Verklärungen des Anti-Kolonialismus

Die Dekolonialisierung nach dem II. Weltkrieg nahm eine erhebliche Last von den Schultern der Akademie. Der Niedergang des Weltreiches ihrer Nation eliminierte zugleich die Notwendigkeit, dieses zu rechtfertigen. Faktisch wurden die meisten europäischen Nationen nach dem II. Weltkrieg selber Kolonien – ihr Weltreich zerschlagen, ihre Wirtschaft abhängig von jener der USA oder UdSSR, sie selber reduziert auf die Rolle zweitrangiger Satellitenstaaten der „Großmächte“ (zu denen sie nicht mehr gehörten). Die Nachkriegsintelligenzia Europas, Rechte wie Linke, fing an, sich und ihre Staaten selber als Opfer des Imperialismus und Neokolonialismus zu begreifen, auch wenn sie die Erbsen ihrer Viktimisierung durch eine immer dicker werdenden Matratze des Wohlstandes fühlten. Eine Generation nach Ende des II. Weltkriegs wurde es in den intellektuellen Kreisen Europas Mode, sich mit den vielen nicht-westlichen Völkern zu identifizieren, die einst koloniale Untertanen gewesen waren.

DER EDLE WILDE

Die „Eingeborenen“ wurden allzeit umso positiver eingeschätzt, je weniger man sie zu Gesicht bekam. Während des 19. Jahrundert waren die Amerikaner der Ostküste voller Sympathie für die Indianer der Westens, welche ihnen die Romane James Fenimore Coopers vorstellten. Die Reden der edlen Häuptlinge wurden aufgenommen in die Schulbücher. Noch die Großeltern der Freunde der Indianer aber hatten Kopfgeld für deren Skalps bezahlt und sie rücksichtlos aus ihren Ländern vertrieben. Die Siedler im Westen des Landes währenddessen, die in unmittelbaren Kontakt mit den Indianern standen, hielten diese für gefährliches Gesindel, Unruhestifter oder nutzlose Bettler, die man sich vom Leib halten und beseitigen musste. Waren sie dann dezimiert und in Reservate verfrachtet, neigten auch die Bewohner des Westens, sie und ihre Bräuche in ähnlich sentimentalem Licht zu sehen wie jene der Ostküste.

Der Übersprung von angstvollem Hass zu Nostalgie mit wachsender Entfernung ist nichts typisch Amerikanisches. Der Wechsel in der Betrachtung der Germanen durch Cäsar oder Tacitus, die Bewunderung der Neo-Australier als „Aborigines“, die Faszination der Buren für die Buschmänner und die spätere Gewogenheit der Japaner gegenüber den Ainu sprechen dieselbe Sprache. Das Stammesleben ist einfacher zu bewundern, nachdem es zerstört wurde und nicht mehr – außer in der Fantasie – wiederauferstehen kann.

Das primitive Leben wurde zurückgedrängt mit dem Aufkommen der Zivilisationen vor 6.000 Jahren, die Vereinnahmung von Stammeskulturen dann beschleunigt nach dem II. Weltkrieg. Vor dem Krieg waren „Primitive“ in ihrer ursprünglichen Lebensform in isolierten Gegenden noch anzutreffen (Papua Neuguinea, Australien, Amazonien, Philippinen, Afrika). Die schnelle Zunahme der Bevölkerung in der Dritten Welt nach dem Krieg jedoch, die dramatischen Verbesserungen in der Transport- und Kommunikations-Technologie, der unersättliche Appetit der Industrie-Nationen nach Rohstoffen haben sie moderen Zivilisation in jede Ecke der Welt gebracht. Ende der 60er Jahre waren vorstaatliche Wirtschaften und Kulturen verschwunden. Stammesgesellschaften konnten so den Unternehmungen der Industriestaaten nicht mehr im Weg stehen, und ihre unmittelbare Beobachtung nicht mehr den sentimentalen Vorstellungen widersprechen, die man sich von ihnen machte. Fragwürdige Verhaltensweise der Überlebenden solcher Gesellschaften konnten der Korruption und Erniedrigung zugeschrieben werden, welche sie durch die westliche Kultur erfuhren. Deren weichgespülte Vorstellungen vom früheren Stammesleben entwickelten sich mit den Jahren zu einer ausgeprägteren und unverrückbareren Version der Lederstrumpf-Romane.

ZWEIFEL AM FORTSCHRITT

Die schockierende Grausamkeit des II. Weltkriegs, Atomangst, der Nachvollzug aller Übel und Erniedrigungen des Imperialismus, mit der Zeit dann eine zunehmenden Empfindlichkeit für die Umwelt erdodierte den Glauben an Fortschritt und Überlegenheit der westlichen Zivilisation. Der Angriff auf deren moribunde Vorstellungen ist mit den Jahrzehnten immer rasender geworden. Industrielle Ausdehnung und technologischer Fortschritt werden als Vorboten eines ökologischen Desasters und immer zerstörerischer Kriege gedeutet, während Fortschritte in der Medizin lediglich Überbevölkerung und weiteres Elend ermutigt haben. Massenkommunikation und Transport untergraben die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Menschen, indem sie die kommerzielle Korruption des Westens an jede Türschwelle bringen. Heilung versprechen nur noch drastische Mittel – technologischer Rückschritt, Bevölkerungsrückgang, Entindustrialisierung, abnehmende Mobilität und Zensur oder Unterdrückung globaler Kommunikation. Ein Bild, nicht unähnlich der Welt von The Walking Dead und anderer dystopischer Serien der letzten Jahre.

Jene die besser essen, ein längeres und stimulierenderes Leben führen infolge moderner Landwirtschaft, Medizin, Erziehung, Massenkommunikation und Reisen, die am meisten gewappnet sind gegen körperliches Unwohlsein und Misslichkeiten kraft industrieller Technologie, schwelgen in Fantasein über die primitive Welt. Diese Haltung ist weniger zu finden unter den wirklichen „Opfern des Fortschritts“ in der Dritten Welt, abgesehen auch dort von den westlich abgerichteten Eliten. Trotz miesester Chancen streben diese Unglücklichen in die schäbigen Inseln der Modernität, die Städte, angelockt von der schmalen Hoffnung auf materiellen Fortschritts, den sie versprechen. Für viele dieser Migranten ist die primitive Welt, welche die fliehen, keine Legende, sondern Teil ihrer Erinnerung. Die Abscheu vor dem Fortschritt wirkt vergleichsweise wie ein weiterer Luxus, welchen die Erste Welt sich gönnt. Die Zivilisation aber sieht grimmiger aus für jene, die an ihr teilhaben und an ihrem tausendfachen Mißbehangen, während ihre Straßen für jene, welche die Zitadelle aus der Ferne sehen, mit Gold gepflastert scheinen.

Die meisten der Zivilisation und dem Fortschritt zugeschriebenen Übel – wie soziale Ungleichkeit und Unterordnung, Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Vandalismus und Eroberung – wirken zusammengezogen in der Führung und Nachwirkung von Kriegen. Daher sei der Krieg eines der Hauptprodukte des westlichen Vormarsches, die vorzivilisierten Umstände aber der nicht-westlichen Welt vor der europäischen Ausdehnung muss deswegen idyllisch und friedvoll gewesen sein. Indem der Glaube an den Mythos des Fortschrittes abnimmt, geht er über aus den Mythos des Goldenen Zeitalters.

DIE SCHÖPFUNG DES MYTHOS

In die Nachkriegsatmosphäre von Angst, Unwohlsein und Unzufriedenheit mit der westlichen Zivilisation haben Anthropologen eine Doktrin vorzivilisierter Gewalt eingeführt, welche die Sorgen aufnimmt. Die kultivierten Vorstellungen primitiven Krieges und prähistorischen Friedens, waren keinesfalls reine Fantasiegebilde oder absichtliche Täuschungen. Sie stützten sich vielmehr auf Augenschein, nur nicht immer zu der Sache, auf welche es ankam. So konzentrierten die Verfechter eines sicheren und wirkungslosen primitiven Krieges ihre Aufmerksamkeit auf stilisierte Gefechte ohne Opfer und übersahen die selteneren Massaker und weniger seltenen Raubüberfalle, welche die meisten Toten verusachten. Berücksichtigt wurden nur Formationen, welche modernen Schlachten glichen, kaum aber die tatsächlich verfangenden Guerillatechniken mit ihren meisten Todesopfern. Auch nahmen sie die kaum zu klärende Frage der Beweggründe besonders ernst. Auch ignorieren die Fürsprecher der vorzivilisierten Friedens die archäologischen Spuren, die ihrem Befund widersprechen. Die angesagten Vorstellungen über prähistorische Kriegsführung verdanken sich daher nicht falschen, sondern isolierten Information.

Die Anthropologen, deren Deutungen dabei behilflich waren, die Vergangenheit künstlich zu befrieden, waren eher besessen vom Geist ihrer Zeit. So etwas trifft auf Ideen allzeit zu, wissenschaftliches Verständnis wurzelt in den Vorlieben seiner Epoche. Trotzdem ist es keine reine Modeerscheinung, da es stets Beweisen standhalten muss. Die Theorie einer friedlichen Vorgeschichte ist nicht deswegen falsch weil sie befangen oder außer Mode geraten ist, sondern weil enthnograpische und archäologische Beweise ihr widersprechen.

Ob man die Primitiven nun verachtet oder vergöttert – in beiden Fällen verweigert man ihnen das vollständige Menschsein. Die eine Sicht streitet ihnen Intelligenz, Geselligkeit und Großzügigkeit ab sowie Fülle, Wirkmacht und Esprit, die man der eigenen Lebensart zuschreibt. Die andere Sicht gestattet ihnen weder Raubgier noch Grausamkeit, noch einen Klimafußabdruck oder die Gerissenheit in Machtfragen, die man sich selber zutraut. Stattdessen spielen Primitve im Gemüt von Laien und Anthropologen die Rolle von Lämmern, zugewandt der Nautr wie ihr Beschützer und voller Verachtung für die materiellen Seiten des Lebens. Man will gewissermaßen, dass sie gerechter und spiritueller (nach unseren, nicht ihren Vorstellungen), glücklicher und kaum innerlich zerworfen, weniger berechnend sind, als man selbst. Die Europäern haben sich lange nicht vostellen wollen, dass die Primitiven so schlau, moralisch zwiespältig und gefühlsmäßig verworren sein könnten wie sie selbst. Schreiben wir andererseits primitiven oder prähistorischen Menschen nur unsere Tugenden, nicht auch unserer Fehler zu, entmenschlichen wir sie ebenso wie uns selbst.

Wer sich zum Tier macht, entledigt sich des Schmerzs, ein Mensch zu sein. Indem wir den Primitiven unterstellen, menschlicher und friedvoller zu sein als wir selbst, machen wir uns zu Tieren. Unsere Fähigkeit zu organisierter Gewalt, die allgegenwärtige Hässlichkeit des Krieges, die umständlichen Schwierigkeiten, Frieden zu halten gehören zu dem Schmerz, ein Mensch zu sein. Indem wir uns auf den verzweifelten Mythos der friedlichen Vergangenheit einlassen, möchten wir davon ablassen, uns den Herausforderungen des Menschseins dort zu stellen, wo alleine wir sie angehen können – im Hier und für die Zukunft.