7-Freiheit als Zweck der Geschichte (besteht darin, sich von immer weniger imponieren zu lassen)

Geschichte ist die Befreiung des Menschen von jeglicher Form der Obrigkeit durch  Herausstellung ihrer inneren Widersprüche, der Grundlosigkeit und Unlogik von Machtverhältnissen. Bedroht wird die Freiheit dabei niemals durch Pflichten, sondern durch die Bewunderung und Zeitopfer für Autoritätspersonen. Sie besteht in der Weigerung, diese mit Ganzheit oder Selbstsicherheit auszustatten. Sie ist die Weigerung, irgendjemand als vollkommenes Wesen zu behandeln. Die Geschichte endet mit dem Erreichen der Freiheit. Jedoch verstört sie den Menschen, und er fängt an, von neuen Autoritäten zu träumen.

Für Hegel besteht die Geschichte in einer mählichen Zunahme und Entfaltung von Freiheit, allerdings nicht im liberalen oder romantischen Sinn der Besiegung gesellschaftlicher Einflüsse. Hegels Freiheit hat nichts Ursprüngliches, sondern entspringt der Befragung des unmittelbaren Eindrucks der Welt, weil der Mensch als Geist nicht ein Unmittelbares ist, sondern wesentlich ein in sich Zurückgekehrtes. Diese Bewegung der Vermittlung ist so das wesentliche Moment der geistigen Natur; dadurch wird der Mensch selbständig und frei. VORLESUNG ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER WELTGESCHICHTE


Vermittlung oder Erwägung steht in erster Linie nicht unseren natürlichen Neigungen im Weg, sondern ermöglicht vorher nicht bestehende Freiheit. Die dafür nötige gedankliche Arbeit legt bei jedem Versuch zu klären, was es mit einer Sache auf sich hat, Widersprüchliches frei, weil eine Bestimmung immer auch mit dem verstrickt ist, was sie nicht meint, und so, um etwas zu sagen, abhängt von ihrer Verneinung. Nichts ist ausschließlich das, was es ist. Hegel stellt die Eigenwilligkeit seiner Logik gegen die Regeln formalen Denkens: Dieses macht sich . . . den bestimmten Grundsatz, das der Widerspruch nicht denkbar ist; in der Tat ist aber das Denken des Widerspruchs das wesentliche Moment des Begriffs. WISSENSCHAFT DER LOGIK Hegels Vernunft zeichnet es insbesondere aus, den Widerspruch, der allem zugrunde liegt, zu denken oder aufzufassen – und ausdrücken zu können, wie alles Sein notwendigerweise durcheinander geworfen ist mit dem, was es verneint. Indem am Ende der Gedankenarbeit herauskommt, dass man sich gewiss auf gar nichts berufen kann, weil selbst Gott verschlungen ist mit dem, das ihn (am Kreuze) durchstreicht, und wenn endlich klar wird, dass wir alle (mit Gott . . .) im selben Boot sitzen infolgedessen, dann stellt sich – laut Hegel – Freiheit ein.


Es gibt für den einzelnen, indem er entdeckt, dass es „keinen Weihnachtsmann“ (kein Sein ohne Widerspruch) gibt, kein höheres Ziel mehr als seine Freiheit: sie ist das Produkt dieser Entdeckung. Aber für den Willen ist kein anderer Zweck als der aus ihm selbst geschöpfte, der Zweck seiner Freiheit. Es ist ein großer Fortschritt, daß dies Prinzip aufgestellt ist, daß die Freiheit die letzte Angel ist, auf der der Mensch sich dreht, diese letzte Spitze, die sich durch nichts imponieren läßt, so daß der Mensch nichts, keine Autorität gelten läßt, insofern es gegen seine Freiheit geht. VORLESUNGEN ÜBER DIE GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE III, 367

Entscheidend für Hegels Bestimmung der Freiheit ist die Weigerung, „Autorität gelten“ zu lassen. Der freie Mensch sieht in Autoritätspersonen vielmehr Mitmenschen, die mit denselben Widersprüchen zu kämpfen haben wie er selbst. Deswegen nähern wir uns dem Ende der Geschichte, dem Eintritt von etwas Abschließendem, das nie wieder rückgängig gemacht werden kann, womöglich auch nicht, wie Hegels fabelhafte Deuter Fukuyama oder Kojève meinten, mit dem Abflauen politischer Kämpfe oder durch eskalierenden Respekt voreinander, sondern – eher umgekehrt – mit zunehmender Respektlosigkeit, einem „Zauberer von Oz“-Moment. Frei wird der Mensch, wenn er zu nichts und niemandem mehr aufschaut, also keine Rettung durch Autoritäten mehr erwartet, weil ihm klar wurde, dass überall nur mit Wasser gekocht wird und selbst die unbelebte Natur von denselben Widersprüchen bestimmt ist, die einem selbst zu schaffen machen.


Psychoanalytisch gesehen, bestünde das Ende der Geschichte dann in der Emanzipation des Unbewussten. Denn der unfreie Mensch lebt in dem Wahn, andere hätten gar kein Unterbewusstsein und seien ihm deswegen überlegen. Wir zollen in diesem Fall übermäßige Anerkennung und erwarten mehr von anderen, als sie je einzulösen in der Lage wären. Was den Star so unfrei macht wie seinen Fan.


. . . in der Tat aber ist das Denken des Widerspruchs das wesentliche Moment des Begriffs. WISSENSCHAFT DER LOGIK II 563 – und da die Welt uns zunächst in Begriffen erscheint, werden wir wahrhaft frei erst durch den Nachvollzug ihrer Disparität, der Einsicht etwa, dass nicht allein das Bewusstsein bestimmt, was bei einer Person der Fall ist, sondern dessen Auseinandersetzung mit dem Unbewussten.


Das Unbewusste wird zwangsläufig mit dem Einsetzen eines Begriffs hervorgerufen als all das, was dieser, um zu verfangen, ausgrenzen muss und dadurch schattig zeugt. Heute zeigt es sich etwa im Bild aller Spuren, die jemand im Internet hinterlässt, oder im Inhalt passwortgeschützter Ordner. Die Freiheit, in welcher nach Hegel die Geschichte gipfelt, entsteht aus dem Durch-nichts-Imponieren infolge der Einsicht, dass jeder, nicht nur man selbst, auch durch passwortgeschützte Inhalte bestimmt ist. Die gesellschaftlichen Utopien vor Hegel und im Grunde auch wieder nach ihm, woll(t)en hinaus auf eine widerspruchsfreie Welt mit Menschen „ohne Unterbewusstes“, das ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Hegel zeigt dagegen auf das Christentum, in welchem selbst Gott dem Widerspruch zum Opfer fällt, der sich in seinem Tod am Kreuz als spontaner Grund allen Seins aufspreizt.


Die Freiheit besteht danach in der Erkenntnis, dass es nichts auf der Welt gibt, insbesondere keine anderen Menschen, weder Queen noch Papst, das würdigere Spuren im Internet hinterlassen würde als man selbst. Die Vorstellung ist so ernüchternd wie entlastend, ein „Zauberer von Oz“-Moment, und bahnt das Ende der Geschichte – voller Selbsttäuschungen, Überschätzung der Welt und ihres Planes – an.


Geschichte als finaler Vorgang würde sich so gesehen entwickeln durch das ständige Abnehmen der Überschätzung von Autoritäten und gipfeln in der Erkenntnis, dass wir alle – samt Gott oder seiner Nachahmungen – im selben schwankenden Boot sitzen. Diese Erkenntnis ist – nach Hegel – die Quelle der Freiheit, und über das Wahr-Werden ihres Inhaltes hinaus kann sich nichts mehr entwickeln. Deswegen stellt sich mit ihr ein: das Ende der Geschichte.


Eine Nachahmung Gottes, welche dem Tod am Kreuz noch aus dem Weg geht, sind wahrscheinlich die Naturwissenschaften mit ihren Weiterungen unten den Stichworten „Kognition“ oder „k.I.“. Während die Physiker in unauflösbare Widersprüchlichkeiten am Grunde der Materie vorgedrungen scheinen, signalisieren beispielsweise die Genetiker den Fund des Steines der Weisen und behaupten damit eine allesbeantwortende Position, die nach Hegel nicht haltbar sein kann, weil sie den Widerspruch am Grunde des Seins ausschließt.


Die streng naturwissenschaftliche Betrachtung verunmöglicht Freiheit, indem gewisse Kräfte vorgestellt werden, denen aus gleicher Quelle nichts „Unbewusstes“ in die Quere kommen kann: unversehrte Autoritäten, die Zuflucht gewähren im Getümmel modernen Freiseins. Ins selbe Register gehören alle Algorithmen zur Entspannung der Zukunft.


Das Ende der Geschichte bedeutet nicht das Ende der Politik. Denn nun geht es nicht mehr um Freiheit, sondern die Umsetzung ihrer Möglichkeiten, die auch jenseits von Kapitalismus oder Kommunismus auf Verwirklichung warten.


Die Zwecke eines endlich freien Menschen sind freilich immer untergraben – sonst wär er keiner – von dem, das sie in Frage stellt. Die wahren Früchte des Freiseins fallen für Hegel daher woanders ab – durch die List der Vernunft.


Daß der Zweck sich aber in die mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und dasselbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft angesehen werden. WISSENSCHAFT DER LOGIK II 452


Es sind die Mittel, das Tun und seine Werkzeuge zwischen Wunsch und Zweck, welche das wesentliche Moment der geistigen Natur darstellen.


Insofern ist das Mittel ein Höheres als die endlichen Zwecke der äußeren Zweckmäßigkeit; – der Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind. 453


Unsere Zwecke können noch so ausgehöhlt oder vergeblich sein, die Mittel werden davon nicht betrübt. In ihrer Ausübung fühlt sich ein Mensch, seiner Sache gerecht werdend, bedeutend.


Die Freiheit lebt letztendlich daher auf weniger in der Fähigkeit, mögliche Zwecke zu wählen, sondern Mittel anzuwenden zu deren Verwirklichung. Es leitet einen dann weniger das – stets kompromittierte – Ziel als eine gewisse Praxis, welche es rechtfertigt. Das Werkzeug wird teurer als sein Produkt. Ohne diese „List der Vernunft“ würde der Mensch nie ganz frei.


So erhellt endlich auch besser der berühmt-„problematische“ Satz aus der VORLESUNG ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE 49 über die List der Vernunft, welche die menschlichen Leidenschaften für sich wirken lässt . . . die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus der Leidenschaft der Individuen.


Die Vernunft gebraucht nicht die Individuen, um ihre Zwecke zu fördern, sondern besteht in den verwendeten Mitteln zu ihr gleichgültigen Zwecken, die selbst niemals frei sind. Freiheit erfahren wir durch die Mittel, sie umzusetzen.