Vom Wesen des Sexes

Die Psychoanalyse hat sich nicht auf die Sexualität gestürzt, sie ans Licht gezerrt und dann versucht, mehr oder weniger alles mit ihr zu erklären. Dies würde voraussetzen, dass Sexualität ein klar abgegrenzter (wenn auch schamhaft verschleierter) Bereich der menschlichen Natur ist, an sich unverfänglich und problematisch nur in ihrer Beziehung zu anderen menschlichen Formaten, insbesondere zur Kultur und ihren Zwängen. Freud entdeckte dagegen, dass die Sexualität an sich prekär ist, eine Herausforderung, keine Lösung für Probleme und Fragen der Menschheit. Weit davon entfernt, etwas zu sein, mit dem man andere menschliche Phänomene erklären kann, bedarf sie selbst einer Erklärung.

Nach Freud ist die Sexualität kein natürliches Gebiet, das dann in der Begegnung mit Sitten und Zwängen verschroben wird. Freuds entscheidende Entdeckung war, dass die menschliche Sexualität im Aufeinanderstoßen von „Natur“ und „Kultur“ überhaupt erst entsteht, aus dem schwierigen, problematischen und unberechenbaren Verhältnis der beiden.

Unser Geschlechtsleben ist nicht deswegen vergnüglich, weil es die Fortpflanzungsorgane umfasst. Vielmehr gibt es etwas im Werden der menschlichen Natur, das die geschlechtliche Aktivität, indem es sie mit seinem Überschuss versieht, überhaupt erst sexualisiert. Dieser Punkt mag paradox erscheinen, aber wenn wir daran denken, was unser genitales Tun auszeichnet – ist es nicht gerade die Tatsache, dass menschliche Fortpflanzung im Gegensatz etwa zur tierischen oder pflanzlichen „sexualisiert“ ist. Was wir witzig verkürzen könnten in: ‚Sex ist sexy‘?

Wegen ihres wesentlichen Parasitentums hat die Sexualität keinen eigenen Bereich oder Gegenstand, ist grundsätzlich fehl am Platz. Sobald wir versuchen, eine klare Definition des sexuellen Tuns zu geben, stoßen wir auf Schwierigkeiten. Je weiter sich der Sex z. B.  von der „reinen“ kopulierenden Bewegung entfernt, d.h. je mehr Elemente er in seine Aktivitäten einbezieht, desto sexueller wird er (wenn wir etwa an die heute ständig zum Genuss auffordernde Werbung denken). Nichts könnte weiter von den Rezepten der Psychoanalyse entfernt sein als die vereinfachende Behauptung, dass das Vergnügen seinen natürlichen Platz im menschlichen Leben hat, dass dieser Platz anerkannt werden sollte und dass Sexualität neben anderen menschlichen Aktivitäten angemessen berücksichtigt werden soll. Der zentrale Punkt von Freuds Entdeckung war, dass es gerade keinen „natürlichen“ oder vorgegebenen Platz für menschliches Vergnügen gibt; dass es wesentlich ortsfremd, fragmentiert und zerstreut ist; dass es nur in Abweichungen von „sich selbst“ oder seinem vermeintlich natürlichen Ziel existiert und dass Sexualität nichts anderes ist als die Abwegigkeit einer Befriedigung.

Freuds grundlegender Schritt bestand darin, die Sexualität zu vergeistigen. Das Sexuelle ist danach keine Substanz, sondern die Unmöglichkeit ihrer eigenen Beschreibung oder Umgrenzung. Sie kann weder vollständig von biologischen, organischen Bedürfnissen und Funktionen getrennt werden (da sie in deren Bereich entsteht, geht sie ihre Sache an, indem sie ihn bewohnt), noch kann sie einfach darauf zurückgeführt werden. Das Sexuelle hat keine bestimmte Zone im Dasein oder Leben. Gerade deshalb kann es alle Bereiche der menschlichen Existenz zu ihrem Ding machen.

Indem die Nicht|Verbindung zwischen Körper und Geist Sexualität schafft, wird ihre Einrichtung Kastration genannt. Der „Phallus“ stellt anschließend als Sinnbild für die Sexualität ihre fehlende Integration von Leib und Seele dar.