Das Rasthaus

Mein Gasthaus steht am Wege, eines Tages aber kam ein Mann.“Haben Sie ein Zimmer für mich?“ sagte er. „Wir sind ein Rasthaus“, sagte ich. „Wir leben davon.“ Er blickte mir tief in die Augen,nahm stumm den Schlüssel aus meiner Hand und verschwand in seinem Zimmer. Die Gäste vom Wege kamen und gingen, die Mode veränderte sich, die Autos wurden schneller, der Weg breiter, der Mann aber blieb in meinem Rasthaus, als ob er hier wohnte. Bald lernten wir uns besser kennen, statteten uns Besuche ab, hoben einen miteinander, so dass ich es eines Abends wagte zu fragen:“Warum bleibst du eigentlich immer bei mir und fährst nicht weiter, wie wie die anderen?“ Da zog Schmerz in sein Gesicht und Tränen bildeten sich in den Winkeln seiner Augen. Aus Diskretion wollte ich sein Zimmer verlassen, da rief er mir in der Türe zu:“Warte! …ich will es dir erzählen. Aber gebe nichts drauf: es würde dich in unsinnige und frevelhafte Grübeleien stürzen.“ Ich setzte mich auf den Hocker neben der Türe, auf den er mit seinem rechten Zeigefinger wies.Dann erzählte er mir: “In meiner Jugend – ich wohne gar nicht weit von hier – fühlte ich mich wohl. Das Haus meiner Eltern war mir vertraut. Ich liebte seine dicken Wände, seine riesigen Fenster, seine knarrenden Stiegen, ich liebte mein Zimmer, den Blick in den Garten, die Beete der Nachbarn. Es konnte passieren, dass ich tagelang am Fenster saß und gar nichts dachte. Eine stille Leere zog durch mein Gemüt und nichts hätte mich überraschen können. Meine Eltern waren gütig und rechtschaffen, so war es nicht verwunderlich, dass sie hin und wieder Leute von dem Weg bewirteten, gemütliche und rundgesichtige Männer, die weinseelig die Runde erheiterten, dann aber weiter zogen, mit winkenden Taschentüchern vom Obergeschoss noch lange sichtbar. Eines Tages kam ein fahler Mann auf einem weißen Pferd geritten. Er kränkelte und meine Mutter pflegte ihn im Gästezimmer. Doch er sollte nicht mehr genesen. Kurz vor seinem Tode ließ er mich an sein Bett kommen umd sagte – ich konnte es kaum verstehen -:’Das Pferd, Junge, töte das verfluchte Pferd. Töte es schnell und achte nicht auf Deine Gefühle, töte es, sonst…‘ So viel verstand ich, dann sank er tot in die Kissen. Ich suchte nach dem Sinn seiner Worte und grübelte im Fenster. Draußen sah ich das Pferd auf der Wiese, und dann überkam mich der drängende Wunsch, die unbezähmbare Lust, mich auf seinen Rücken zu schwingen, in der Mähne festzuhalten und ohne Sporen und Sattel durch die Lüfte zu galoppieren. Zu eng schien mir mein Zimmer, das Haus die Welt, mein Herz schlug bis zum Hals und ich stürzte die Treppe hinunter auf die Wiese auf das Pferd. Die erste Station meiner Reise war Dein Gasthof. Alles war neu für mich, und ich ahnte, was ich zu Hause versäumt hatte. Die vielen neuen Dinge! Die außerordentliche Buntheit! Die Aussichten für die Zukunft! So dachte ich mir und fand kaum Schlaf in diesem Zimmer. Zunächst wollte ich Deinen Gasthof genau kennen lernen. Doch das war schwieriger, als ich dachte. Schon am nächsten Morgen musste ich feststellen, dass meine Nachbarn, die ich noch nicht gesehen hatte, abgereist waren: ein unersetzlicher Verlust und nie wieder gut zu machen. Jeden Tag sah ich neue Gesichter, zu kurz, um sie zu begreifen, zu lang um das vergessen zu können. Mit jeder Jahreszeit veränderten sich die Bilder und Plakate in der Vorhalle, es war gar kein Ende abzusehen. Die Mode änderte sich, die Autos wurden schneller, die Mädchen frecher. Niemals, niemals würde das aufhören. Der Gedanke, dass ich bei all diesen Veränderungen nur einen winzigen Teil der Welt, nämlich Dein Gasthaus, sehe, wieviel noch vor mir am Weg liegt, wieviel Unerledigtes ich aber zwangsläufig zurücklassen müßte, um weiterzufahren, machte mich so verrückt, dass ich mich manchmal nicht rühren möchte, damit ich einen kleinen Moment Ruhe habe. Aber es gibt soviel zu tun. Vielleicht verstehst Du nun auch, warum.
ich mir die Tagesschau nicht ansehe. Nur ihre Fanfaren, die jeder Abend um die gleiche Zeit erklingen, vermögen mir kurzfristigen Trost zu geben.“