5-Innigkeit von Liebe und Begriff (Hegels Berufung)

Liebe ähnelt der Logik (des Widerspruchs), insofern zwei Selbste (Liebende) einswerden, während sie zwei bleiben. Die Entsprechung von Liebe und (Hegelscher) Logik bahnt eine neue Philosophie an. Das Innige von Einheit und Unterschied, seine widersprüchliche Identität  zeigt Hegel den Weg aus der Sackgasse Kants und Fichtes. Hegel kann als erster den Widerspruch denken, weil er die Liebe denkt. Während das Judentum die Religion des Gesetzes ist, der Kantianismus die Philosophie der Pflicht, ist das Christentum die Religion der Liebe. Die Vernunft wird zur Liebe, wenn wir einsehen, dass sie nach dieser geformt ist.

 

Die Liebe ist daher der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann, indem es nichts Härteres gibt als diese Punktualität des Selbstbewußtseins, die negiert wird und die ich doch als affirmativ haben soll. GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS § 158


Der Verliebte macht einen Strich durch seine Person.


Er verleiht dem Geliebten mehr Bedeutung als sich selbst und bleibt zugleich die Quelle dieser Aufwertung. Durch sein Tun stuft er sich selbst herab gegenüber dem anderen. Liebe verwandelt somit Fremdheit in eine innere Spannung zwischen mir und dem, was mich einnimmt.


Hegel sieht in solchem Widerspruch – zwischen innigen Gegenteilen – nicht nur den Grund allen Denkens, sondern des Seins schlechthin. Liebe veranschaulicht und füllt sofern aus, was Hegel unter BEGRIFF versteht: Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie.


Das Allgemeine ist daher [im Begriff] die freie Macht; es ist es selbst und greift über sein Anderes über; aber nicht als ein Gewaltsames, sondern das vielmehr in demselben ruhig und bei sich selbst ist. Wie es die freie Macht genannt worden, so könnte es auch die freie Liebe und schrankenlose Seligkeit genannt werden, denn es ist ein Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen nur als zu sich selbst; in demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt. WISSENSCHAFT DER LOGIK II, 277


Hegels BEGRIFF ist nicht berechnend, sondern geladen, indem er nicht alleine, sondern in Spannung zu dem entsteht, was ihn verneint. (Ich verstehe nur, was „schnell“ ist, wenn ich um „langsam“ weiß – „Freundlichkeit“ impliziert „Grobheit“, ihr Gegenteil, „Goßzügigkeit“ | „Geiz“ usf.) Um etwas zu bedeuten, muss ein Begriff – gleich der Liebe – innig sein mit dem, was er nicht ist. Sähe er davon ab, würde sein Inhalt verblassen wie eine Liebe ohne Geliebtes.


Ein Begriff wird sinnlos ohne sein Gegenteil.


Der Begriff Natur z. B. muss auch alles Unnatürliche meinen, das durch ihn erst bedeutend wird. Es mag dann sogar ein Punkt erreicht werden, an dem der Unterschied zwischen den beiden zusammenbricht (Genmanipulation, Geschlechtsumwandlung – so natürlich wie unnatürlich).


Widersprüche sabotieren den BEGRIFF nicht, sondern laden ihn auf.


Es ist überhaupt aus der Betrachtung der Natur des Widerspruchs hervorgegangen, daß es für sich noch sozusagen kein Schaden, Mangel oder Fehler einer Sache ist, wenn an ihr ein Widerspruch aufgezeigt werden kann. Vielmehr jede Bestimmung, jedes Konkrete, jeder Begriff ist wesentlich eine Einheit unterschiedener und unterscheidbarer Momente, die durch den bestimmten, wesentlichen Unterschied in widersprechende übergehen. WISSENSCHAFT DER LOGIK II, 79


BEGRIFF verdankt sich der Inkraftsetzung des Widerspruchs. Darin liegt die Radikalität von Hegels Denken, das sich seiner Entdeckung des Vorbilds (für Begriff) in der Liebe verdankt.


Hegel unterscheidet begriffliches von lieblosem (zerlegendem) Denken. Begriffliches Denken hegt eine Spannung zwischen verschiedenen Dingen, duldet kein Fremdsein. Es ahnt etwas Inniges zwischen Gegenständen und macht deren Abhängigkeit voneinander deutlich. Oberflächliche Unterschiede überdecken fruchtbare Spannung, abgesondert voneinander kann nichts gedacht werden oder bestehen.


Der zerlegende Verstand dagegen bezieht die Dinge nicht aufeinander und deutet Gespanntsein als Merkmal der Verschiedenheit. Hegels Paradebeispiel für liebloses Denken ist das Rechnen.


Um der Gleichgültigkeit des Verknüpften gegen die Verknüpfung, der die Notwendigkeit fehlt, willen befindet sich das Denken hier in einer Tätigkeit, die zugleich die äußerste Entäußerung seiner selbst ist, in der gewaltsamen Tätigkeit, sich in der Gedankenlosigkeit zu bewegen und das keiner Notwendigkeit Fähige zu verknüpfen. WISSENSCHAFT DER LOGIK I, 244


Rechnen ist nicht begrifflich, da es die Beziehungen seiner Gegenstände unverändert lässt. Es erlaubt – im Gegensatz zum Lieben | Begreifen – ihren Ersatz. Sobald jemand Auswechslung für möglich hält, wissen wir: er ist nicht verliebt.


Begriffliches Denken handhabt das Fremdelnde nicht, sondern geht auf es ein, solange es sich widersetzt. Im Liebesakt scheitert die Auflösung des anderen in meiner Nämlichkeit – bei der Vernunftbildung seine Vereinnahmung durch den Begriff. Unzulänglichkeit prägt Liebe und Begriff, die damit einstehen für jene Weise, in welcher jede Identität durch ihr Gegenteil untergraben wird.


Hegel sieht als erster im Unvermögen des Begriffes, sein Gegenteil einzuheimsen, den eigentlichen Erfolg: dass es keine Gelingen über die Grundspannung hinaus geben kann. Zu dieser Erkenntnis gelangt er am Leitfaden der Liebe – statt Mathematik – zur Begriffsbildung. Das Gefestigte ist ein Traum, denn die Wirklichkeit spannt sich im Widerspruch. Jede Liebesbeziehung, jeder Begriff missrät auf seine besondere Weise, die sie oder ihn so markant macht.


Weder die Liebe noch der Begriff versprechen ein Aufgehen der Bestandteile ineinander, die sie im Widerspruch halten. Die Disparität des ANDEREN verdreht den Kopf in der Liebe wie im Begriff. Solch Unruhe aber birgt revolutionäres Potential. Es ist riskant, sich zu verlieben: selbst eine gelingende Beziehung legt immer das, was die Befriedigung des einen erreicht, in die Händen des anderen.


Das Abenteuer der Liebe ist ähnlich strukturiert wie das Risiko des Begriffes. Denn dieser übt keine Macht aus über die Wirklichkeit, sondern ist ihr ausgesetzt, weil Begriffe – für Hegel – mehr als Gemütsfäden sind. Rein als Gedanken glichen sie platonischen Liebesbeziehungen und wären ähnlich unbefriedigend. So wie der Verliebte allen Mut zusammennehmen muss, um den Geliebten anzusprechen, muss der Begriff sich der Wirklichkeit aussetzen. Das Schicksal seines Bestrebens gehört zum Wesen des Begriffes. Um Begriff zu sein, muss dieser wahr werden wollen.


Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens. FRÜHE SCHRIFTEN, 243


Wenn man sich in jemanden verliebt, spiegelt man sich nicht in ihm, sondern erlebt ihn als Durchkreuzung seines Selbsts.


Erst durch die Liebe ist die Macht des Objektiven gebrochen, denn durch sie wird dessen ganzes Gebiet gestürzt; die Tugenden setzen durch ihre Grenze außerhalb derselben immer noch ein Objektives, und die Vielheit der Tugenden eine umso größere unüberwindliche Mannigfaltigkeit des Objektiven; nur die Liebe hat keine Grenze. DER GEIST DES CHRISTENTUMS UND SEIN SCHICKSAL 363


Liebe ist deswegen grenzenlos, weil sie sich mit etwas Hinzudrängendem identifizieren kann, ohne es zu vereinnahmen. Sie veranstaltet und wahrt den Widerspruch, die Nämlichkeit von Selbst- und Anderssein, dessen Spannung sie belebt, nicht zerstört. Ganz anders im Falle der Pflicht-Ethik. Weil deren Wirklichkeit nie mit den Erwartungen übereinstimmt, bleiben die Vorstellungen stets unbefriedigt. Dieser Widerspruch führt zu einer ständigen Zersetzung der Pflicht, die ihn nicht versöhnen kann. Liebe ist in genau diesem Punkt erfolgreich: weil sie vom Widerspruch kostet, sogar ihr Wesen in ihm ausmacht.


Liebe ist möglich, indem die Neigung zum Anderssein schon Teil des Stolzes des Liebenden ist. Sie stellt die Verschiedenheit heraus.


Liebe deinen nächsten als dich selbst, heißt nicht, ihn so sehr zu lieben als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn. DER GEIST DES CHRISTENTUMS UND SEIN SCHICKSAL 363


Der Liebende erlebt den anderen, indem derselbe ist wie er, nicht mehr, nicht weniger. Nur wer mir gewachsen ist, kann meinen Stolz mit seinem Bild durchsetzen. Es ist daher unmöglich sich selbst zu lieben, weil Liebe im Eingehen auf anderes entsteht, dem mein Selbst vielmehr Platz machte.


In seinem Aufruf vor allem zur Liebe verlangt das Christentum, sich mit dem auseinander zu setzten, das einen durchstreicht. Liebe ist die Erfahrung dieser Auseinandersetzung. Die sich ebenso im BEGRIFF verwirklicht. Er stellt uns die Widersprüche der Subjektivität und der Welt zur Verfügung, welche das Subjekt bewohnt. Vernunft ist dabei unserer Fähigkeit, das Nämliche von Identität und Anderssein aufzufassen. Wir denken den Widerspruch kraft der Vernunft. Vernunft ersetzt die Liebe, wenn wir sehen, wie sie deren Vorbild entspricht.