Wie der Krimi heute die Fiktion beherrscht und was das heißt

Um den Krimi zu verstehen, muss man zunächst das Wesen der Ironie nachvollziehen. Ironie beherrscht heute das Erzählerische überhaupt.

Ironie ist Tiefstapelei, die Vortäuschung von Einfalt. Ironie missbilligt jede Form der Behauptung. Der Ironiker meint immer mehr, als er sagt. Worauf es ankommt, wird nicht ausgesprochen, sondern steht zwischen den Zeilen.

(Den ironischste Aussageweise überhaupt enthält das Drehbuch. Weil in ihm nur stehen kann, was sich abfilmen lässt: raum-zeitliche Gegebenheiten. Ihr Untertext ist nicht dingfest zu machen, sondern muss vom Leser – oder in aufdringlichen Dialogen – hinzugefügt werden.)

Der ironische Autor nimmt das Leben so, wie er es findet, neigt daher zur Alltäglichkeit, zu schmucklosen Gegenständen, nüchternem Realismus.

Die Glut des Sommers hat mich so verändert,
gab ich zur Antwort.
Aber die Tränen rannen über mein Gesicht.

– Haiku von Nishiyama Soen


April ist der grausamste Monat, brütet
Flieder aus totem Grund, mischt
Erinnerung mit Sehnsucht, weckt
Taube Wurzeln mit Frühlingsregen.
Der Winter hielt uns warm, bedeckte
Die Erde mit achtlosem Schnee, fütterte
Das karge Leben mit strohigen Knollen.
Der Sommer überfiel uns, vom Starnberger See kommend,
Mit einem Regenschauer; wir hielten inne unter den Kolonnaden
Und gingen ins Sonnenlicht, in den Hofgarten,
Und tranken Kaffee, und plauschten ein Stündchen . . .
– T. S. Eliot, The Waste Land

Es war Mitte Oktober, gegen elf Uhr vormittags – ein Tag ohne Sonne, mit Aussicht auf einen harten, scharfen Regen in der Klarheit der Vorberge. Ich trug mein lichtblaues Jackett mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Hosen und schwarze, weiche Wollsocken mit blauen Zwickeln.

– R. Chandler, Der tiefe Schlaf

The hills across the valley of the Ebro were long and white. On this side there was no shade and no trees and the station was between two lines of rails in the sun. Close against the side of the station there was the warm shadow of the building and a curtain, made of strings of bamboo beads, hung across the open door into the bar, to keep out flies. The American and the girl with him sat at a table in the shade, outside the building. It was very hot and the express from Barcelona would come in forty minutes. It stopped at thisjunction for two minutes and went to Madrid.

– E. Hemingway, Hills Like White Elephants

Aussageformen müssen nicht ironisch sein. Sie können statt dessen z. B. rauschhaft sein oder schwermütig, niederschmetternd, schwülstig. Sie können durchdacht statt ironisch sein, beschaulich, forsch, ausgekocht usf.

Heute aber sind sie meistens ironisch. Und deswegen haben wir auch fast nur noch Krimis, die Ironie-Stücke fürs Volk.

Um zu entschlüsseln, warum, müssen wir erst sehen, wie Geschichten grundsätzlich zerfallen in die tragische oder komische Spielart. Eine tragische Geschichte erzählt, wie ein Person infolge ihrer Abtrennung aus der Gemeinschaft zugrunde geht. Die komische Geschichte erzählt, wie eine außer Rand und Band geratene Gemeinschaft wieder zu sich kommt.

Entsprechend gibt es die ironische Tragödie. Und die ironische Komödie – deren Hauptspielart heute der Krimi ist.

Wie der Krimi die ironische Komödie einnimmt, wird klarer, wenn man sich zunächst der ironischen Tragödie zuwendet.

Die ironische Tragödie zeigt, wie eine Person aus der Gemeinschaft getrennt und zugrunde gerichtet wird. Was immer es für Gründe oder Erklärungen für den Ausstoß aus der Gemeinschaft geben könnte, sie bleiben in der für die ironische Aussageweise typischen Art unausgesprochen. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (F. Kafka Der Prozeß). – (Auch der Tod des Sokrates oder Christi ist in diesem Sinne ironisch.)

Das typische Opfer der ironischen Tragödie ist der Sündenbock oder Angehörige einer verfolgten Minderheit oder Einzelgänger (Künstler). Er ist unschuldig, indem er etwas hervorrief, das größer war, als seine Absicht (wie ein Bergsteiger, dessen Ruf eine Lawine auslöst). Und er ist schuldig: als Mitglied einer Gesellschaft, die solche Folgen unausweichlich macht.

Die ironische Komödie schlägt sich angesichts derselben Lage auf die Seite der Gesellschaft, welche den Schädling zu ihrer Rettung ausstößt. Dabei geht es ihr um das Gefühl der Erleichterung, das einen erfasst, wenn man den Bösewicht bestraft und leiden sieht.

(Ein zweischneidiges Schwert, denn die Rache der Gesellschaft an einem einzelnen lässt diesen leicht weniger schuldig, die Gesellschaft dagegen stärker schuldig erscheinen . . .)

Die gröbsten Formen der ironischen Komödie bestehen durchaus darin, einem unschuldigen Opfer Schmerz zuzufügen, jemandem, der einfach nur herumsteht, auf Verdacht eins zu verpassen. Er wird es schon verdienen, einfach weil er einer Gesellschaft angehört, in welcher es im Grunde jeder verdient. Aus dem Reich der Fiktion springt dieser Trieb, wo die Verhältnisse sich auflösen, herüber in den Impuls des Lynchmobs.

Als Beispiel zeigt ich hier auf Teds Verhör in Verrückt nach Mary. Zum Schluss wird der ahnungslose und unschuldige Ted brutal zusammengeschlagen, der stärkste Lacher des gesamten Films. – Weiteres Beispiel: Im Alter von 16 Jahren hatte sich Lisa Loch 2001 bei einer Miss-Wahl zur Miss Alemania beworben, über die das RTL-Magazin Explosiv berichtete. Unter anderem wurde sie mit den Worten „Mein Name ist Lisa Loch und ich bin 16 Jahre alt“ zitiert. Dieser Filmausschnitt wurde von TV total auf ProSieben verwertet. In mehreren Sendungen machte Raab Bemerkungen über den Namen Loch, die der Münchner Merkur als „versaute Witze“ bezeichnete. Loch erfuhr dadurch Hänseleien durch ihr Umfeld, wurde telefonisch belästigt und auf offener Straße beleidigt. In der Folge begab sie sich in therapeutische Behandlung.

Die ironische Komödie holt das Barbarische in den Bereich der Fiktion und spielt dort mit dem menschlichen Opfer (das Gelächter befreit uns dabei vom Unangenehmen | Grässlichen).

Ihre populärste Spielart jedoch ist im Moment der Krimi, in welchem ein Menschenjäger ein Opfer bestimmt, dessen sich dann die Gesellschaft entledigt. Ausgesprochen ironisch: das verschärfte Interesse des Krimis für Einzelheiten, die langweiligsten und nebensächlichsten Geringfügigkeiten des täglichen Lebens, in welche eine geheimnisvolle, unausgesprochene Bedeutung gelesen wird.

Die unschlüssige Hand sozialer Gerechtigkeit schwebt über etlichen „Verdächtigen“ und lässt sich schließlich auf einem von ihnen nieder. Dass es sich dabei in Wirklichkeit um ein blindlings ausgewähltes Opfer handelt, erhellt aus dem Indizienbeweis, welcher einer Deutung (Manipulation) vorliegender Tatsachen entspringt.

Mit zunehmender Brutalität (lizensiert durch die Konventionen der Form, nach welchen es unmöglich ist, dass der Menschenjäger sich irrt in der Identifizierung des Auszustoßenden) mutiert der Krimi zum Thriller, eine Form des Melodramas (Komödie ohne Gelächter) mit dessen typischem Triumph der Tugend über Schurkerei zur Idealisierung von beim Publikum vorausgesetzten moralischen Anschauungen. Im Melodrama des brutalen Thrillers kommen wir der Selbstgerechtigkeit des lynchenden Pöbels so nahe, wie es normalerweise der Kunst überhaupt möglich ist.

Liefert insofern aber der Krimi nicht – in seiner Entwicklung zum Melodram vor allem in Skandinavien – die Vorschußpropaganda für einen Polizeistaat als Regulativ der Ausfälle des Pöbels?

Das ironische Substrat jeden Krimis kann auch die Absurdität einer Fixierung des Feindes einer Gesellschaft außerhalb derselben implizieren. So steht die Entwicklung offen zur Satire, die den Feind einer Gesellschaft als eine Figur innerhalb derselben bestimmt. Damit haben wir aber die Domäne des Krimis verlassen.

Ein populäres nicht-ironisches Genre, das den Krimi ablösen oder wenigstens ergänzen könnte, wäre die Science fiction, wo sie Lebensformen vorstellt, welche unsere gegenwärtigen überbieten. Es könnte Sinn machen, zumindest einen einzigen Sendeplatz für dieses Format zu reservieren und ihm dort Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln. Statt eine x-te Krimi-Serie aufzulegen und mit ihr das zu stabilisieren, was ich weiter oben aufzeige.