10-Emanzipation (Politik und Staat)

Die absolute  Wahrheit, dass der Widerspruch Denken wie Sein gestaltet, spielt eine wesentliche Rolle im politischen Geschehen. Widerspruch blockiert die Selbstzufriedenheit einer Gesellschaft und verursacht ihren politischen Fortschritt. Wer auf Allgemeinengültigkeit hält, steht zur Fruchtbarkeit der Sperre.  Die Politik neigt, den Bürgern einen künftigen Staat ohne Widersprüche zu versprechen. Aber der Widerspruch ist für Hegel immerwährend. Er treibt den gesellschaftlichen Wandel, der ohne ihn unterbliebe.  Gegenseitige Anerkennung ist zwar wichtig für persönliche Freiheit und Gleichstellung, aber nicht ausreichend.  Notwendig ist vielmehr der Widerspruch, welchen der Staat als gesellschaftliche Einheit aufrechterhält. Damit verwirklicht er die Freiheit in einer Weise, wie es die gegenseitige Anerkennung niemals getan bekommt – solange er den Widerspruch nicht aus dem öffentlichen Raum entfernt und zur Zivilgesellschaft wird (dem wirtschaftlichen Austausch und Partei- oder Privatinteressen eine ihnen nicht zukommende öffentliche Bedeutung beimisst). Wahre Unnachahmlichkeit und echte Individualität hängt von der vernünftigen Struktur des Staates ab. Wer dessen Widersprüche entfernen möchte,  verhindert den Fortschritt. 

Widerspruch prägt das Wesen einer Gesellschaft und ist der Treibsatz hinter jeder ihrer Bewegungen. Wer das nur erkennt, versteht auch die Fruchtbarkeit solcher Grundspannung. Ihre Unbedingtheit leitet Hegels politische Vorstellungen. Sie setzen nicht auf Äußerlichkeiten, um den Widerspruch zu bewältigen. Erst wenn [das Subjekt] . . . die Hoffnung aufgegeben, auf eine Äußerliche, d. h. fremde Weise das Fremdsein aufzuheben, wendet es sich . . . an sich selbst. PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES 586

Frei wird das Subjekt durch Gewahrung des Widerspiels als ontologische Tatsache. Seine Vergegenständlichung ist Wahnsinn. Das Widerspiel beherrscht nur, wer nicht mehr länger vorhat, es einzufrieren. Denn man hat in seinem Anderen seine eigene Objektivität zum Gegenstande . . . Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. WISSENSCHAFT DER LOGIK 549 Wer im anderen erkennt („zum Gegenstande“ hat), was auch ihn selber ausmacht (anspannt), versteht die Absolutheit des Widerspiels.

Der Befreiungskämpfer strebt nicht an, mehr vom Gut des anderen zu besitzen, sondern alles und jeden als ebenso zwiespältig zu erfahren wie sich selbst. Die Entfremdung oder Widersprüchlichkeit des anderen macht ihn mir gleich. Wer das nicht einsieht, überschätzt sein Gegenüber und stiftet Macht-Verhältnisse. Die Erkenntnis fremder Verwandtschaft im Widerspruch macht einen nicht kongenial, schließt aber eine hierarchische Beziehung aus, indem alles Sein dieselbe Unzufriedenheit teilt. 

Sobald wir nicht absolut denken, befängt uns der Glauben an die Ungebrochenheit dessen, was wir vergegenständlicht haben. Indem Kant z. B. die Vernunft, die für Hegel das Widersprüchliche zusammen denkt, begrenzt, halluziniert er – ihr gegenüber – das Ding an sich. Politisch ist das für Hegel ein Desaster, weil damit vorgestellt wird, was unerreichbar ist: etwas „Substantielles“, dessen Weiterungen Raum und Zeit hierarchisch machen, dessen versuchte Wahrmachung Menschenopfer anbahnt und rechtfertigt.

Nur durch Innewerdung, dass ein Lösung nicht jenseits des Subjektes wartet, sondern jederzeit – durch Wechsel der Einstellung – möglich ist, entstehen die Voraussetzungen für gleichberechtigtes Sein.

Aus diesem Grund ist auch das Trauma der Geschichte nicht wieder gut zu machen (sondern nur außer Mode zu bringen).

Wenn aber endlich die Vernunft den Anfang macht, muss politisches Handeln die Folge sein.