Das Begehren ist das Begehren des anderen …

Dieser Kernsatz Lacans könnte missverstanden werden im Sinne Girards: dass wir uns nur begeistern können für etwas, das andere möchten: indem sie darauf brennen, wird auch uns danach – so entstehen dann Konflikte usf.

Nach Lacan ist uns  dabei jedoch mehr nach dem inneren Fiebern – von anderen. Wetteifernd, würden wir jemand sogar gewinnen lassen, sollte sein – damit mein – Vergnügen am Spiel dadurch vermehrt werden. Wie wenn die Hauptfigur eines Horrorfilms dem Ungeheuer nachgibt, um seinen Blutrausch auszukosten.

Erpicht aufs Genießen schlechthin, stellt jeder sich dann vor, worauf „man“ abfährt, um sein Verlangen danach zu richten.

Fantasie

Um zu verstehen, wie ich drauf bin, muss ich meine Vorstellungen von dem durchsteigen, was angesagt ist – nicht in Bezug auf Anerkennung oder Respekt, sondern hinsichtlich Genuss und Vergnügen. Was halte ich für Wonnen, darauf die anderen nie verzichten können?

Wir kriegen nie genug, weil wir dem anderen nie reichen. Unsere Deutung dessen, was Vergnügen bereitet, deckt sich mit keiner anderen. Jeder hat seine  Vorstellung von dem, wonach dem Rest der Welt ist. Keine Monade gleicht der anderen.

Sublimation

Fantasien oder Deutungen sind Sublimationen, indem sie einen Gegenstand einstehen lassen für etwas, das fehlt. Der Meterstab lässt sich nicht halbieren. Eine Deutungshilfe ist dabei die Mode, die unentwegt neu ersetzt, was abgeht. Ihr Träger will nicht wertgeschätzt oder gewürdigt werden, sondern genießen, was nicht zu fassen ist.

Auch eine begehrte Person steht ein für etwas Abwesendes. Das meist genossen wird in einem Merkmal. Dieses ist nicht austauschbar, wohl aber sein Träger. (Ich fahre ab auf Personen mit demselben Merkmal.)

Liebe

Geliebt wird eine Person erstmals in ihrer Deutlichkeit. Begehren („Seelenverwandtschaft“) dagegen ist immer sexuell: kreist um eine fantastische Eigenschaft (den „Typ“) an wechselnden Exemplaren – oder um die ewig aufgeschobene Vollendung (Beatrice, Blaujuwel im Traum der roten Kammer).

Liebe versucht zu erfüllen, was dem Begehren versagt bleibt. Sie besteht nicht darin, dass es zwischen zwei Personen zufällig klappt, sondern erarbeitet den Weg zur Ursache unseres Begehrens im anderen. Ihr Kennzeichen ist nicht Betörung, sondern – Überraschung. Echte Liebe kann sich notwendigerweise nicht einkriegen, dass der begehrte Gegenstand vorhanden ist. Sexuell verkehren wir durch fremde Hilfe lustvoll mit uns selbst, als Liebende freut uns das Sein des anderen.

Das vorschnelle „Ich liebe dich!“ verrät Begehren; denn es wird sich noch nicht auf die sterbliche Person beziehen, sondern auf deren Deutung.

Die dünne Linie zwischen Liebe und Hass

Die Vergötterung blendet aus, was, wenn sie verblasst, an ihrem Gegenstand unangenehm hervortritt, nachgerade Ekel auslöst.

Begehren ist ein Anflug, der seinen Gegenstand aufscheinen lässt. Es besteht aus – nichts. Hat aber wirkliche Folgen.

Blick

Darunter versteht Lacan einen „Fleck“ im Gesichtsfeld, durch den sich das Begehren kundtut. Der Blick ist kein Aspekt, sondern ein frei schwebender, sinnloser Gegenstand oder Bereich, nach dem sich alles richtet. Indem er etwas Fehlendes signalisiert, starrt er uns an, auf eine Befriedigung abstellend, die nur triebhaft (ihn umkreisend) zur Verfügung steht. Im Maße, in dem ein Alltag oder „Karneval“ unser Begehren umsetzt, drängt sich aus seiner Mitte eine defekte Stelle auf, nach der sich alles richtet. Sie lässt sich nicht halbieren – strahlt dies als Bruchstück aus.

Überkandidelt

Begehren gilt dem Bedeutungserlebnis der Liebe, welche sich nur mittelbar – durch Sättigung eines Bedürfnisses – erweisen kann; im Hinausgehen über seinen Zweck wird der Anspruch zum Begehren. Begehren ist daher unnatürlich, Sexualität verstiegen, ihres menschlichen Charakters deshalb nicht etwa beraubt, sondern durch und durch inne.

Trieb

Triebe sind ziellos, auf Gegenstände angewiesen, um sich auszuleben, aber keinem verpflichtet. Sie können nicht entarten. „Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist … Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich zunächst unabhängig von seinem Objekt und verdankt wohl auch nicht den Reizen desselben seine Entstehung.“ (Freud)

Die Ungebundenheit der Triebe unterscheidet sie eben von dem Bauchgefühl oder sechsten Sinn. Lacans objet a meint das, wonach Trieben jenseits ihrer Gegenstände unentwegt ist. Beispielsweise die Reizung des Gaumens im Falle des Oraltriebs, der folglich durch Nahrung ebenso wie durch Daumenlutschen befriedigt werden kann. Die Erfüllung jedes menschlichen des Bedürfnisses stößt im Grunde die Möglichkeit einer weiteren Befriedigung mit an, die zur Verselbständigung und Wiederholung neigt. Jedes natürliche Bedürfnis wird verunreinigt von dergl. Überfluss, welcher sich aus ihm löst. Solche Abspaltung und Leere jenseits von Formen der Befriedigung kennzeichnet nach Freud die Sexualität.

Genital bedeutet somit nicht sexuell, sondern die Verbindung selbständiger, zerstreuter Vergnügen – am Hören, Sehen, Fühlen (Lecken …) – zu einer  Zwangseinheit. Die nie ganz dicht hält – worin gerade das Sexuelle austritt: im selbständigen, ruhelosen Kreisen der Teiltriebe um ihr Ziel.

Psychoanalyse

Psychoanalyse versucht, unbewusstes Begehren wörtlicher zu machen. Dies gelingt nur im Gespräch mit jemand anderem. Der Klient soll unbewusstes Begehren sich nicht nur vor Augen holen, sondern gesprächsweise – rückwirkend – bestimmen. Durch Artikulation soll der unendliche Fluchtweg des Begehrens von einem Gegenstand zu nächsten abgegrenzter und gefestigter werden. Die Benennung des Begehrens hilft dabei, nicht schon wieder den nächsten Schritt tun zu müssen.

Um den Widerstand gegen die Hervorkehrung seines Begehrens zu überwinden, muss dem Klienten nach dem werden, worauf der Analytiker aus ist. Dessen Verlangen ist, im Vergleich zu dem des Klienten, robuster. Jeder entsprechende Ausdruck („Wir sehen uns morgen …“) des Analytikers kann genügen, den Klienten in der Therapie zu halten (das Begehren des Analytikers zu begehren).

Das Begehren des Analytikers wirkt rätselhaft, aber dringend. Ohne Gegenstand, der abgetrieben werden könnte. Der Analytiker weiß nichts, sondern lauscht in den Worten des Patienten nach Ausdrücken des Begehrens oder uneingestandenen Genießens. Bei diesen lädt er ein zu bleiben, immer mehr damit in Verbindung zu bringen – und so die Grundfantasie des Klienten zu durchschreiten. Um sich sein Begehren anzueignen, muss er erst kennenlernen, was er für alltäglich hält.

In diesem Durchlaufen der Grundfantasie vollendet sich die Therapie, ist danach vorbei. Die Grundfantasie muss dabei nicht entdeckt, sondern kann aus vielen Teilfantasien, die ans Licht kommen, zusammengesetzt werden als Ursache meines Zustands. Es geht darum, seine Triebe | Formen des Genießens zu lösen aus dem Alltag, der sie nicht bestimmt, und bei ihrer Ursache zu hüten.

Ethik der Psychoanalyse

Die Analyse ist dann beendet, wenn der Klient nicht mehr „begehrt“, insofern damit die innere Ausrichtung am „Begehren des anderen“ oder dem Zeitgeist gemeint ist, und seine Triebe in Besitz nimmt.

Schuld wächst mit dem Gefühl, hinsichtlich dessen, was wir begehren, zurückzubleiben, weil wir stattdessen auf etwas aus sind, von dem wir meinen, dass anderen danach ist.

Mein Über-Ich verurteilt (nach Lacan) solche Uneigentlichkeit. Die überwältigenden Schuldgefühle, mit welchen es einen bedrückt, rühren aus dem Nachgeben meines Begehrens hinsichtlich dessen, wonach – meiner Vorstellung nach – allen anderen ist. Das einzig moralische Versagen besteht aus psychoanalytischer Sicht darin, sein Begehren unter Wert verkauft zu haben.

Aufgabe der Psychoanalyse ist’s somit nicht, das Begehren zu veredeln, sondern in seiner Vergeblichkeit zu würdigen. Das Ziel ist Abschied. Wenn Entfremdung das Erleiden des eigenen Mangels ist, besteht Abschied im Erleben der Leere des anderen.

In Wahrheit ist jede Autorität in sich unstimmig, primanerhaft, gespalten – weiß so wenig wie man selbst, was sie begehrt, und kann so auch kein anderes Begehren sichern. Erst die Bezeugung der Leere des anderen, seiner Unfähigkeit, uns zu sagen, was wir begehren sollen, befreit uns zur Artikulation unseres eigenen Begehrens.

Der Abschied lässt das blöd dastehende Begehren des anderen los und wendet sich einem hartnäckig selbstbestimmten Begehren oder Trieb (Genießen) zu. Der Neurotiker hat sich nicht ausreichend damit auseinandergesetzt. Er verharrt in der Überschätzung des anderen, es sei denn das Leben überrascht ihn.

Echtes Begehren wird geboren aus der Entzauberung des Alltags. Denn wenn Begehren das Begehren des anderen ist, sollte dessen Auflösung auch das Begehren seiner Macht berauben. Es wird dadurch zum Trieb. Freiheit wird zum beispiellosen Genießen dessen, wonach mir ist – auch im Angesicht des Todes (Fall Antigone …).