Fluch und Segen des Kolonialismus

Mein Leben drehte sich mehrmals um Afrika, nicht weil es mich besonders hinzog, sondern weil ich für einen Kollegen einsprang, um etwas dazu zu verdienen. Dadurch lernte ich Land und Leute kennen, mit denen ich reichlich zu tun hatte.


Für mich war es ursprünglich überraschend, wie verfeindet die Stämme und Völker untereinander waren. Es gab Momente, in denen die Leute, mit denen ich zusammenarbeitete, auf einmal um ihr Leben fürchteten infolge von Unruhen. Die Situation hat sich mittlerweile gebessert, indem die Staaten immer mehr zu sich kommen und mildernd auf die Spannungen zwischen ihren verschiedenen Gruppen wirken, das Gewaltmonopol an sich ziehen.


Freilich sind diese Staaten Weiterungen der Kolonialisierung, und man muss sich immer fragen, ob es ohne diese besser aussähe. Es fehlen Vergleichsmöglichkeiten. Denn Gegenden, die nicht kolonialisiert wurden, z. B. Äthiopien oder Thailand, verfügten bereits über ein Staatswesen.
Afghanistan hatte keine Kolonialherren, infolge auch nicht – wie vergleichbare Länder – einen Staat aufgedrückt bekommen. Durch einen weiteren Zufall hatte ich in meinem Leben auch einmal dort zu tun, drei Wochen in Kabul mit afghanischen Filmschaffenden.


Sie blickten auf einen langen Krieg zurück und meinten, das schlimmste dabei sei gewesen, dass es keine zentrale Autorität gegeben habe, um diesen zu beenden. Wenn man morgens aufwachte, konnte man nicht wissen, ob man abends noch lebte. Schon der Einkauf von ein paar Sachen zum Frühstück sei lebensgefährlich gewesen, da die unterschiedlichen Rebellengruppen von den Berghängen (wie in Sarajewo . . .) wahllos in die Stadt schossen. Die Machtergreifung der Taliban wurde von allen begrüßt, weil man endlich wieder von einer Stadt in die andere fahren konnte, ohne sein Leben zu riskieren.


Bei dem Anthropologen Sterling habe ich gelesen, die Männer der Auyana im Hochland Neuguineas hätten die Machtübernahme einer „kolonialen“ Zentralregierung als Verbesserung ihres Lebens begrüßt. Man könne wieder essen, ohne über die Schulter blicken zu müssen, und morgens zum Wasserlassen aus dem Haus gehen, ohne befürchten zu müssen, erschossen zu werden. Die Männer, die in einem nicht enden wollenden Krieg steckten, den man sich wie einen Blutrachefeldzug im Mafia-Sizilien oder den albanischen Bergen vorstellen muss, gaben Sterling gegenüber zu, furchtbare Angst zu haben. Sie litten unter Albträumen, in denen sie während des Kampfes von ihrer Gruppe getrennt wurden und keinen Ausweg mehr sahen.


Etwas Ähnliches habe ich in den Aufzeichnungen der Erinnerungen von Helena Valero gelesen, die als Kind von den Yanomami verschleppt wurde und 30 Jahren unter ihnen lebte. Die Kriege, welche unter den Stämmen ausbrachen, waren schwer wieder unter Kontrolle zu kriegen (wie erwähnte Blutrache-Fehden).


Wer als erster proaktiv gegen solche Dynamiken vorging, waren meistens die Missionare. Ich habe in Afrika erstmals in meinem Leben Missionare getroffen und muss zugeben, dass ich menschlich sehr beeindruckt war von ihnen, den Männern wie den Frauen. Die italienischen Nonnen, die eine Krankenstation in einer Wüstengegend betrieben, haben sich mir als Vorbilder eingeprägt. In Europa hatten die Missionare einmal ganz ähnlich gewirkt, als sie nach Germanien und Skandinavien vordrangen. Ihr Auftauchen war wohlgelitten, da sie über Rezepte verfügten, um die Spiralen der Gewalt zu unterbrechen. Rom war die Beratungsagentur zur Optimierung politischer Vorgänge schlechthin. Der intellektuelle Papst Innozenz scheuchte seine hochgebildeten Studienkollegen aus der Bibliothek des Vatikans auf Reisen ans Ende der Welt, die sie Gefahr liefen, nicht zu überleben, um Konflikte zu entschärfen, zu intervenieren. Cortez hatte Missionare dabei, die mit großem Scharfsinn in die Seelen ihrer aztekischen Priester-Kollegen blickten, um die Verhältnisse zu entwickeln.


Es gibt die Vorstellung einer alternativen Modere: dass die kolonialisierten/missionierten Gebiete der Welt sich, hätte man sie in Ruhe gelassen, friedlich zu etwas Erquicklichem entwickelt hätten, das man sich inzwischen nur noch erträumen kann, da es im Keim zertreten wurde. Ich bin mir nicht sicher. Die kolonialisierten Gebiete hatten oft 1.000de von Jahren in dem Zustand gelebt, in welchem sie vorgefunden wurden. Sollten sie keine Erlösungsfantasien gehabt haben (wie angeblich der Azteken-König, als er in Cortez einen Gott wähnte)? Und wurden diese durch die Kolonisierung nur bitter enttäuscht?


Klar ist, dass den Kolonisierten ein Staatswesen überstülpt wurde, wie es uns beherrscht und in gewissem Sinne weniger unmittelbar aufeinander angewiesen macht. Aber was wäre die Alternative gewesen? Alles so lassen, wie es war? Im Moment wird dieser Weg ja gegangen gegenüber den ganz wenigen Völkern, die noch isoliert vom Abgas der modernen Zivilisation existieren etwa im Amazonas-Gebiet oder auf den Inseln im Adamanischen Meer, wo sie neulich einen verwirrten Missionar erledigten. Aber machen sie uns ein Leben vor, das wir gerne eintauschen würden?