Selbstfindung nach Kierkegaard

In Sygdommen til Døden (Krankheit zum Tode) spannt Kierkegaard den Menschen auf zwischen Stolz und Sehnsucht. Die beiden kommen nie zur Deckung: eine verzweifelte Lage, welche das Dasein verdirbt.

Der Menschen ist nach Kierkegaard auf jeden Fall entzwei – nicht, weil er etwas verkehrt gemacht hat, sondern weil er so zur Welt kommt: zum Verzweifeln. Es gibt keinen Menschen, der nicht ursprünglich verzweifelt wäre. Weil sein Stolz oder Ich von der Sehnsucht verletzt wird.

Die Verzweiflung kann ein Mensch nach Kierkegaard überwinden durch die Entwicklung eines, wie er’s nennt, Selbsts. Darunter versteht er keinen Einheit, sondern eine gelungene Beziehung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.

Dies kann auf dreierlei Weise misslingen:

1 – durch Übertönung der Verzweiflung vermittels Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für solche Ablenkungen „Tennisspielen“ und „Mathematik“ an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. Wer keine Zeit hat, der Verletzung seiner Eigenmacht durch Sehnsucht innezuwerden, ist lt. Kierkegaard verzweifelt auf eine Art und Weise, welche die hoffnungsloseste ist. Da er gar nicht weiß, dass er verzweifelt ist, und so auch nichts dagegen unternehmen kann.

2 – durch Einseitigkeit – Erwürgung des einen Verzweiflungsoments zuliebe des anderen. Indem ein Mensch beispielsweise Sehnsucht ausblendet für Meisterschaft. Er beschränkt sich entweder nur auf das, was in seiner Macht steht (wie die Virtuosen) – oder er liefert sich dem Unendlichen aus (wie die Drogensüchtigen). Eine Vermittlung findet nicht statt.

3 – durch Überschätzung infolge der Annahme, die Sehnsucht persönlich stillen zu können (Liebe z. B. „deichseln“ zu können, was noch niemand geschafft hat).

Entsprechend die Ausgangspunkte von Selbstwerdungs-Geschichten: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben, das in Übertönung, Einseitigkeit, Überschätzung – oder einer Mischung beziehungsweise Abwechselung aller drei – bestand. Aber irgendwie droht auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance entsteht, auf etwas Erfüllenderes zu kommen: das wahre Selbst.

Wie hat man sich dessen Geburt vorzustellen?

Für Kierkegaard spielt dazu das andere eine entscheidende Rolle, ursprünglich als Gott interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch könne je selbsttätig sein Sehnen stillen, sondern hänge in diesem Punkte von etwas ab, das mehr sei, als er je sein könne, und – hinzukommend – das Selbst erst schafft.

„. . . ein Selbst“, schreibt Kierkgegaard, „muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein.“ Da wir als Menschen dessen, was uns ausmacht, Können und Sehnen, nie zeitgleich inne – nicht gleichmäßig im Besitz unserer Kräfte und Begehren – sein können, sind wir auch nicht imstande, was uns auseinandersetzt, einzubinden. Wir schaffen ein Selbst nicht durch Bordmittel; es muss vielmehr – im Fall von uns Menschen – „durch ein anderes gesetzt sein“.

„Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.“

„Durchsichtig“ meint wohl etwas wie „an der Nasenspitze anzusehen“ = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Dasein von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Strebens („durchsichtig“) mitteilt, nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.

Was für eine – das Selbst bedingende – Sache kann das sein?

Im Falle Dantes wäre es z. B. Beatrice (wie sie in rührender Form als Jenny in Forrest Gump zurückkehrt) – der Tanz in Billy Elliot – Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann – die Krone in Macbeth – die Literaturwissenschaften in Stoner usf.

Das Selbst kommt zustande durch etwas, das einen für sich einnimmt.

(Dante beschreibt seine erste Begegnung mit Beatrice in La Vita Nuova: „Neunmal, seit ich geboren war, hatten die Sterne schon am Himmel sich zu jenem Bild vereint, das jährlich wiederkehrt, als ich ihre Gestalt erblickte. Die es nicht besser wussten, nannten sie Beatrice. Ein 12tel Grad hatte der Sternenhimmel sich seit ihrer Geburt in den Morgen gedreht, so dass sie, eben neun geworden, mir entgegentrat, der beinah zehn war. In edles Gewand gehüllt, blutrot und achtbar, erschien sie, gegürtet und geschmückt, wie’s ihrem jungen Alter zukam. Da zitterte furchtbar in mir empor der Puls des Lebens und sagte: Siehe, ein Gott, der stärker ist als ich und der daherkommt und mich beherrschen wird.“)

Wie aber entspannt so eine Gnade die Verzweiflung?

Indem Stolz oder Können und Sehnsucht in ihr thematisch aufeinander bezogen sind.

Dies geschieht nach Kierkegaard durch die Stiftung wahrer Identität, kraft welcher Können und Sehnsucht oder Begehren ineinander greifen; denn was sich von einem Menschen hält, ihn ewig und „identisch“ macht, entspringt seinen zeitlichen Spuren und Feinheiten, die er gesinnt ist, hier und jetzt zustande zu bringen, je handfester, desto inständiger.

Endlichkeit und Unendlichkeit als Quellen der Verzweiflung werden versöhnt, weil ein inspirierter Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet – je begegnen wird! Denn es hat in jedem Fall Bedeutung kraft dessen, was ihn einnimmt, indem es dasselbe konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wirklich werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mich erfüllt (Undendlichkeit), etwas auf sich.

Die Versöhnung des Widerspruchs zwischen Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit folgt aus der Zunahme von Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen, die seine Freiheit herausfordern und dadurch bedingen. Das gilt selbst für Macbeth.

Ein sicheres Erkennungsmerkmal aber für die Gnade oder Sache, welche mein Selbst zustande bringt, ist für Kierkegaard das Gefühl der Angst, die angesichts der Aufforderung in mir anbebt. Nur in einem Auftauchen, dessen Anmut meinen Herzschlag beschleunigt, liegt das Versprechen der Rettung vor der Verzweiflung.