Freud | Lacan

Bei der Psychoanalyse geht es immer um Sex.
Dabei weiß diese Lehre kaum etwas über Sex, könnte also keine Ratschläge geben.
Vielmehr stellt sie fest, wie Sex zustande kommt, nämlich als etwas Überflüssiges, das den Menschen – nach Freud – sogar unmenschlich macht.
Freud beobachtet, dass Sex aus dem besteht, was übers Ziel hinausschießt. Egal, was wir unternehmen, wir schaffen’s nie aufzuhören, wenn wir am Ziel sind. Was wir dann weiter tun ist, wenn ich Freud richtig verstehen, Sex. Eine Art Krebs, könnte man meinen (an dem Freud ja auch zugrunde gegangen ist).
Für Lacan ist Sex dagegen wie ein Phantomschmerz, gilt etwas Abhandenem. Nicht so sehr einem anderen Partner, der uns ergänzt, sondern einer Vollkommenheit, die wir meinen verloren zu haben.
Jedenfalls bedeutet Sex für beide – Lacan wie Freud – etwas Nicht-Menschliches, da er jenseits dessen auftritt, was wir sind.
Ist Sex daher göttlich?
Freud, der Jude, signalisiert etwas Fernes, Lacan, der Katholik, etwas Jenseitiges. In beiden Fällen ist es unfassbar. Sex macht nicht den Menschen aus, sondern sein Manko.
Die Psychoanalyse sieht im Menschen oder, wie sie lieber sagt, im „Subjekt“, eine Art Krüppel: unvollständig – etwas fehlt! Was es ist, weiß niemand genau, nur ist die Abwesenheit spürbar, tut sich kund im „Begehren“|Sex.
Das psychoanalytische Verständnis der Sexualität ist nicht genital, sondern meint Drang schlechthin, der sich in beliebigen Sachverhalten vollenden möchte.
Im nicht selten psychoanalytisch verfassten Marvel-Universum richtet er sich oft auf einen überirdischen Kristall, der alles verspricht, was abgeht.
Die Neurosen, welche die Psychoanalyse zu lösen oder zu mildern versucht, entstehen dadurch, dass wir den Kristall im anderen vermuten.
Das wird dann auch das Heikle an der Wertschätzungs-Psychologie: wenn sie unterstellt, dass der andere nicht, wie ich selbst, verkrüppelt ist, und daher die Quelle meiner Genesung sein kann – oder verantwortlich bleibt für mein Manko, wenn dieses leider fortbesteht.
Es gibt aber keine Genesung, für niemand, lautet die schlechte – und befreiende – Botschaft der Psychoanalyse.
Sie versucht, ihre Patienten letztlich dahin zu bringen, dass sie endlich die Verkrüppelung im anderen einsehen, positiver ausgedrückt, die gleiche Sehnsucht in allen Menschen: nach dem unmöglichen Kristall, der uns endlich vollständig machen würde.
Angesichts dieser Herausforderung entsteht bestenfalls Solidarität oder Hilfsbereitschaft, die überhaupt erst möglich wird, wenn wir aufhören, einander zu überschätzen. Gerade das existentielle Elend der „amputierten Seele“ öffnet so gesehen den Pfad zu echter Mitmenschlichkeit.