Mörderinnen

Der Impuls, das eigene Kind umzubringen, ist verbreiteter, als allgemein angenommen, wenn man sich nur länger mit einer erfahrenen Hebamme unterhält. Meine eigene Mutter hatte es mir einmal fröhlich gestanden, da sie es kaum fertig brachte zu lügen, einer ihrer besseren Charakterzüge. Am gespenstischsten aber erfuhr ich diese Wahrheit in meiner Jugend auf einer Bahnfahrt, die bis heute in meinem Gedächtnis stattfindet. Damals war Interrail angesagt. Wir durchquerten mit Rucksäcken Europa vom Nordkap bis hinein nach Marokko. Marrakesch! Statt in Hotels schlief man oft im Zug, das war mit der Netzfahrkarte kostenlos. Ich erinnere mich, während des Paris-séjour abends immer nach Limoges gefahren, dort gegen drei Uhr nachts ausgestiegen zu sein und den Rest der Nacht im Zug zurück nach Paris geschlafen zu haben. Zum Frühstück war man zurück. Irgendwann in dieser Zeit landete ich in einem Nachtexpress ins damalige Jugoslawien, in einem Abteil mit einer dicken jungen Mutter und drei Kindern, einem zehnjährigen, einem vierjährigen Jungen und einem Säugling, der an ihren gewaltigen Brüsten hing, die ihm ohne weiteres hätten die Luft abdrücken können. Die junge Mutter beschrieb mir, wie sie sich das manchmal ausmalte. Aber der Säugling war in Sicherheit, ebenso der Vierjährige, ein fröhlicher Sonnenschein, der mich öfters auf meiner obersten Liege besuchte. Der Schwarzen Peter war beim Ältesten, für den die Mutter nur Verachtung übrig hatte. Er strahlte inzwischen etwas Äffisches aus, versuchte unentwegt mit plumpen, schleudernden Bewegungen zustande zu bringen, was ihm ein bisschen Achtung einbringen sollte. Aber er stießt dabei nur an oder etwas um und zog sich noch mehr Groll zu. Es war hoffnungslos. Und wenn er seinem kleinen Bruder nachkletterte auf meine Liege, um etwas von meinem Zurücklachen abzubekommen, befremdete er mich ebenfalls, tat mir zugleich leid, wie ein Bettler, den man mit Kleingeld loswerden möchte. Schließlich stellte er eine weitere Eselei an, und die Mutter sagte: „Jetzt reicht’s. Du kommst ins Heim.“ Ihre Worte haben sich mir eingeprägt wegen des Gesichtsausdrucks des Sohnes. Er war noch zu jung, um ihren Bluff zu durchschauen, und alles brach in ihm zusammen. Die Vorstellung, von dieser Mutter und seinen Geschwistern, um deren Achtung er unentwegt kämpfte, getrennt zu werden, stürzte ihn in eine tiefe, untröstliche Verzweiflung. – Die Macht der Mutter ist so gewaltig, unbesiegbar, dass es nur zwei Film-Handlungen gibt, die es fertig bringen, sie als Widersacherin zuzulassen: die Schwarze Komödie und der Horrorfilm, denn jedes seiner Monster ist wesentlich „Mutter“ (Name des Computers in Alien). Ich denke heute, dass Frauen in der Regel verträglicher sind als Männer, weil die unverträglichen ihre Kinder umgebracht haben und sich deswegen nicht fortpflanzen konnten. Aber manchmal tauchen Mutationen auf, wenige zwar, aber es gibt sie. Und wehe dem dann, der auf sie angewiesen ist.