120 Tage von Sodom

Ich schaue gerade nochmal die Top-100-Filme gemäß Sight und Sound durch und kann mich für kaum noch einen erwärmen, die ich alle von früher gut kenne. Um einen habe ich bis jetzt einen Bogen gemacht: Pasolinis 120 Tage von Sodom. Ich hatte ihn, als er herauskam, im Kino gesehen, und er wirkte wie eine Wasserscheide in meinem ganzen Leben. Man ist danach irgendwie ein anderer Mensch, aber das Gefühl ist nicht erhebend, sondern eher bedrückend wie wahrscheinlich das Erlebnis der Geburt. Jetzt habe ich ihn mir, etwas zitternd, wieder angeschaut, und es war, als ob ich ihn gestern erst gesehen hätte, so einschneidend wirkt alles. In den Beigabe-Interviews äußern sich ein paar französische Regisseure ähnlich. Catherine Breillat meinte, man habe nicht gelebt, bis man den Film gesehen hat.

Der Film verlegt eine fantastische Geschichte von Marquis de Sade in den Ausklang der Mussolini-Diktatur, ich nehme an, um bestimmte Themen de Sades in dieser Zeit deutlicher zu machen. Wenn ich de Sade theoretisieren müsste, würde ich sagen, er zeigt, was es heißt, aus einer Welt Sinn zu schöpfen, in der es keinen Gott mehr gibt. Wie kann ein Leben gelingen, das mit dem Tod vorbei ist? Eigentlich nur, indem man das meiste für sich herausholt. Vor mir nichts, nach mir nichts, außer mir nichts, lautet in dem Fall die Devise. Es gibt keinen vernünftigen Grund, es anders zu sehen. Das führt de Sade in seinem Gedankenexperiment bis ans Ende. Insbesondere gilt es dann, die lästigen Ansprüche von Mitbewerbern auf Ressourcen abzuwehren, die man besser alleine genießt. Auch die Angst vor dem Tod kann schließlich nur dadurch gemildert werden, dass man andere an seiner Stelle sterben sieht, das eigene Überleben dabei genießend. Aber dieses Gefühl ist nur vorübergehend und muss in immer kürzeren Abständen neu erlebt werden. Eine Serie wie Game of Thrones fällt einem unwillkürlich ein – deren Ereignisse incl. Goutierung „aus dem Zuschauersitz“ die letzten Szenen des Pasolini-Films gespenstisch veranschaulichen.

Beim Wiedersehen des Films nach 30 Jahren fällt weiter auf, wie sehr sein Szenario mit den perversen Spielchen das Hartz-IV-Fernsehen von heute vorausahnt. Die Folterer sind nur wenig entfernt von schmierigen Promis, die irgendwelchen Versagern die Leviten lesen. Auch das Verzehren von den Exkrementen hat mich an den Schundfraß in heutigen Schnellrestaurants erinnert.

Ich hab‘ nach dem Film, der tagelang nachwirkt, mich unerwartet an Gelegenheiten in meinem Leben erinnert, wo ich Mist gebaut, vor allem andere Menschen ausgenutzt hatte, unangenehme, beschämende Erinnerungen. Welcher andere Film, frage ich mich inzwischen, bringt einen eigentlich dazu, mit sich ins Gericht zu gehen? Die meisten signalisieren einem doch eher, was für ein toller Hecht man im Grunde doch ist oder werden muss: Vor-mir-nichts-nach-mir-nichts-außer-mir-nichts.