9-Das Ganze (im Gegesatz zum Besonderen)

Das Ganze besteht nach Hegel nicht in  festem Gehalt, sondern aus Widerspruch, ist innig zerworfen. Hegel schlägt die Vorstellung einer Ur-Geltung aus und beweist, dass so gar nicht planvoll gedacht werden kann. Absolutes Wissen besteht in dem Nachvollzug, dass Sein in sich zerworfen ist.  Wodurch jede Form der Identität infrage steht, die sich nicht widerspricht. Vollständige Freiheit entspringt nur dem allgemeinen Denken.

Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein, heißt es in der PHÄNOMENOLOGIE, und dass ein sogenannter Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn es wahr ist, schon darum auch falsch ist, weil er Grundsatz oder Prinzip ist.

Nur die Vorstellung eines umfassenden Systems ohne Anfangsgrund ermöglicht es Hegel, die Unausweichlichkeit des Widerspruchs herauszustellen. Dessen Unumgänglichkeit rückt erst in Front durch das Absolute.

Wenn man vor dem Absoluten zurückschreckt, nicht systematisch denkt, erscheinen die Widersprüchlichkeiten zufällig und somit vermeidlich. Sie verdanken sich dann aber etwas, das bloß ins Unbewusste verschoben wurde.

Allein aus Sicht des Besonderen verleiten Widersprüche, ein System umzudenken. Es wirkt dann so, als könnten Einzelheiten bestehen, ohne sich aufeinander auszuwirken oder in Konflikt zu geraten. Diese Sicht ist für Hegel irreführend.

Vielmehr hat ein Subjekt das absolute Wissen nicht erreicht, sobald ihm alle Einzelheiten bekannt sind, sondern in dem Moment, in dem die letzte Möglichkeit, Widerspruch zu vermeiden, zu Wasser wird. Absolutes Wissen bestätigt die Notwendigkeit des Scheiterns, das eintritt, wenn ein Subjekt auf die Unausweichlichkeit des Widerspruchs stößt.

Dieser Nachvollzug bedeutet nicht das Ende des Konflikts, sondern schreibt dessen Notwendigkeit in das System. Die Aufhebung früherer Positionen bestand in ihrem Scheitern. Wenn wir das Absolute erreichen, hatten wir alles versucht, um den Widerspruch zu beseitigen. Nun steht er uns gegenüber in seiner störrischsten Form – als Zerworfenheit des Seins schlechthin.

Wenn das absolute Wissen erreicht wird, kennt es „nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst, oder seine Grenze“ – welch Schranke keine äußere, keine Ding an sich ist, sondern ein innerer Widerspruch, die sich durchstreichende Subjektivität. Seine Grenze wissen heißt sich aufzuopfern wissen. PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES

Sich selbst als widersprüchliche Einheit zu erkennen, deren Unvereinbarkeit sich auch nicht beheben lässt, zwingen einen, den Traum der Substantialität aufzugeben – der eigenen wie der des Gegenübers. Aufgeopfert wird diese Sicherheit.

(Die Substantialität wird erkannt als Maßstab oder Regel, welche alles zerfallen lässt in das, was ihr entspricht oder ähnelt, sowie das, was nicht mit ihr übereinstimmt. Das Subjekt kann irgendeine Regel annehmen oder schöpfen, damit die Welt zerfallen lassen. Wendet es die Regel auf sich selber an, streicht es damit immer auch etwas durch. Darin, der Beherrschung des Widerspruchs, besteht die Freiheit.)

Solange man dem Absoluten aus dem Weg geht und der Allgemeingültigkeit, die aus ihm folgt, hütet man sich vor den negativen Folgen. Das Absolute versperrt einem diesen Fluchtweg. Es besteht nicht in der Meisterung der Mitwelt, sondern in deren Aufgabe.

Dies ist der einzige Weg zur Freiheit, aber er setzt einen der Selbstzerstörung des Widerspruches aus. Man muss in sich etwas durchstreichen, um ganz zu werden.

Man kann auf Unterschiede pochen, jedoch nur, indem man – dafür – das Allgemeine, den Maßstab, hinzuzieht. Ohne das Allgemeine oder den Begriff würde überhaupt nicht gehandelt:

Sie geben ihr Tun und Treiben für etwas aus, das nur für sie selbst ist, worin sie nur sich und ihr eignes Wesen bezweckten. Allein indem sie etwas tun, und hiemit sich darstellen und dem Tage zeigen, widersprechen sie unmittelbar durch die Tat ihrem Vorgeben, den Tag selbst, das allgemeine Bewußtsein und die Teilnahme aller ausschließen zu wollen; die Verwirklichung ist vielmehr eine Ausstellung des Seinigen in das allgemeine Element, wodurch es zur Sache aller wird und werden soll. PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES 309

Jedes Tun ist gerichtet, damit möglicherweise gescheitert, somit öffentlich.

Nur das Vollständige kann auch die Notwendigkeit des Widerspruches oder Fehlgangs aufweisen. Regionale Wahrheit und Besonderheiten erlauben es dem Allgemeinen, unerkannt zu walten. Sie verschleiern auch die Unbedingtheit des Widerspruchs. Nur absehend vom Allgemeinen, können wir träumen, es gäbe Widerspruchsfreiheit. Diese Vorstellung zersetzt das Denken. Vernunft besteht in unserer Fähigkeit, den Widerspruch zu handhaben, nicht von ihm zerstört zu werden. Wer nicht allgemein genug denkt, verspielt die Möglichkeiten der Vernunft und liefert einen dem unvermittelten Widerspruch aus, der sich hinter seiner Verteilung in Raum und Zeit lauert.

Denn wir kommen nicht auf das Widersprüchliche, sondern können ihm nicht aus dem Weg gehen. Es durchstreicht entweder ungefragt unser Tun und Wollen, oder wir setzen es selber ein, diesem oder jenem widersprechend, das uns ausmacht. So nehmen wir es herein und sind ihm nicht weiter ausgeliefert.

Das Absolute|Widersprüchliche steht nicht nur am Ende, sondern auch am Anfang der Entfaltung des Geistes. Das Subjekt fängt nicht an mit sinnlicher Gewissheit, Wahrnehmung, Verstehen, die zusehends vermittelt werden zum absoluten Verstehen. Im Gegenteil setzt die Subjektivität ein mit dem Denken|Absoluten und setzt das darin Eingeschlossene – Widersprüchliche – immer mehr auseinander: Man kann daher wohl sagen, daß mit dem Absoluten aller Anfang gemacht werden müsse, so wie aller Fortgang nur die Darstellung desselben ist, insofern das Ansichseiende der Begriff ist. WISSENSCHAFT DER LOGIK II 555

Selbst das unmittelbare Auffassen liegt bereits im Begriff. Die PHÄNOMENOLOGIE liefert daher keine Chronik des sich entwickelnden Geistes, sondern seine Mythologie oder die Bedingungen, nach denen die Vernunft zu sich kommt.