Hohes Lied Salomons

Meine Augen schliefen,
aber mein Herz zitterte
vor Wachheit.
 
Da, es klopft!
Der Geliebte steht vor der Tür!
 
„Mach auf, meine Schwester, meine Freundin,
meine kleine, unschuldige Taube,
mach auf!
Meine Stirn ist nass von Tau,
in meinen Haaren
hängen die Tropfen der Nacht.“
 
„Ich habe mein Kleid schon ausgezogen.
Warum soll ich es wieder anlegen?
Ich habe meine Füße schon gewaschen.
Warum soll ich sie wieder schmutzig machen?“
 
Da schob der Geliebte seine Hand
durch das Guckloch in der Tür.
Und meine Seele wogte ihm entgegen,
dass ich nichts mehr von mir wusste.
Ich erhob mich,
um ihn einzulassen.
Als meine Hände die Riegel berührten,
fassten sie in Myrrhe.
Meine Finger tropften
von zartem Myrrhenöl.
Ich öffnete die Tür,
aber er stand nicht mehr draußen,
der Geliebte,
er war fortgegangen.
Ich machte mich auf,
um ihn zu suchen,
aber ich konnte ihn nicht finden.
Ich rief seinen Namen,
aber er antwortete nicht.
Da ergriffen mich die Wächter,
die durch die Strassen gingen,
und schlugen mich
bis aufs Blut.
Ich musste meinen Umhang
in ihren Händen lassen,
in den Händen der Wächter auf den Mauern.
 
– Übersetzung: Manfred Hausmann