Deleuze & Wittgenstein

Der schwere Angriff Deleuzes auf Wittgenstein (im Abécédaire) könnte meiner Meinung nach auf ein Missverständnis zurückgehen, besonders der Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus), die als argumentum ad absurdum gelesen werden muss, um ihre eigentliche Wirkung zu entfalten. Wittgenstein entwickelt im Tractatus das Schema nicht nur eines naturwissenschaftlichen, sondern auch jedes vorstellbaren metaphysischen Systems – als Parodie. Man kann und soll sich vollkommen darin versteigen, um zu den entscheidenden Pointen (in den Sätzen 6 und 7) zu kommen: dass durch Spekulation oder Technik nichts erreicht werden kann, das uns zufriedenstellt. Die Auseinandersetzung mit dem Tractatus ist eine Kur. Man erarbeitet sich erst alle Möglichkeiten des normativen Denkens, um somit zu sehen, wo sie versagen müssen. Der Umweg kann aber nicht erspart werden. Der Tractatus gleicht einem Sandmandala, das unendlich fein ausgearbeitet wird mit dem Ziel seiner Zerstörung. Deleuze denkt, es sei die Aufgabe der Philosophie, neue Begriffe zu schaffen – was Wittgenstein ablehnen würde. Trotzdem sind beide auf neue Begriffe aus. Denn was ist ein Begriff? Eine Weise, die Welt aufzufassen, von ihr bestimmt und entwickelt zu werden, laut Wittgenstein ein „Sprachspiel“ (in einer Lebensform), von Deleuze vorgestellt als „Maschine“. Deleuze liegt dabei am Vitalen, sich ständig Entwickelnden der ineinandergreifenden „Maschinen“. Er unterstellt dabei ein untergründiges Fliessen, dem die Philosophen Bahn brechen sollen – durch die ständige Schöpfung neuer Begriffe. Wittgenstein denkt, dass die Philosophie keine neuen Begriffe schaffen, sondern nur auseinandersetzen oder beschreiben kann. Deswegen lehnt er nicht etwa die Schaffung oder Entstehung neuer Begriffe ab, sondern hält dafür, dass sie außerhalb der Akademie stattfinden muss. Wenn der Berufsphilosoph Begriffe schafft, wird er zum Mathematiker und erzeugt „Scheingesimse“, die nichts tragen (wie den Tractatus). Wittgenstein war daher auch ständig bestrebt, die Akademie zu verlassen, verschenkte sein Vermögen und beschloss sein Leben als Landstreicher. Deleuze ist immer besoldeter Professor geblieben und hat als solcher imgrunde die Akademie als Quelle des Neuen verteidigt. Trotzdem haben die beiden mehr Gemeinsames als Trennendes, etwa auch die unbedingte Diesseitigkeit (wobei für Wittgenstein Deleuzes Immanenzebene wahrscheinlich in bereits unter Metaphysikverdacht stände). Man kann Wittgenstein und Deleuze ev. vergleichen, indem man sich das Sein als ein Theaterstück vorstellt. Beide weisen darauf hin, dass es sich Rollen verdankt (von Partnern in Sprachspielen oder interagierenden „Maschinen“). Wittgenstein kommt es IMHO darauf an, dass wir nicht, weil „alles nur Theater ist“, eine schlechte Vorstellung abliefern – Deleuze schlägt vor, möglichst viele Rollen zu spielen, um das meiste aus der Situation zu machen, Rollen zu entwickeln, von denen man keine Ahnung hatte. Wobei Wittgenstein Ingenieur, Architekt, Philosophieprofessor, Gärtner, Grundschullehrer, Landstreicher, Krankenhauspförtner gewesen ist und auswandern wollte nach Russland, um beim Neubau der Menschheit mitzuwirken, also den Plan Deleuzes viel eher umgesetzt haben dürfte als dieser selbst.