Familie & der Rest der Welt – wie Christentum die Moderne informiert

Unmittelbar nach der Rückeroberung Afghanistans durch die Truppen der Nordallianz war ich ein paar Wochen aktiv in dem Land für das Goethe-Institut, das als kultureller Arm des deutschen Engagements westliche Werte verbreiten wollte. Auch alle anderen Nationen hatten solche Kulturbüros, die vor allem Theaterprojekte förderten. Die Kulturbotschafter stellten auch hauptsächlich das Publikum der unterschiedlichen Premieren. Denn die Afghanen gingen nicht ins Theater. Ihr bevorzugtes Unterhaltungsmedium war Homevideo. Indische Filme. Selbst der oberste Taliban-Mullah in Kandahar konnte bei sich zu Hause nicht durchsetzten, dass keine indischen Schmonzetten geguckt wurden. Die westlichen Kulturbotschafter blieben mit ihren aufklärerischen Theater-Projekten unter sich.
 
Der Grund lag darin, wie ich bald sehen konnte, dass es in Afghanistan kein öffentliches Leben gab. Nicht als Folge des Krieges oder des Islams, sondern weil es sich um eine Stammesgesellschaft handelte, die den Islam bestenfalls zur Rechtfertigung ihrer Bäuche angenommen hatte. Diese erschöpften sich in hochverwickelten Familienbeziehungen, deren Forum in den Städten dann z. B. die zur Straße hin versiegelten Häuser waren. Das Theater als Ort des öffentlichen Auftretens, Sich-zeigens und Gesehen-werdens war dieser Lebensform fremd und auch, denke ich inzwischen, überflüssig, da die entscheidenden Beziehungen woanders gepflegt oder gestiftet wurden.
 
Wie unterschiedlich demzufolge die Loyalitäten sind, konnte man neulich in Berlin besichtigen, als über tausend Polizisten drei Clan-Mitglieder festnahmen. Die Ordnungen, welche sich in dem Moment gegenüberstanden, sind unvergleichlich.
 
Unsere westliche oder moderne, durchaus mit globalem Anspruch, wurde angebahnt vom Christentum und kommt in folgenden Stellen des Neuen Testaments zum Ausdruck:
 
Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte seine Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. MATTH. 12
 
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau ansieht, sie zu begehren, schon Ehebruch mit ihr begangen hat in seinem Herzen. MATTH. 5
 
Deshalb sage ich: Alle Sünden können den Menschen vergeben werden, selbst die Gotteslästerungen, die sie aussprechen. Wer aber den Heiligen Geist lästert, wird keine Vergebung finden. Wer etwas gegen den Menschensohn sagt, dem kann vergeben werden. Wer aber gegen den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der kommenden. MATTH. 12
 
Es geht mit anderen Worten um eine egalitäres, auf Gesinnung und nicht biologische Bande gebautes Gemeinwesen (das NT nennt’s „Heiliger Geist“), das dann angewiesen ist auf öffentliches Auftreten und Sich-Behaupten seiner Mitglieder, Kritik, Kreuzgutachten usf. Die Stellung seiner Spieler ist wie im Fußball, seinem zentralen Ausdruck, beweglich und verantwortlich für eine höhere Nervosität.
 
Dem gegenüber steht der Stammesverband, die bestimmten familiären Beziehungen und Abhängigkeiten, die Abkapselung (Reinhaltung d. Familienkörpers | „Ehre“) und, als deren Kehrseite, überwältigende Gastfreundschaft.
 
Sind die Modelle verträglich oder machen sie einander strittig? Zur Antwort könnte man nach China schauen oder zeigen, wo die Kommunistische Partei (im Gegensatz etwa zu jener Nordkoreas) systematisch und genau besehen auch sehr blutig (Kulturrevolution, „Sprung nach vorne“ mit Millionen Toten) alle Clan- und Familienstrukturen zerschlagen hat (aktiv im Moment etwa noch in Xinjiang), um dem „Heiligen Geist“ auf die Sprünge zu helfen. Ist dieser also auf Gewalt angewiesen, um sich zu etablieren?
 
Die Missionare, welche die europäischen Stammesgesellschaften zersetzten (grandios beschrieben in Bengtssons Wikinger-Roman „Röde Orm“) hatten IMHO mehr auf Überredung – und ästhetische Überwältigung – gesetzt. Also doch: „Theaterpojekte“? In Afghanistan wäre man weiter mit Videofilmen gekommen, aber von deren Produktion sah die EU damals ab: weil die für den Vertrieb nötigen Raubkopien ein schlechtes Beispiel gesetzt hätten. Stattdessen spielte man lieber weiter Theater vor sich selbst.