Als Einrichtung, die Grenzen setzt, stellt der Staat die ultimative Freiheit sicher, findet Hegel. Man muss sehen, wie er zu diesem Schluss kommt, um nicht anders zu können, als ihm recht zu geben.
Das stärkste Missverständnis, was sich der richtigen Erkenntnis sofort in den Weg schiebt, kommt vom Bild des „totalitären Staates“, der seine Kinder frisst, etwa in Nazi-Deutschland, Sowjetrussland, Mao-China oder auf den Killing Fields Kambodschas. Aber in all diesen Fällen hatte nicht der Staat, sondern die Partei, die nationalsozialistische oder kommunistische oder „Anka“ (in Kambodscha), den Ton angegeben. Hegel unterscheidet deutlich und nachdrücklich die bürgerliche oder Interessengemeinschaft vom Staat. Sobald Interessengemeinschaften den Staat untergraben, haben dessen Mitglieder verloren.
Wie kann der Staat die überragende Rolle erreichen in Hegels Denken?
Hat damit zu tun, dass für Hegel das kostbarste aller Güter die Freiheit ist. Hegel unterscheidet sich hier deutlich von seinem Gefolgsmann Marx, der – alles in allem – Gerechtigkeit für das wichtigste hält. Hegel findet Freiheit großartiger, weil sie auch noch in ungerechten Lagen ihr Haupt heben kann. Selbst wenn jemand ungerechterweise zu Tode verurteilt worden ist, kann er immer noch seine Henkersmahlzeit verweigern – oder die Augenbinde vor dem Erschießungskommando.
Hegels philosophischer Vormarsch verfolgt die Entwicklung der Freiheit vom Selbstbewusstsein bis zur Vernunft, die schließlich im Staat gipfelt, dessen Mitglied man ist.
Das Selbstbewusstsein setzt für Hegel ein mit der, würde der Psychoanalytiker sagen, „Kastration“ oder Versklavung – indem man erst mal auf die Fresse fliegt. Die Demütigung ist unbedingte Voraussetzungen zur Erlangung von Freiheit. Denn erst indem der Stolz, der einen bis dahin einnahm, zu Wasser ward, merkt man, dass sich nichts verändert hat, im Gegenteil die Umgebung wie man selbst zuvor an Überschätzung leidet und kaum in der Lage ist, sich dem Willen, der sie formt, zu widersetzen. Hegel hält bereits für freier als den Herren den Sklaven oder Knecht, weil dieser mehr Weisen verfügt und Mittel entwickelt, die Welt nach seinem Willen zu formen.
Es sei erinnert, wie die junge Marie Antoinette auf der geheimen Spielwiese Trianon versuchte, sich bis in die praktischen Tätigkeiten einer Bäuerin zu erniedrigen, um eine Freiheit zu spüren, die ihr als Königin von Frankreich versagt war. – Hegel sieht ausdrücklich auch in der Liebe, einem Leitfaden seines Philosophierens, einen Weg zur Freiheit, da sie den Stolz zerstört.
Die Zerstörung des Stolzes schafft nach Hegel Selbstbewusstsein, indem man sich als der Welt entgegen oder übrig, erstmals als „Selbst“ erlebt, das nun immer noch handeln und die Verhältnisse seinem Willen gemäß – etwa als Landwirt oder heute Ingenieur – formen kann.
Man ist so bereits freier als der Herr, bleibt diesem aber Untertan. Hegel scheint zu sagen: man überschätzt ihn noch. Denn in Wirklichkeit ist der Herr einem gleich, nur noch stolz, man ist noch nicht so weit, das zuzugeben. Der Grund ist interessant, welchen Hegel dafür unterstellt, dass man den Herren leidet. Denn dieser lebt – wie heute eine Celebrity – den letzten Stolz-Rest für einen gewissermaßen mit, und man richtet sich innerlich an ihm auf in einer Weise, welche die Herausforderung des Freiseins mäßigt.
Das Selbst entwickelt sich und bleibt dann meisten stehen beim vom Hegel sog. unglücklichen oder, wie man heute sagen könnte, „Facebook“-Bewusstsein. Man denke hierzu an die endlosen Tiraden, welche die meisten Facebook-Einträge, wenn sie nicht irgendetwas anhimmeln, darstellen. Das unglückliche Bewusstsein ist das des Rebellen: sich auflehnend gegen alles und jeden, aber gefesselt von dem Wahn, es gäbe Verantwortliche („alte weiße Weihnachtsmänner“) für die Widersprüchlichkeiten des Seins.
Überwunden wird das unglückliche Bewusstsein zur nächsten Stufe des Freiseins – nach Hegel – durch Umarmung der Vernunft, welche im Gegensatz zum praktischen Verstand in der Lage ist, den Widerspruch am Grunde des Seins zu denken. Man kann sich das vorstellen wie ein „Zauberer von Oz“-Moment. Indem der zur Vernunft aufgestiegene Mensch das Maß einer gewissen Absurdität gewahrt, die alles, alles möglich scheinen lässt, besteht der ultimative Schritt, der restlos frei macht, nun in der Teilhabe am Staat.
Diesen muss man sich, wie Hegel ihn meint, vorstellen nicht wie eine Interessenvertretung oder Räuberbande, sondern eine Fußballmannschaft, in der man ein Position inne hat, oder ein Theaterstück, in dem man mitspielt, ein Chor, in dem man singt. Der Staat verfolgt gegenüber seinen Bürgern keinen weiteren Zweck, außer dass er eine Regel liefert, an die sich alle zu halten haben. In deren Einhaltung erfüllt sich die Freiheit.
Hegel weist mit seiner Vorstellung vom Staat als Gipfel der Freiheit darauf hin, dass ein Spieler von der Fußballregel gegen das Handspiel in erster Linie nicht eingeengt, sondern frei wird durch ihre Befolgung. Ein Verbrecher kann niemals frei sein, es sei den er folgt irgendeinem Verbrecher-Code.
(Man kann, was Hegel unter Staat versteht und hervorhebt auch veranschaulichen am Begriff der Ehre. Wir können uns Ehre nicht erwerben, sie nur verlieren. Sie wird uns zuteil kraft einer Verfassung als Funktion ihrer Regeln.)
Wieso die Staatsbürgerschaft einen nach Hegel am freiesten macht, verdient näherer Betrachtung.
Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewußtsein realisiert, während er sich in der Natur nur als das Andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht, heißt es in den GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS.
Um Hegel folgen zu können, muss man zugeben, dass alles Sein letzten Endes auf Widerspruch beruht. Es gibt keine substantielle Wahrheit, die verdunkelt ist und entdeckt werden kann oder muss, sondern, was in die Welt tritt, tut dies, indem es sich gegeneinander profiliert. Wer dies für falsch hält, kann auch mit Hegels Freiheitsbegriff nichts anfangen, welcher der Umarmung des Widerspruchs entspringt.
Die Freiheit gipfelt für Hegel dann im Staat deswegen, weil auf diese Weise maximal der Widersprüchlichkeit genügt wird. Der einzelne wird restlos frei erst, indem er sich den Gesetzen unterwirft, ist es also nicht bereits vorher.
Wenn der einzelne sich ohne den Staat bestimmen möchte, wird er zu einem Interessenten: jemand, der die Welt unter dem Gesichtspunkt möglicher Befriedigungen auffasst. Die Bedürfnisse aber, die ihn dann regieren, entspringen nicht seinem Willen, stehen also seiner Freiheit im Wege. Freiheit entsteht erst durch die Entfremdung von dem, was einen bestimmt, indem man in der Lage ist, etwas zu unterlassen, wozu es einen drängt. Das freie Subjekt entfremdet sich von seinen Voraussetzungen, und der Staat ist das Mittel, ihm diese Entfremdung vorzustellen, weswegen Hegel ihn streng von der Partei oder Interessengemeinschaft unterscheidet, welche keine Mittel zur Entfremdung, sondern der Erfüllung unstillbarer Bedürfnisse sind.
Der Staat entfremdet nicht nur den einzelnen von seinen Bedürfnissen, sondern alle seine Bürger, die in ihm nicht verbunden sind als organische Ganzheit oder Maschinerie, sondern anonyme Formation. Sie greifen ineinander durch etwas, das sie kaltlässt.
Der Staat hängt – nach dem Gesetz des Widerspruchs – innigst zusammen mit seinem Gegenteil, dem Privatleben, in dem er nichts verloren und zu melden hat infolgedessen.
Um Freiheit zu garantieren, muss aber auch der Staat wiederum widersprüchlich sein, also über Merkmale verfügen, die ihn durchstreichen. Für Hegel ist dies die Funktion der Monarchie, da der Monarch sich nicht den Gesetzen des Staates unterwirft, sondern diese mit seinem Wollen durchkreuzt.
Der Gedanke wirkt heute beinahe absurd. Man könnte sich trotzdem fragen, was die Gefahr eines absoluten Staates eher hintertreibt: die Figur eines Monarchen oder die des Rebellen?
Rebellen, die es an die Macht schafften, kosteten bisher jedenfalls mehr Menschen das Leben als die fixen Ideen von Monarchen. Man vergleiche etwa Lenin/Stalin, Mao, Hitler, Pol Pot oder Robert Mugabe mit irgendeinem österreichischen Kaiser.
Man wird die Monarchie nicht wieder einführen können. Denkbar wäre aber, eine Artikulation des Widerspruchs in den modernen Staatsapparat einzubauen nach dem Vorbild des Monarchen. Meine Lieblingsoption: dem Zufall eine größere Rolle einräumen. Über einen bestimmten Teil der Gesetzesvorhaben zum Beispiel, sagen wir mal 5%, wird nicht per Abstimmung, sondern durch Los entschieden. So kann es nie zu einer totalitären Vollendung kommen, dank Herrschaft der Vernunft und ihrer Umarmung des Widerspruchs.
Nur die Institutionalisierung des Widerspruchs kann uns, nach Hegel, vor dem Faschismus retten: der Herrschaft von Interessen auf Kosten von Minderheiten anstelle des Staates.