DIE PUSZTA Kapitel 14 – Vom Geruch. Fremde auf der Puszta.

Zitat 1: Hin und wieder erschienen aus fernen, geheimnisvollen Regionen Gäste auf der Puszta. Sie bewegten sich wie auf Sumpfboden oder zwischen Tontöpfen. Unsicher und mißtrauisch blickten sie umher, blieben stehen und nahmen ihren Rundgang nur nach gutem Zureden wieder auf. Neugierig schauten sie durch die Fenster in die Gesindewohnungen hinein, getrauten sich aber nicht einzutreten. Unter ängstlicher Vermeidung der Dunghaufen durchwanderten sie, von den Gutsbeamten geführt, die breiten Gänge der Stallungen. Aus respektvoller Entfernung betrachteten sie die Stiere, die Kühe, die Schafe; aber auch uns. Aus respektvoller Entferung starrten auch wir sie an. Wir folgten ihnen in entsprechendem Abstand Schritt für Schritt, wie von der Angst beseelt, sie könnten sich plötzlich umdrehen und uns angreifen. Sie hielten Taschentücher vor ihre Nasen. Anscheinend vertrugen sie den Druck der Atmosphäre schlecht.
Leicht war diese Atmosphäre bestimmt nicht, wie ich selber bald feststellen konnte, als ich Gelegenheit fand, von einer Gesellschaftsschicht in die andere hinüberzuwechseln, und annahm, ich könnte dies ohne merkliche Störung tun. Es ging nicht. Jede Gesellschaftsschicht hat ihre spezifische Atmosphäre. Nach einem plötzlichen Ortswechsel stellte ich genau dieselben Symptome an mir fest, die mich beim Abstieg in ein Bergwerk befielen, oder wenn der Aufzug ruckartig auf großer Höhe mit mir stehen blieb: mein Magen empörte sich, der Puls schlug schneller, mein Gehirn versagte den Dienst, ich schwankte und schnappte nach Luft. Damals entdeckte ich, daß die Verwirklichung der Gleichheit keine einfache Sache ist und wie sehr der in der Gesellschaft eingenommene Platz den Menschen formt und bis ins kleinste Glied bindet. Ich persönlich hatte, wie die scharfe Beobachtungsgabe der Großmutter schon in früher Jugend feststellen konnte, dauernd Schwierigkeiten mit meinem Geruchsinn. Gegen die schön gebundenen Krawatten und das reichliche Schuhputzen während meiner Flegeljahre hatte sie zwar nichts einzuwenden, verfolgte aber mit desto größerem Mißtrauen meinen sich immer stärker geltend machenden Drang nach frischer Luft im Zimmer. »Mach doch das Fenster zu!« rief sie mir zu und zog den hundert Jahre alten gestrickten Schal fröstelnd über ihrer Brust zusammen. »Oder verträgst du nicht einmal mehr unseren Geruch?« Ich vertrug ihn tatsächlich schlecht. Dabei schämte ich mich meiner Schwäche und kam mir vor wie ein niederträchtiger Verräter. Die altbekannten, heben Gerüche verwandelten sich in quälende, würgende Ungeheuer. Bei meiner zweiten Heimkehr prallte ich sogar vor dem sonst so wohlvertrauten Dunst des gemeinsamen Wohnraumes an der Tür zurück. Der heimische Ruch, nach dem ich mich in der Ferne so sehr gesehnt hatte, verwandelte sich in das muffige Gemisch einer Ausdünstung von Ruß, kaltem Gemüse und im Zimmer trocknender Wäsche. Die geliebte Schürze, in die ich einst so glücklich meinen Kinderkopf vergraben hatte, roch heute nach ranzigem Spülwasser. Wie aber hätte ich über all dies sprechen können? Ich sprang bei der ersten Ermahnung der Großmutter auf, um das Fenster zu schließen, und setzte mich wieder an den Tisch. Doch der Dunst der in der Ecke stehenden, frisch mit Talg beschmierten Stiefel streckte durch das Meer der schweren Gerüche, die sich aus der qualmenden Petroleumlampe, dem gärenden Sauerkrautfaß und dem süßlichen Duft der im Rohr bratenden Kürbisstücke zusammensetzte, polypartig seine Fangarme aus, um mich zu ersticken. Ich stand auf und verließ das Zimmer. »Der komplette Herr!« hörte ich noch beim Schließen der Tür Großmutter zu Großvater sagen, der sich die Füße mit einer Mischung von Knoblauchsaft und Treberschnaps einrieb. Dann stand ich unter dem sternbesäten Winterhimmel und sann über den Gang der menschlichen Entwicklung nach, über den berühmten Fortschritt, dessen Errungenschaften die trennende Kluft von Mensch zu Mensch nur verbreitern und vertiefen können. Im Mittelalter ließ der Burgherr zwar seine Leibeigenen köpfen, konnte aber, wenn es sich so ergab, mit ihnen in einem Zimmer aushalten.

Zitat 2: Wer sich je mit Armen unterhalten hat und nur halbwegs »den Ton traf«, wird wissen, mit wieviel Aufmerksamkeit und wieviel Freude von einer hungrigen Seele nicht nur die »Aufklärungen«, sondern sogar Ratschläge in den heikelsten Angelegenheiten aufgenommen wurden. Ich verstehe wenig von der Zuchtauswahl bei Schweinen, trotzdem wollten mich die Mitreisenden eines Abteils dritter Klasse nach meinem anderthalbstündigen Vortrag am Endziel meiner Reise kaum aus dem Zug heraus lassen und hätten mir am liebsten noch eine Fahrkarte nach Somogyszob, wohin sie fuhren, und zurück bezahlt. Die Bauern und im allgemeinen die Armen hören nur zu gern auf die Worte der Herren und bemerken es deshalb besonders schnell, wenn diese nicht viel von der Sache verstehen. Im Grunde genommen wäre das kein Unglück, denn es könnte sich eine erbauliche Diskussion entwickeln. Aber dazu sind wiederum die Herren zu überheblich. Die Armen beobachten mit dem Scharfblick eines Psychologen das Gesicht des Herrn und verstehen dem Mienenspiel des Sprechenden mehr zu entnehmen als den verdächtig gewundenen Sätzen, die meist nicht ihres hohen Niveaus wegen unverständlich wirken, sondern weil sie konfus und nichtssagend sind.