Lieber nicht

Da sitzt er an seinem Tisch in der Reihe in der Stille der Bibliothek und ist geschäftig. Plötzlich da Klappern von Holzlatschen, ein Windhauch und am Tisch vor ihm sitzt… sie, seine platonische Liebe. Was macht sie denn genau vor ihm, wo so viele Tische frei sind? Warum setzt sie sich nicht hinter ihn, wenn sie ihn sehen will? Aber wer sagt denn, dass sie wegen ihm gekommen ist? Alles ist Zufall!Aber Frauen zeigen sich gern, deswegen hat sie sich vor ihn gesetzt. Das muss es sein. Der Lichtschlitz in der Sichtblende erlaubt einen Blick auf den sanft braunen Nacken. Ein kleines silbernes Kettchen hängt da auch, vermutlich mit einem Anhänger, der das Bild von irgend so einem Lackaffen mit BMW enthält. So ist es doch immer. Da, sie hat sich umgesehen, schnell weggucken. Also wieweit waren wir mit Kiepners Dramentheorie? Obwohl Brecht.. ja.. aristotelisches Theater und dann episch… warum hat sie sich umgeguckt? Ob sie mich sehen wollte? Oder ob es das Fenster neben air ist, wo das Geschwätz vom Brunnenhof eindringt und stört. Das wäre eine Gelegenheit, sie zu fragen. Aber lieber nicht, es konnte ja auch sein, dass sie alles durchschaut. Ich werde jetzt weiter lernen, und wenn sie wieder aufsteht und zurückgeht – ich sitze immer länger hier als alle – werde ich meinen Kopf vom Buch heben und überrascht lächeln. So werde ich es tun. Wollen weiter sehen, was die Dramentheorie macht. Im 15. Jahrhundert . . . das war um 1400 bis 1500, damals gab es Minnesänger. Vielleicht wäre es mir da leichter gefallen an sie heranzutreten. Vielleicht wäre sie auch als Hexe zum Scheiterhaufen verurteilt worden, und ich hätte sie aus der Gruft retten können, weiß Gott. Was ist das für eine tolle Frisur: die Haare sind mit einer Klammer an den Hinterkopf gesteckt, aber sie lassen es sich nicht ganz gefallen, und einige Strähnen rieseln auf die Schultern. Leider ist ein Pullover über diesen schönen Schultern. Das hätte man früher nicht gemacht. Überhaupt wussten die Frauen sich früher noch zurechtzumachen. Dafür tragen sie heute aber keine Büstenhalter mehr. Die ganze Stadt besteht nur noch aus hüpfenden Spitzen, man kriegt den Kopf gar nicht mehr hoch. Ob sie auch keinen anhat? Es drückt sich alles durch, das habe ich geistesgegenwärtig noch erfassen können, ehe ich den Rücken zu sehen bekam. Es könnte aber auch einer dieser neuartigen BHs sein, dünn u. durchsichtig. Jeden morgen wird sie ihn achtlos anziehen, ohne zu ahnen, was sie fur Schätze birgt. Wenn wir befreundet wären, könnten wir zusammen in die Ferien fahren. Nach Marokko, dann müsste ich wie der Teufel aufpassen, dass die Araber sie zufrieden lassen. Nachts könnte man nackt baden. Wenn sie aber Jungfrau ist. Ach, wer weiß das schon heute. Es ist wirklich eine Schande, nichts ist mehr klar, alles vage. Wenn ich einen kleinen Zettel schriebe und ihr auf der Sichtblende liegen ließe, dann aber laut wegginge. Wenn sie an mir interessiert wäre, würde sie diesen Zettel natürlich lesen, weil, wenn sie mich liebte, alles an mir sie interessieren müsste. Ich aber würde dann draufgeschrieben haben: ich erwarte Dich vor dem Ausgang, Liebling. Aber wenn sie dann rauskäme und hätte ihn nur aus Neugierde gelesen, weil sie mich für arrogant hält und wissen möchte, was dahinter steckt? Dann stände ich da wie ein Narr. Das, sie steht auf, jetzt . . .


Sein Blick heftete sich auf die Tischplatte, und aus dem Augenwinkel konnte er ihre Beine sehen, die vorbeigingen, ohne dass er sich durch eine Kopfbewegung verraten hätte.