Der Traum der roten Kammer …

… ist, wie mir immer wieder versichert wurde, das bedeutendste literarische Zeugnis Chinas. Jeder Chinese würde zumindest die Geschichte des Romans kennen, Gebildetere haben ihn auf jeden Fall gelesen. Es war der einzige klassische Roman, der den Chinesen auch während des Kulturrevolution nicht verboten war. Mao will ihn fünfmal gelesen haben. Worum geht es also in diesem Roman? Am besten fasst es der erste Satz zusammen: „Nachdem ich es im Staub der Welt zu nichts gebracht hatte, fielen mir plötzlich all die Mädchen von damals wieder ein. Sorgfältig dachte ich über jede von ihnen nach, verglich sie untereinander und kam zu dem Schluss, dass sie mich in Verhalten und Wissen allesamt übertrafen.“ Dies erfahren wir von einem Mönch, der sich an seine Jugendzeit in den Frauengemächern eines aristokratischen Haushaltes erinnert. Als Liebling seiner Großmutter wächst er ausschließlich unter Mädchen auf. Sowohl er wie seine Schwestern, Cousinen, deren Zofen sind während der meisten Erzählzeit Teenager. Er fühlt sich etwas erotisch, vor allem aber wesensmäßig mehr zu Frauen als zu Männern hingezogen. Der Garten, in dem sie ihre Jugend verbringen, hat etwas Paradiesisches. Während die Familienverhältnisse, die dieses Paradies ermöglichen, immer mehr zerfallen. Der Held oder Anti-Held (Pao Yü) wird schließlich überlistet, eine Zweckehe einzugehen. Während der Hochzeitsfeier stirbt seine exzentrische, seelenverwandte Cousine (Blaujuwel), die er eigentlich glaubt zu heiraten, an Liebeskummer.

Blaujuwels Verlassen der Welt ist wahrscheinlich der Höhepunkt des Romans. Ihre Gesellschaft in diesem Moment ist die loyale Zofe Kuckuck. Sie dürften beide höchstens 16 Jahre alt sein. Sie befinden in sich in der “Bambusklause”, welche Blaujuwel in dem Garten bewohnt, während fern in einem anderen Teil des Anwesens die Hochzeit Pao Yüs stattfindet. Blaujuwels Abschiedsworte zu Kuckuck:

“Ich tauge nichts fürs Leben. Hab Dank für Deine Dienste! Eigentlich hoffte ich, dass wir noch lange zusammenbleiben würden. Ich dachte, ich …”

Sie brach ab und schloss erschöpft die Augen, lockerte aber nicht den Griff ihrer Hand. Kuckuck wage auch nicht, ihre Hand freizumachen, und wartete still ab, was sie zu sagen haben würde.

“Schwester, ich bin hier eine Fremde”, fuhr Blaujuwel nach langer Pause stöhnend fort. “Sei so lieb und lasse meinen Leib in meiner südlichen Heimaterde bestatten …”

Wieder musste sie abbrechen und die Augen schließen. Kuckuck spürte ihre Hand immer fester, krampfhafter umklammert. Mit Bangigkeit lauschte sie dem unregelmäßigen Gang des Atems. 

Die Sterbende schien mehr aus– als einzuatmen. Besorgt ließ Kuckuck schleunigst Witwe Tschu zurückholen. Kurz für deren Eintreffen fand sich auch noch Lenzgeschmack ein. Still weinend neigte sich Lenzgeschmack über die Sterbende und nahm mit einem letzten Händedruck von ihr Abschied. Ihre Hand fühlte sich schon eiskalt an. 

Zu dritt schickte man sich gerade an, Blaujuwels Körper mit feuchten Tüchern abzureiben, als sie plötzlich laut aufschrie: “Po Yü! Pao Yü! Du …”

Das waren ihre letzten Worte. Ihr Glieder bedeckten sich mit kaltem Schweiß und gingen in Erstarrung über. Sie starb zur gleichen Stunde, als Pao Yü und Pao Tschai die Zeremonie ihrer Hochzeit vollzogen. 

Mitten in die Totenklage der anwesenden Frauen scholl plötzlich von irgendwo aus weiter Ferne eine zarte, feine Musik. Alles verstummte und lauschte. Die Hochzeitsmusik im Westpalast konnte es nicht sein, dazu war die Entfernung zwischen der Bambusklause und der Wohnung des jungen Paares zu groß. Lenzgeschmack und Witwe Tschu eilten in den Park hinaus, um deutlicher zu hören, aber es war keine Musik mehr zu vernehmen, nur leises Raschen der vom Nachtwind bewegten Bambuszweige, die an der mondbeschienenen Gartenmauer huschende Schatten laufen ließen. Den beiden war es etwas unheimlich zumute, die wandten der Stätte des Todes den Rücken und suchten beflügelten Schrittes ihre Behausung auf.