Alberto Moravia über die Unfruchtbarkeit des Leidens

In nicht allzuweit zurückliegenden Zeiten hat eine ganze Roman- und Aufsatzliteratur versucht, die erzieherischen und schöpferischen Vorzüge des Leidens aufzuzeigen. Es war beinahe zu einem Gemeinplatz geworden: Das Leiden verhilft zu einem besseren Verständnis des Lebens; das Leiden macht den Menschen menschlicher und aufgeschlossener; das Leiden erhöht das schöpferische Vermögen.   Diese Literatur beruhte auf einer Anzahl sehr ernstzunehmender Schriften aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, von Dostojewskij in erster Linie, aber auch von anderen Russen und von Kierkegaard. Zweifellos enthalten derartige Behauptungen eine grundlegende Wahrheit, und zweifellos führten jene Schriften zu wesentlichen Entdeckungen in bis dahin noch unerforschten seelischen Bezirken. Man vergißt freilich gern, daß Dostojewskij, Kierkegaard und die anderen zu einer Zeit über das Leiden schrieben, da es verhältnismäßig wenig Leiden gab. Selbst wenn wir von Europa absehen, das in jenen Jahren vielleicht seine glücklichste Periode des Wohlstandes erlebte, schien sogar in Rußland das Leiden auf bestimmte Kategorien und Gruppen beschränkt. Die wahre Epoche des Leidens sollte später anbrechen, mit dem Ersten und dann mit dem Zweiten Weltkrieg – ganz besonders mit diesem. Die Entdeckung des Leidens erfolgte also in einer Zeit, in der die Leidensdosis noch erträglich war; die Leidensära hingegen, die in Rußland mit dem Jahre 1917 und in Europa rund fünfzehn Jahre später mit Hitler begann, ist durch ein so gewaltiges Übermaß an Leiden gekennzeichnet, daß man sich fragen muß, wie die Zivilisation sie überleben konnte. Jedenfalls stellt man heutzutage über das Leiden nicht mehr theoretische Salon-Betrachtungen an; und es verringert sich die Zahl jener, die noch erklären wollen, daß das Leiden heilsam sei und daß man (in künstlerischem Sinn) nicht schöpferisch sein könne, ohne es kennengelernt zu haben.   Wenn es im übrigen wirklich wahr sein sollte (was keineswegs bewiesen ist), daß das Leiden nützlich und notwendig ist, so hat es bereits die Natur auf sich genommen, den Menschen von Anbeginn diese Erfahrung zu sichern. Es ist also durchaus nicht nötig, daß der Mensch zu dem natürlichen Leidensmaß auch noch das soziale und gesellschaftliche Leiden hinzufügt. In der Sowjetunion aber ist in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gerade das geschehen. Das Ausmaß an Leiden, dem der Mensch sich nun einmal selbst unter den günstigsten Voraussetzungen auf keine Weise entziehen kann, ist durch die geschichtlichen Ereignisse in diesem Lande  verhundertfacht worden. Es genügt, sich in großen Zügen die Geschichte der Sowjetunion während der letzten vierzig Jahre in Erinnerung zu rufen, um sich davon zu überzeugen: Revolution im Jahre 1917 und völlige Vernichtung der alten herrschenden Klasse; Bürgerkrieg und daraus folgende erste Hungersnot; Fünfjahresplan, Liquidierung der Kulaken und zweite Hungersnot; Ermordung  Kirows und riesige «Säuberung»; Krieg gegen Hitler- Deutschland mit allen Schrecknissen, die aus der Absicht  Hitlers erwuchsen, Rußland zu einer Sklavenkolonie zu machen; schließlich die letzten fünf Lebensjahre Stalins,  nach Aussage der Russen die schlimmsten des zwanzigjährigen Stalinismus. All diese Geschehnisse werden sich morgen in den Geschichtsbüchern sehr interessant ausnehmen. Aber die «heroische Periode des russischen Volkes» war in Wirklichkeit eine Zeit des Leidens in seinen  gräßlichsten und unerträglichsten Formen: vom gewaltsamen Tod bis zum Verlust der Freiheit, von der Angst bis zu körperlichen Entbehrungen, von der Verzweiflung bis zur Tortur – und das für Millionen und Millionen Menschen.   In dieser geschichtlichen Periode der Sowjetunion  war das Leiden ein unersättliches Ungeheuer, das ganze  Generationen verschlungen hat, ohne irgendwen zu verschmähen: Antikommunisten wie Kommunisten, Kulaken, wie Arbeiter, Bauern wie «Nepleute», Militärs wie Bürokraten, Intellektuelle wie Politiker, Frauen wie Kinder, Alte wie Junge.   Was den Krieg betrifft, so weiß man, daß Stalin im Besitzerton eines von einer Seuche heimgesuchten Tier-Züchters gesagt hat: «In dem Krieg gegen Hitler habe ich  zwanzig Millionen Russen verloren.» Aber auch abgesehen  vom Krieg gab es, wie gesagt, die Leiden der Friedenszeiten, und wenngleich Stalin und die Stalinisten niemals  von diesen Opfern gesprochen haben, weiß man doch, daß ihre Zahl gleich groß, wenn nicht größer gewesen ist als die der russischen Hitler-Kriegsopfer. Ich bin kein  Freund der Statistiken, die ein modernes, wissenschaftliches Mittel darstellen, um mit dem Anschein der Wahrheit Lügen zu verbreiten, aber ich bin doch versucht, mich zu fragen: Wie viele Freunde und Angehörige mußten mit jedem im Krieg und im Frieden Getöteten oder Eingekerkerten mitleiden? Es ist sinnlos, hier eine Berechnung auch nur zu versuchen; aber man kann mit Sicherheit sagen, daß es praktisch nicht eine einzige Familie in der ganzen Sowjetunion gibt, die nicht das Leiden in seiner absurdesten und unerträglichsten Form kennengelernt hätte – nämlich das Leiden ohne Schuld.   Was die Beweggründe zu dieser unerhörten Entfesselung des Leidens angeht, so hat man von den Verbrechen Hitlers und von den «Irrtümem» Stalins gesprochen, von der industriellen Revolution und von den Fünfjahresplänen, von der besonderen Psychologie der Russen, den eigentümlichen Verhältnissen im Lande und so weiter. Ich möchte meinerseits eine sozusagen seismographische Hypothese entwickeln: Wie ein Erdbeben seinen Mittelpunkt bald an einem, bald an einem anderen Ort hat, liegt der Mittelpunkt der Geschichte im Laufe der Jahrhunderte bald in dem, bald in jenem Teil Europas. Im siebzehnten Jahrhundert zum Beispiel lag das zerstörerische Zentrum der Geschichte in den Niederlanden und in Westdeutschland. Es war dies die Zeit der schrecklichen Religionskriege. Heute sind diese Gegenden befriedet, und das Zentrum der Geschichte hat sich gegen Osten, in die slawischen Länder verlagert.   Was diese «Geschichte» eigentlich ist, läßt sich schwer sagen. Vielleicht eine explosive Verbindung von Lebenskraft, ungelösten praktischen Problemen und Ideologie. Sicherlich ist sie nicht jene Wesenheit mit wohltätigen Zwecken auf lange Sicht, die für so viele Menschen an die Stelle der göttlichen Vorsehung getreten ist. Immerhin, was auch immer die Ursachen gewesen sein mögen – in der Sowjetunion hat es in diesen vierzig Jahren eine Überdosierung des Leidens gegeben, die unerträglich selbst für ein Volk wie das russische war, das an das Leiden seit Jahrhunderten gewöhnt ist. Die Auswirkungen aber waren, meiner Meinung nach, völlig anders, als man nach den Theorien von einst hätte erwarten sollen.  Ich erinnere mich, daß ich in Moskau mit einem bekannten Schriftsteller darüber sprach, was man sich dort mit den sehr bedeutenden Autorenhonoraren kaufen könne. Er wies auf die üblichen Geldanlagen hin: ein Auto, ein Haus auf dem Lande oder am Meeresstrand, Rundfunk- und Fernsehgeräte, wertvolle Bilder. Dann bemerkte er: «In den letzten Jahren hat man viele gute Möbel billig kaufen können. Das hing mit der Belagerung von Leningrad durch die Deutschen zusammen, denn dabei starben ungefähr eine Million Menschen, also rund die Hälfte der Einwohnerschaft, an Hunger und Kälte. Die Möbel dieser Toten haben den Markt überschwemmt.» Dieser Satz schien mir kennzeichnend für die Gefühllosigkeit, wie die Natur sie hervorbringt, wenn das Leiden menschliches Maß überschreitet. Es war  nicht ein Understatement im englischen Sinne noch eine Bagatellisierung; es war auch kein zynischer oder grausamer Satz. Jener Schriftsteller war ein Mensch mit empfindsamem Gemüt, beseelt von patriotischen Gefühlen. In seiner Bemerkung enthüllte sich eine durch lange Gewohnheit hervorgebrachte Apathie und wohl auch die Unfähigkeit des Menschengeistes, sich von einem Unglück ergreifen zu lassen, das über alles menschliche Fassungs- und Teilnahmevermögen hinausgeht. Diese Million Toter, die ganz nebenbei in einem Gespräch über Schriftstellerhonorare zitiert wurde, bewies mir, daß sich die Wirkungen des Leidens an einem bestimmten Grenzpunkt umkehren; dann tritt an die Stelle der äußersten Empfindlichkeit die Unempfindlichkeit – sowohl individuell als auch kollektiv. Oder anders ausgedrückt: Ein gewisses Maß an Leiden inspiriert; allzuviel davon aber ruft eine Art vergifteter Benommenheit hervor, die nicht nur alles andere als inspirierend wirkt, sondern geradezu jede natürliche Reaktion auf die verschiedenartigsten Ereignisse verhindert.   Ich denke an den 25. Juli 1943 in Rom. Damals waren die Straßen bedeckt mit zerrissenen Bildern des gestürzten Diktators, und die Gassenjungen spielten mit den Köpfen der Mussolini-Büsten Fußball. Die Rede Chruschtschows ist für die Sowjetunion etwas Ähnliches gewesen wie jener fünfundzwanzigste Juli. Aber von den fünfzigtausend Stalin-Büsten, die in der Sowjetunion Parks, Straßen, Plätze und Vorhallen bevölkern (das ist der richtige Ausdruck), ist nicht eine einzige umgestürzt worden, und es hat auch niemand jene Beschriftungen darauf angebracht, durch die in anderen Ländern das Gefühl des Volkes seinen Ausdruck findet. Die Reaktion der Russen war die von Menschen, die das Leiden betäubt hat – das heißt, sie wurde nirgends auf lebhafte, spontane Weise deutlich.   Wer hat behauptet, daß die Freude nichts anderes sei als das Aufhören des Schmerzes? Alles in der Sowjetunion widerspricht diesem Satz. Heute hat in der Sowjetunion das Übermaß des Leidens aufgehört; die Folgen aber werden noch lange fühlbar sein. In Moskau las mir ein Freund das Gedicht eines jungen Autors vor, in dem die Benommenheit des Russen angesichts seiner jüngsten Vergangenheit gut zum Ausdruck kam. Der Dichter beschreibt, wie er in Sibirien im Eisenbahnzug durch eine abgelegene kleine Station fährt. Er erinnert sich, daß einer seiner liebsten Freunde verhaftet worden und, obgleich völlig unschuldig, nie zurückgekehrt ist. Wahrscheinlich war er von dieser kleinen Station aus nach seinem traurigen Bestimmungsort befördert worden. Indem er sich das alles ins Gedächtnis ruft, empfindet der Dichter Reue darüber, daß er am Leben und frei geblieben ist und nicht das Los seines Freundes geteilt hat. In diesem Gedicht lebt das Gefühl sehr vieler Russen angesichts der Enthüllungen Chruschtschows: Verwirrung, Ohnmacht, elegische Resignation. Mag also jenes Leiden vorüber sein, die dadurch hervorgerufene Benommenheit, die Apathie ist geblieben. Wer je in einem Krankenhaus oder Sanatorium gelebt hat, wo die Menschen leiden und sich an das Leiden gewöhnen, kennt diese Gefühllosigkeit, die sich in jeder analogen Lage wiederfindet. Sie ist nichts anderes als eine Art paradoxen Selbstschutzes. Dostojewskij, auf den man immer wieder zurückkommen muß, wenn man den Schmerz verstehen und erklären will, bezeugt mit seinen geschlagenen, erniedrigten, verformten Gestalten die Wirkung übermäßigen Leidens auf die individuelle und daher auch auf die kollektive Psyche. Alles dies muß im Auge behalten werden, wenn man über die Unfruchtbarkeit der Literatur und ganz allgemein der Kunst in der Sowjetunion während dieser letzten Jahre sprechen will. Es sind hierfür alle möglichen Gründe angeführt worden, politische und andere; aber soviel ich weiß, hat noch nie jemand auf das Motiv des Leidens hingewiesen oder vielmehr auf die Apathie, die das Leiden im Übermaß hervorruft. «Wir haben Dutzende von Stalin-Preisen verteilt, aber wir besitzen keinen einzigen wirklichen Roman», hat Malenkow einmal, noch zu Lebzeiten Stalins, in aller Öffentlichkeit erklärt. Diese Unfruchtbarkeit der Sowjetliteratur ist die Unfruchtbarkeit jenes großen Leidens, das für die kleineren und kleinen Leiden unempfindlich macht, wie sie das menschliche Leben und damit auch die Dichtung durchziehen. Denken wir wieder an Dostojewskij, der in Schuld und Sühne das Leiden und Elend seines Helden und so vieler anderer Gestalten schildert. Es scheint fraglich, ob er heute, nach der Million Verhungerter und Erfrorener von Leningrad, seinen Roman noch geschrieben hätte. Die Leiden Raskolnikows, Sonjas, der Familie Marmeladow wären ihm geringfügig erschienen, verglichen mit dem soviel schaurigeren Leiden einer ganzen von den Hitler-Armeen belagerten Stadt. Wir möchten sogar behaupten, er hätte sie gar nicht mehr als Leiden empfunden, das heißt, er wäre ihnen gegenüber gefühllos geblieben und hätte daher nicht die Fähigkeit besessen, sie wirksam zu beschreiben. Hinzu kommt die niemals zuvor in irgendeiner Gesellschaft verzeichnete Tatsache, daß die marxistische Ideologie, die ihrem Wesen nach optimistisch sein muß,,gerade während der Zeit des schlimmsten Leidens eine lächelnde Literatur mit happy end forderte. Es ist leicht zu verstehen, daß unter solchen Umständen die sowjetischen Schriftsteller die in sie gesetzten Hoffnungen enttäuscht und eine Literatur hervorgebracht haben, die insgesamt wenig überzeugend und sonderbar irreal wirkt. Heute, nach vier Jahrzehnten, hat es zum erstenmal den Anschein, als wollte sich der Sturm des Leidens in der Sowjetunion beruhigen. Die in normaleren Zeiten herangewachsenen Generationen werden vielleicht in einer nicht zu fernen Zukunft aus der durch das Leid erzeugten Teilnahmslosigkeit herauswachsen. In etlichen Jahren mag vielleicht im russischen Leben und damit auch in der Kunst das Lächeln wiedererscheinen, ein Lächeln, das nicht aus ideologischen Gründen gezeigt wird, sondern dem Leben selbst entstammt, jene natürliche Heiterkeit, die Leopardi mit seinem Gleichnis von den Vögeln meint. Inzwischen bleibt uns die gesicherte Erkenntnis, daß das übermäßige Leiden nicht schöpferisch und in keiner Weise nützlich ist und daß die Kunst aus jener Heiterkeit erwächst, welche die Vögel veranlaßt hat, zu singen, zu hüpfen und zu fliegen. Wie der Dichter sagt: «Sie singen bei jeder Freude, bei jeder Zufriedenheit, die ihnen zuteil wird, und je größer die Freude, je größer die Zufriedenheit, desto mehr Lust und Bemühung legen sie in ihren Gesang.» Besser konnte die schöpferische Kraft der lebendigen Heiterkeit nicht gekennzeichnet werden.

Un mese nell’URSS