Hat Tolkien uns die Suppe eingebrockt?

Mittelerde, Tolkiens erfundene Welt, ist in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer so überwältigenden Präsenz in der westlichen Welt geworden, dass man die modernere Geschichte wahrscheinlich nicht verstehen kann, wenn man ihren Einfluss ignoriert. Nicht nur sind die meisten unserer linken und rechten Gegenkulturen gleichermaßen von den Spuren Mittelerdes durchzogen, sondern auch der schrille moralische Dualismus, der schlimmste Makel von Tolkiens Werk, durchdringt unseren heutigen politischen und kulturellen Diskurs in peinlichem Ausmaß.

Parallel zu Tolkien arbeitete übrigens ein anderer Schriftsteller an einer ebenso imaginären und weitaus subtileren Schöpfung derselben Art: Hermann Hesse an seinem Glasperlenspiel. Hesse war in der Gegenkultur der späten sechziger Jahre ebenso populär wie Tolkien, zumindest in den USA – Taschenbuchausgaben von Hesse-Romanen waren dort ebenso so häufig wie die seltsamen Cover von Tolkiens Trilogie. Aber Hesse ist zusammen mit langen Haaren und Liebesperlen aus der Mode gekommen. Die Vision des Glasperlenspiels, in dem sich die Gelehrten zurückziehen und in einem raffinierten Spiel eine Synthese der gesamten menschlichen Kultur anstreben, ist in unserer Welt noch nicht sehr weit gediehen, aber Hesse hat seine Geschichte im fünfundzwanzigsten Jahrhundert angesiedelt, lange nach der Ära der konvulsivischen Kriege und der Korruption der intellektuellen Kultur, die er in seiner eigenen Zeit heraufziehen sah. Vielleicht hatte Hesse ein längeres Spiel im Sinn, und die Zeit seiner Vision ist noch nicht gekommen.

Tolkien wandte sich an dasselbe Publikum wie Hesse, aber sein Werk erlitt ein anderes Schicksal. Der strenge und ernste Konservatismus, der die Trilogie durchzieht – Tolkien stand politisch am äußersten rechten Rand, was die meisten seiner Fans mühsam zu verbergen versuchen -, wurde zunächst ignoriert und dann durch schlechte Filme und eine ganze Industrie von schäbigen Tolkien-Klonen, die alle seine Bilder plagiierten und alle Ideen, die ihnen Bedeutung verliehen, umgingen, ausgelöscht.

Tolkiens Antwort auf die Probleme der Welt besteht darin, das Böse als etwas außerhalb des Selbst zu sehen, als einen riesigen, alles durchdringenden Feind, dessen einziger Zweck darin besteht, sich allem zu widersetzen, was die Protagonisten für gut, richtig und wahr halten. Hesses Antwort besteht in der Erkenntnis, dass der Schatten, den wir hassen und fürchten, immer von den Eigenschaften in uns selbst gebildet wird, die wir nicht ertragen und nicht wahrhaben wollen. Dementsprechend versuchte er in seinem berühmten Meinungsartikel in der NZZ („Oh Freunde, nicht diese Töne“ 1914), andere deutsche Schriftsteller davon zu überzeugen, sich nicht der Dämonisierung Frankreichs und Englands anzuschließen, die in Deutschland herrschte (und die sich in der Dämonisierung Deutschlands spiegelte, die zur gleichen Zeit in Frankreich und England herrschte). Hesse war bereit, sein Land im Krieg zu unterstützen und tat dies auch. Er argumentierte nur, dass es keinen Sinn ergebe, blinde Wut auf den Feind zu schüren. Er plädierte für eine ruhige, besonnene und effektive Außenpolitik im Krieg wie im Frieden.

Lange Zeit galten die Romane von Hermann Hesse neben Tolkiens Herr der Ringe als Inbegriff einer jungen Generation. Doch während Hesse schnell außer Mode kam, blieb Tolkien – oder zumindest seine Parodien – populär. Das mag an beider unterschiedlichen Behandlung von Konflikten liegen. Wenn bei Hesse zwei moralisch gegensätzliche Charaktere aufeinandertreffen, streiten sie so lange, bis etwas Neues entsteht. Bei Tolkien hingegen muss in einem solchen moralischen Konflikt eine der Figuren vergehen. Es scheint, dass diese Darstellung in unserer heutigen Gesellschaft mehr Anklang findet.

Warhammer war z. B. ein von Tolkien beeinflusstes Fantasy-Wargame mit Armeen von Elfen, Orks, Menschen und so weiter. Dann kam irgendein kluger Kopf auf die Idee, das Ganze in den Weltraum einer fernen Zukunft zu verpflanzen, aus den Orcs wurden Orks, aus den Elfen, Tolkiens Eldar, wurden Aeldari, aus den Rissen in der Raumzeit kamen Eldritzen und Chaosgötter, und das Ganze bekam einen düsteren Glanz, dem viele junge Männer heute nicht widerstehen können. Jetzt sind die Guten mutierte Space Marines und Legionäre in Powerrüstungen, die unter dem doppelköpfigen Adlerbanner des Imperiums der Menschen dienen, einer galaktischen religiösen Tyrannei mit einer Hierarchie nach dem Vorbild des mittelalterlichen Katholizismus und einer Theologie, die dem kaiserlichen japanischen Shintoismus entlehnt ist. Der Grund, warum sie die Guten sind, liegt darin, dass die andere Seite viel, viel schlimmer ist.

Während der Präsidentschaft Trumps nannten ihn viele seiner jungen männlichen Anhänger nicht POTUS (President of the United States), sondern GEOTUS (God-Emperor of the United States), in Anlehnung an Warhammers Gott-Imperator, der das Reich der Menschen regiert. Übrigens gibt es derzeit auf beiden Seiten des aktuellen Krieges in der Ukraine Einheiten, die Namen und Wappen aus dem Warhammer-Kosmos übernommen haben. Das ist nicht verwunderlich, denn die Welt der Weltraumkriegs-Science-Fiction bieten jungen Männern einen imaginären Kosmos, in dem sie ihre genetisch verankerte Abenteuer- und Leistungssucht bis ins kleinste Detail ausleben können, ohne sich ein Leben lang für die Sünde entschuldigen zu müssen, Testosteron im Blut zu haben. In der heutigen Kriegsführung wird diese Möglichkeit bis in die reale Welt hinein genutzt.

Ein solches Klima begünstigt den Aufstieg seriöser (meist junger) politischer Führer, die den degenerierten und ineffizienten Status quo ablehnen, Bewegungen organisieren, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der aktuellen politischen Arrangements handlungsfähig sind, den verlassenen Mittelweg zwischen den streitenden Parteien besetzen und die dysfunktionalen Mechanismen einer gescheiterten Demokratie beiseiteschieben, um die Probleme zu lösen, die das aktuelle System nicht einmal zu lösen versucht.

Die Frage ist, was danach kommt, denn der charismatische populistische Autoritarismus ist immer ein Übergangsphänomen, das schließlich einer neuen Ära der Institutionalisierung und der Rückkehr zu einer Form von Rechtsstaatlichkeit weicht. Die Visionen, die diese neue Ära prägen werden, gibt es vielleicht noch nicht, und darin läg‘ nun die Chance, neue Narrative zu schaffen, die sich in den kommenden Jahren in der kollektiven Vorstellungskraft entzünden könnten.

Sie sollten stärker von Kräften geprägt sein, mit denen sich die meisten Fraktionen in den aktuellen politischen Debatten noch gar nicht auseinandergesetzt haben: die fortschreitende Erschöpfung nicht erneuerbarer Ressourcen, die Neugewichtung globaler politischer und wirtschaftlicher Macht weg von Europa und der europäischen Diaspora hin zu Süd- und Ostasien, die Nachwirkungen des gegenwärtigen Weltbevölkerungshöchststandes, die Folgen eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs und vieles mehr.