnte, ist vor Wittgenstein keinem bedeutenden Philosophen aufgefallen.

Es erscheint einfach unvorstellbar, weil die Besinnlichkeit als Inneres, denkt man, irgendwie nötig ist, um Äußeres zu spiegeln oder zu bestätigen, wenn man diese Trennung – zwischen innen und außen – einmal vollzogen hat. Indem er den selbstverständlichen Gebrauch von Wörtern wie „denken“, „meinen“, „beabsichtigen“ usw. sorgfältig nachvollzieht, stellt Wittgenstein jedoch heraus, dass die Grundannahme eines inneren Geschehens unnötig dualisiert – zu dem eingebildeten Zweck einer Vermittlung zwischen innerer und äußerer Bühne, welche nur seinsmäßig verschieden gedacht zu sein scheinen, um in fantastischer Weise wiedervereint werden zu können.

Dies alles und mehr wird jedoch von Wittgenstein nirgendwo in Form einer schlüssigen Theorie zusammengefasst oder positiv ausgesprochen, sondern steht gewissermaßen zwischen den Zeilen seiner Bemerkungen. Deren Ausdrucksweise – alltagssprachlich und in Sinnbildern – führt dazu, dass jene, die „metaphysischere“ Ausdrücke gewohnt sind, dazu neigen, Wittgenstein nicht ernst zu nehmen oder für lächerlich zu halten.

34 Ich sage mir: “Was ist das? Was sagt nur diese Phrase? Was drückt nur aus?” – Es ist mir, als müsste es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe. Und dieses Verstehen würde dadurch erreicht, dass man eine Menge über die Umgebung der Phrase sagt. So als wollte man eine ausdrucksvolle Geste in einer Zeremonie verstehen. Und zur Erklärung müsste ich die Zeremonie gleichsam analysieren. Z.B. sie abändern und zeigen, wie das die Rolle jener Geste beeinflussen würde.

Bedeutung entspringt nach Wittgenstein immer erst der Umgebung, nicht einer isolierten Einheit oder Geste, also z. B. auch nicht dem Inhalt meines Gemütes. Nicht einmal Zahnschmerzen werden bedeutend dadurch, dass ich sie habe, sondern erst, indem ich sie äußere und etwas daraufhin geschieht (etwa der Arzt seinen Bohrer an einer bestimmten Stelle ansetzt).

Ein Beispiel, das Wittgenstein später öfters benutzt, um sein Beobachtung zu veranschaulichen: das Kippbild.

Ob wir in der Zeichnung eher einen Hasen sehen oder eher eine Ente hängt davon ab, welche Bilder wir daneben legen, welche Umgebung wir schaffen. Inmitten von Enten sehen wir eher eine Ente, inmitten von Hasen eher einen Hasen. Wobei sich materiell an der Zeichnung – die für den Zustand eines individuellen Gehirns steht – nichts verändert.

Mein Selbst ist somit immer eine Funktion meiner Umgebung. Wer auf seine Identität pocht, fordert damit eine bestimmte Form der Gesellschaft oder Übung ein.

Psychologisch ist diese Bemerkungen Wittgensteins, indem sie als Quelle des Bewusstseins keine inneren Zustände oder Verläufe, sondern überpersönliche Muster erkennen, die sich in der „Zeremonie“ der Sprache finden lassen, welche eine Gemeinschaft verbindet.

Ich werde zu dem, was ich bin, könnte man es auch „hegelischer” ausdrücken, immer erst durch das, was ich nicht bin.

975 Analogie zum ‘Wert’ und ‘Grenzwert’ einer Funktion. ((wichtig))

Offenbar geht es hier zunächst um den Unterschied zwischen Wert und Grenzwert, also ein Bestimmung aus der Mathematik. Ein Wert seht fest unabhängig von seinem Betrachter, ein Grenzwert dagegen wird nie rein rechnerisch erreicht, sondern verlangt einen Glaubenssprung, verdankt sich einer mentalen Leistung oder Zutat des Betrachters.

Dieser Unterschied soll wichtig sein in einer anderen – gleichzusetzenden – Hinsicht. Um herauszufinden, was es mit dieser auf sich hat, muss ich mich umsehen in der Umgebung von 975.

Es geht dort, sehe ich nun, um den Unterschied zwischen geistigen Vorgängen und Zuständen. Ich kann auf den Verlauf meiner Schmerzen achten, heißt es etwa unter 972, aber nicht ebenso auf den meines Glaubens, oder Wissens.

976 … wie wäre es wenn wir Dinge willkürlich rot oder grün sehen könnten? Wie würde man dann die Wörter „rot“ & „grün“ anwenden lernen? Es gäbe dann vor allem nicht einen ‘roten Gegenstand’, höchstens einen den man leichter rot als grün sieht.

Wittgenstein kommentiert hier Ansichten des estnisch-amerikanischen Psychologen Wolfgang Köhler zu Figuren oder Mustern, die sich verändern können, je nachdem, wie wir sie betrachten, deren Gestalt also eine Funktion oder Weiterung unseres Willens ist – wie der Grenzwert im Vergleich zum Wert einer Funktion in der Mathematik.

Der Wert einer Funktion entspricht dagegen eher meinem Glauben oder Wissen, die ich nicht zum Gegenstand meiner Beobachtung, daher meines Willens machen kann.

210 Unser Begriff der reinen Zukunft “Es wird geschehen” – im Gegensatz zu “Es will geschehen” und “Es soll geschehen”. Muß jedes Volk diesen Begriff haben, der gleichsam die Zeit räumlich auffaßt?

Die Frage scheint mir hier, ob “jedes Volk”, also jede menschliche Gemeinschaft in egal welchen z. B. geographischen Umständen (Wüste, Gebirge, Meer, Flußlandschaft) denselben Zeitbegriff hat.

Zwei Abschnitte tiefer heißt es: Wer nur an seinen Fingern zählt, für wen 5 die Hand, 10 der ganze Mensch ist und wer dann die Menschen wieder an seinen Fingern abzählt, etc., für den wird das Dezimalsystem nicht ein beliebiges Zahlensystem sein. Es ist für ihn nicht eine Methode des Zählens, sondern das Zählen.

Wenn wir drei oder sieben Finger besäßen, hätten wir ein anderes Zahlensystem. Unsere Begriffe, die Regeln also unseres Denkens, kommen nicht aus dem Jenseits, sondern sind eine Weiterung unserer Umgebung.

211 Wenn ein Lebensmuster die Grundlage für unsere Wortverwendung ist, so muss in ihr eine Unbestimmtheit liegen. Das Lebensmuster ist ja nicht genaue Regelmäßigkeit.

Die Wirklichkeit ist nie so genau wie die Begriffe, welche wir ihr entziehen. Je mehr diese ihr entsprechen sollen, desto unschärfer müssten sie werden. Ideen geht den Dingen also nicht auf den Grund, sondern vereinfachen oder entfremden sie?

151 Nur inmitten gewisser normaler Lebensäußerungen gibt es eine Schmerzäußerung. Nur inmitten von noch viel weitgehender bestimmten Lebensäußerungen den Ausdruck der Trauer, oder der Zuneigung. U.s.f.

Zahnschmerzen bestehen demnach, sich äußernd, in der Rolle, welche sie dadurch spielen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie geben Stichworte, auf welche eine allgemein vorgeschriebene Antwort erfolgt. Ich nehme an, damit ist gemeint, dass sie z. B. dem Dentisten anzeigen, wo er den Bohrer anzusetzen hat, oder andere Arten der Sorge herausfordern.

Schmerz ist somit ein simples Muster zwischen dem, der ihn äußert, und jenen, die das verstehen|darauf antworten. Weitere innere Bewandtnisse, Wittgenstein erwähnt Trauer und Zuneigung, sind ebenfalls Muster, nur vielfältiger ineinander verflochten. Trauer kann z. B. gedankliche Verhältnisse färben, ebenso Furcht. Verglichen mit Schmerz ist Furcht keine Empfindung, sondern hängt mit Befürchtungen zusammen, und Befürchtungen sind Gedanken. (153)

Gedanken sind nach Wittgenstein nicht weniger öffentlich als Schmerzen oder Gemütsbewegungen, betreffen also einen allgemeinen oder intersubjektiven Verlauf.

480 Denk Dir, „Ich glaube …“ durch eine Malerei dargestellt. Wie könnte ich mir das vorstellen? Das Bild würde etwa mich zeigen und irgendein Bild in meinem Kopf. Es kommt nicht darauf an, welchen Symbolismus es verwendet. Das Bild dessen, was ich glaube, z.B., dass es regnet – wird darin vorkommen. Meine Seele wird vielleicht dieses Bild ergreifen, festhalten, und dergleichen. – Und nun nehmen wir an, dieses Bild würde als die Behauptung „Es regnet“ verwendet. Nun, darin ist noch nichts Seltsames. Soll ich sagen, es sei nun viel an dem Bild überflüssig? Das möchte ich nicht sagen.

Aus dem Inhalt meines Gemütes lässt sich nicht ableiten, ob er z. B. einhergeht mit einem Glauben oder eine Behauptung. Dergl. kann daher keine Frage innerer Bilder sein, da die in beiden Fällen dieselben wären.

1113 Das Wort „Organisation“ verträgt sich sehr gut mit dem Begriff ‘Zusammengehörigkeit’. Es scheint hier eine Reihe einfacher Modifikationen des Gesichtseindrucks zu geben, die alle eigentlich optisch sind. Man kann aber eben in verschiedenen Aspekten noch ganz andere Dinge tun, als Teile trennen und zusammennehmen, oder unterdrücken und hervorheben.

Wittgenstein gibt hier wohl zu bedenken, dass derselbe Gesichtseindruck verschieden anmutet, je nachdem, wie wir die Dinge darin zusammenstellen. Was ein völlig anderes Erleben und weiteres Verhalten zur Folge haben kann.

Wir erblicken erst immer nur das, was wir wiedererkennen. Jedem Denken kleben die Eierschalen seines Ursprungs an, heißt es später (in 1124). Man kennt es dir an, im Kampf womit du aufgewachsen bist. Welche Anschauungen die deinen gezeugt; von welchen du sich dann hast losmachen müssen.

Wenn wir eine Kopie oder Zeichnung dessen vor uns hätten, was ein Person sich vorstellt (ihr „durch den Kopf geht“), würde daraus noch nicht erhellen, was diese Person darin erblickt. Die Bewusstseinsinhalte ähneln insofern Kippbildern.

50. Wenn ich einen Satz immer in demselben Tonfall gehört hätte (und oft gehört hätte), wäre es richtig, zu sagen, ich müsse mir natürlich des Tonfalls bewusst gewesen sein? Wenn das eben dasselbe heißt wie, ich habe ihn in diesem Tonfall gehört und spreche ihn auch immer in diesem Tonfall nach, – dann bin ich mir des Tonfalls bewusst. Ich muss aber [nicht] wissen, dass es so etwas gibt, wie einen „Tonfall“, der Tonfall braucht mir nie aufgefallen zu sein, ich brauche nie auf ihn gelauscht zu haben.
Der Begriff Tonfall mag mir ganz unbekannt sein. Die ,Trennung’ des Tonfalls vom Satz braucht sich für mich nicht vollzogen zu haben.
Ich habe also kein Sprachspiel mit dem Wort „Tonfall“ gelernt.

Wir bemerken etwas, scheint mir Wittgenstein damit sagen zu wollen, wenn es sich verändert – auch dann nur, wenn diese Veränderung eine Rolle spielt, also eine Gewohnheit betrifft. Was gleich bleibt, ist nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung unseres Denkens, das darin besteht, darauf zurückzukommen. Wir können demzufolge nie spontan auf neue Gedanken kommen, sondern müssten dafür erst wagen, unsere Gewohnheiten zu verändern.

611. „Und ist es wirklich ein anderer Eindruck?“ Um es zu beantworten, möchte ich mich fragen, ob wirklich etwas anderes in mir existiert. Aber wie kann ich mich davon überzeugen? – Ich beschreibe, was ich sehe, anders.

In „beschreiben“ liegt „malen“.  Wenn ich mich z. B. an eine Szene „letzter November auf dem Hauptbahnhof von Bologna“ erinnere, könnte ich deren Inhalt in Worte fassen – oder auch (wenn ich mich nur besser aufs Zeichnen verstünde) ein Bild davon anfertigen. An eine weitere Szene erinnere ich mich, indem ich eine Darstellung davon zu liefern imstande bin, die sich von der vorigen unterscheidet. Das zweite Bild beschreibt den Bahnhof dann anders als das erste.

Aber ist das, was ich ausspreche oder zu Papier bringe, eine Kopie innerer Bilder, die zuvor in mir existieren? „Wie kann ich mich davon überzeugen?“ fragt Wittgenstein. – Indem ich’s (mein Inneres) darstelle. Und wenn ich dabei lüge? Bilder anfertige, die mir gar nicht vorschwebten?

Kann ich z. B. einen Traum erzählen, den ich gar nicht hatte? Ist es in solchen Fällen (der Äußerung geistiger Bewandtnisse) überhaupt möglich, die Darstellung von ihrem Inhalt zu trennen?

In Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen gibt es dazu folgende Gedankenkette:

295. Und was soll »Ich weiß nur vom e i g e n e n Fall ….« überhaupt für ein Satz sein? Ein Erfahrungssatz? Nein. – Ein grammatischer?
Ich denke mir also: Jeder sage von sich selbst, er wisse nur vom eigenen Schmerz, was Schmerz sei. – Nicht, dass die Menschen das wirklich sagen, oder auch nur bereit sind zu sagen. Aber wenn nun Jeder es sagte – es könnte eine Art Ausruf sein. Und wenn er auch als Mitteilung nichtssagend ist, so ist er doch ein Bild; und warum sollten wir uns so ein Bild nicht vor die Seele rufen wollen? Denke dir statt der Worte ein gemaltes allegorisches Bild.
Ja, wenn wir beim Philosophieren in uns schauen, bekommen wir oft gerade so ein Bild zu sehen. Förmlich, eine bildliche Darstellung unsrer Grammatik. Nicht Fakten; sondern gleichsam illustrierte Redewendungen.

296. »Ja, aber es ist doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, – und schrecklich.« – Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegenheit?

297. Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?

298. Daß wir so gerne sagen möchten »Das Wichtige ist das« – indem wir für uns selbst auf die Empfindung deuten, – zeigt schon, wie sehr wir geneigt sind, etwas zu sagen, was keine Mitteilung ist.

Der Inhalt einer Mitteilung ließe sich nämlich überprüfen; diejenigen, denen wir sie kommunizieren, könnten sich vergewissern, ob das, was wir unters Volk bringen, auch wirklich der Fall ist. Im Inneren eines Menschen kann aber niemand nachschauen. Strenggenommen auch nicht jener, um dessen Gemüt es sich handelt. Es hätte keinen Inhalt, wenn er ihn nicht beschreiben könnte. In der Beschreibung des Teekessels muss aber nichts kochen, damit er dampft.

Unserer inneren Beschaffenheit werden wir bewußt, indem wir sie publik –  zur Geste eines Alltag oder Narrativs – machen. Auch unsere privatesten Zustände werden bedeutend erst dadurch, dass sie eine (öffentliche) Rolle spielen (ideologisch werden). Darauf will Wittgenstein, denke ich, hinaus.

206. Ist der Bedeutungsblinde also der, der nicht sagt: „Der ganze Gedankengang stand mit einem Schlag vor mir?“ Ist damit aber gesagt, dass der nicht sagen kann „Jetzt hab’ ich’s!“ –

Wittgenstein geht es hier offenbar um „Bedeutungsblindheit“. Ich suche in der Umgebung von 206 und finde etwas früher (unter 198):  … wenn einer das wäre, was wir ‘bedeutungsblind’ nannten, so würden wir uns vorstellen, er müsse einen weniger lebendigen Eindruck machen als wir, mehr ,wie ein Automat’ handeln. – Mir fallen dazu Menschen ein, die, zum Tanzen aufgefordert, ungeschickt ,mitmachen’. Sie klatschen vielleicht, schnippen mit den Fingern; es wirkt aber nicht organisch.

Wittgenstein gebraucht anschließend (in 199) das Beispiele von jemand, der aus einem zugeworfenen Wort gleich irgend einen Satz mit diesem Wort bildet – im Vergleich zu jemand, der dazu nicht in der Lage ist (nur ,dumm’ dreinschaut). Weiter in 201 bemerkt er (wie immer nur in Stichworten), dass ich eine Bedeutung auch dann beherrsche, wenn ich irre. Wenn ich also etwa mitbekomme, jemand sei gestorben, und die Person mir, wie ich für einen Moment glaube, nahesteht, sich dann aber als eine andere herausstellt, verändert das nicht meine Klugheit, jedoch das Erlebnis derselben.

Bedeutungsblindheit, scheint mir Wittgenstein zu sagen, bezieht sich auf das Erlebnis, nicht auf Wesen oder Kern einer Bedeutung, zeigt sich in deren „seelenlosem“ Verständnis. Künstliche Intelligenzen oder Androiden wären dann z. B. bedeutungsblind: weil sie sehr wohl einen ganzen Algorithmus (Gedankengang) nachvollziehen können, nicht aber das innige Moment von „Jetzt hab’ ich’s!“

In Wittgensteins Hinweisen liegt, dass wir „künstliche Intelligenz“ mit „Klugheit“ übersetzen können. Sie ist weder mehr noch weniger, sondern schlechthin – Klugheit. Nicht-künstliche oder natürliche oder einfach nur Intelligenz wäre demnach umfangreicher als künstliche Intelligenz, nämlich Klugheit+Bedeutungserlebnis.

Es ist mit anderen Worten möglich, völligen Durchblick zu haben, trotzdem aber blind für dessen Bedeutung zu sein.

525. “Ich habe es nie so gesehen, sondern immer so.” Nur ist das allein noch kein Satz. Das Feld fehlt im noch.

Wie uns eine Sache vorkommt, hängt ab von ihrer Umgebung. Eigentlich ist Wittgensteins Philosophie der Psychologie zusammengefasst in dieser Bemerkung. Er veranschaulicht es häufig mit dem Kippbild, das mehrere „Aspekte“ aufweist – alte Frau|junge Frau – Hase|Ente … – , die hervortreten, je nachdem, was sich „weiter rechts oder links“ davon befindet.

Die Inhalte unseres Gemütes gleichen solchen Kippbildern, können also nicht isoliert vom Rest konsultiert werden, um zu offenbaren, was es mit ihnen auf sich hat. Wir verstehen, was wir in oder außer uns wahrnehmen, nur, insofern es umgeben ist von weiteren Dingen und Verläufen, die in geregelten Bahnen verlaufen. Unsere Mentalität ist eine Frucht unserer Kultur.

Als einer seiner Studenten einmal sagte, er hätte keine Lust, in die Steinzeit zurückzukehren, zeigte Wittgenstein Verständnis, fügte aber hinzu, dass es dem Steinzeitmenschen ähnlich miserabel gehen dürfte, wenn er in unsere Mitte katapultiert würde. Die Trümmer seines Gemütes fänden keinen Anschluss – an die ungewohnte Umgebung.