DIE PUSZTA Kapitel 15 – Kurpfuscher und Heilkundige. Hygiene der Puszta. Chirurgen. Natürliche Heilmethoden.

Zitat 1: Mit Kranken wurde wenig Federlesens gemacht.
Die überlegene, vornehme Art der Herren, ihre Handlungen anzupacken und auszuführen, erfüllte mich mit der gleichen Bewunderung wie der heitere, klare Blick, mit dem sie es fertigbrachten, über den moralischen Dreckpfuhl unberührt hinwegzugehen. Seit zwei Monaten erwarteten wir den Tod meines Vaters, dessen Seelengröße ich nach den Mißverständnissen vieler Jahre erst in diesen letzten Wochen richtig erkannte. Da lag er auf einer verlassenen Puszta von einer tödlichen Krankheit gemartert, dazu noch die Sorgen, wie lange das Geld reichen würde, um den Arzt zu bezahlen, der sich durch den Dreck fast unbefahrbarer Herbststraßen durchkämpfen mußte, um ihm für fünf Pengö das Erlösung bringende Betäubungsmittel zu verabreichen. Auch das erste und späte Zeichen der Kindesliebe, die ich in Form einer mir als literarischen Preis verliehenen Urkunde über einen beträchtlichen Betrag in seine Hände legte, vermochte ihn nicht zu trösten. Jeder — nur er nicht -— wußte, daß er dem Tode geweiht war. Auch die Herrschaft erfuhr es, und dem verdankten wir offenbar ihren Besuch. Als die in einen Jagdpelz gehüllte, elegante Gestalt des jungen Mannes am Bettrand erschien und Vater die Hand zum Gruß reichte, da übergoß andächtiges, glückliches Licht das ausgemergelte, gelbe Gesicht des alten Mannes, und ein verträumtes Lächeln ließ hinter dem grauen Schnauzbart die großen, gesunden Zähne durchschimmern. Nach der Begrüßung teilte der Besuch kurz mit, daß er ihm leider kündigen müsse. Es war November, und zu Neujahr würde demnach ein neuer Mann eingestellt werden. Damit ging er. »Dann werde ich also sterben«, sagte der Kranke nach einer kurzen Pause. Meine Beteuerungen waren umsonst. Die Familie war in der kürzesten Zeit ihres qualvollen Problems enthoben. »Ich will beichten«, ertönte es ruhig und gefaßt vom Bett her.

Zitat 2: Dem Heilkundigen gegenüber waren sie dagegen aufrichtig. Sie schütteten ihm ihr Herz aus, da sie wußten, daß ihr Geheimnis wohlgehütet blieb. Der Pfuscher hatte ja Einblick in die verborgensten Winkel der Seele und des Körpers.
Die Heilkundigen durchschauten diese Menschen, und ich selber bin Zeuge dafür, daß sie vielen geholfen haben. Denn sie waren nicht nur Ärzte, sondern auch Seelenhirten und Richter. Wenn der Mann aus Igar in der Küche der Hajas’ sein Quartier aufschlug, so verbreitete sich über die Puszta nicht nur die Stimmung belebender Hoffnung, sondern ein wenig auch das Gefühl des Ausnahmezustandes. Mit welchen Mitteln erreichte der Mann all dies? Vor allem damit, daß er von seinen Klienten volle Aufrichtigkeit forderte, die sie sonst weder dem Ehepartner noch sich selber gegenüber, ja nicht einmal im Traum aufgebracht hätten. Denn ein einziges unwahres Wort, ja selbst ein unwahrer Gedanke genügte, um den Heilkräutern und Sprüchen die Wirkung zu nehmen. (Bei Erfolglosigkeit der Kur beschuldigten sich die Patienten ausnahmslos selbst.) Der blinde Glaube stand an erster Stelle: die Heilkundigen hatten vom Gottessohn gelernt.