Der Geschlechtstrieb ist unbestimmt

DIE PRÄCHTIGEN FARBEN DER SCHMETTERLINGE sitzen auf kleinen Schuppen, die nicht das Geringste zum Leben beitragen. Die Farben der Vögel bilden sich in Federn, welche leblos sind. Wie die Blüte der Kunst, der Bildhauerei oder Malerei sich gerade an den Teilen z. B. der griechischen Tempel oder Kathedralen entfaltet, die keinem praktischen Zweck dienen, den Friesen. Der Wind schüttelt dichte Pollen-Wolken von den Koniferen, um ein paar wenigen Körnern die Möglichkeit zu bieten, zufällig eine Eizelle zu befruchten. Der Geschlechtstrieb ist mit anderen Worten unbestimmt, die Natur ersetzt die Genauigkeit ihrer Schüsse durch Menge. Es liegt keine Absicht in der Wollust. Sie begleitet den Zeugungsakt, ist sich dabei aber selbst genug. Man muss nicht zeugen, um Lust zu empfinden. Hingegen reicht mitunter ein bestimmter Anblick, ein Geruch, um erregt zu werden. Ein Mann, der vor kurzem mit einer Frau schlief, kann durch ihren Geruch, den er noch ausströmt, einen anderen Mann in Stimmung bringen.
Auch die Frauen sind nicht körperlich auf Männer angewiesen, um Lust zu empfinden. Dass es zu einer Zeugung kommt, ist eher ein Begleitumstand. Der weibliche Geschlechtstrieb ist ebenso unbestimmt wie der männliche. Sollte eine Frau, einem verborgenen Bedürfnis ihrer Organe gehorchend, nach Befruchtung verlangen, so ist ihr doch nur ungefähr nach Wollust, nicht unbedingt nach dem Manne. Wie eben der Mann nicht geradezu eine Frau, noch weniger die „Zeugung“ begehrt, sondern alleine Wollust.
Männer wie Frauen suchen in erster Linie Genuss. Wobei es sein mag, dass beider Organe nur im Koitus völlig zur Auswirkung kommen können – was sie aber nicht von Haus aus oder nur dunkel zu wissen scheinen. Damit es zur Befruchtung kommen kann, müssen zwei eher unbestimmte Begierden zusammenkommen.
Der Sieg über das Unorganische, den Tod, ist eine Folge der Verschwendung in der Natur. Der Triumph des Organischen verdankt sich einem unerhörten Aufwand, der jede Menge Ausschuss produziert, aus welchem sich Kunst, Geist und freies Spiel entwickeln. Wie das Weibchen im Tierreich sich hingibt an die Gattung so das Männchen an seine Kunst, an seinen Sport, an seinen Gesang. Erst wo das Verlangen bestimmtere Formen annimmt, wird die Überzahl der Männchen unnötig, damit auch die Prächtigkeit ihres Äußeren, welche irgendwann sogar von jener der Weibchen übertroffen wird (etwa im Fall der Gottesanbeterinnen).