Dass ausgerechnet die besten Autoren am dringendsten vor dem Lesen warnen: Cervantes, Flaubert, Tolstoi – Dante lässt die Leser in der Hölle schmoren! Seltsam. Aber ich fange an zu verstehen, was sie meinen, wenn ich mich an eine Episode aus meiner Studentenzeit erinnere. Ich besuchte damals an Wochenenden das Land-Theater, an dem mein Vater sein Leben lang inszenierte, im Sommer was Lustiges für die Freilichtbühne, im Winter was Ernstes (meist den Urfaust) für die Minibühne neben der Kamin-Bar. Ich liebte dieses Theater noch aus der Kindheit, die hier die beste war: unserer Eltern spielten auf der Bühne, wir in den Wäldern ringsum, alle Familien lebten unter einem Dach, eigentlich eine Art Kommune, wenn auch diesem Begriff damals erst noch bevorstand, in Schwang zu geraten. Später dann auf Besuch schlief ich nach Studentenart meist bis Mittags. Und wurde Mo.-Fr. zweimal geweckt von lautem Kindergebrüll. Das war die Doppelvorstellung des Räuber Hotzenplotz auf der Freilichtbühne am Vormittag. Aber das Geschrei? Und bei jeder Vorstellung zuverlässig nach 40 Minuten? Eines morgens schleppte ich mich herunter und lauerte neben der Bühne, welche Szene das Publikum dermaßen erregte. Da kam sie. Der Räuber wendet sich an die Zuschauer und sagt: „Kinder, gleich kommen Kasperle und Seppel, und ich verstecke mich jetzt hinter diesem Busch und überfalle sie. Und wehe einer sagt was!“ Gesagt, getan. Kasperle und Seppel tauchen auf. Das Publikum explodiert. Kasperle und Seppel geben sich begriffsstutzig: „Waaas sagt ihr da?“ Die ersten Kinder eilen vor zur Bühne. Eine rotgesichtiges Mädchen klettert erregt herauf, um die beiden persönlich zu warnen. Ihr Bild hat sich mir bis heute eingeprägt: kleine Emma Bovary, rasend gemacht von den Taschenspielertricks der Erzähler. Diese wünschen sich natürlich so ein Publikum, sind dann aber doch betroffen, wenn sie es wirklich erblicken.
Dramatische Ironie
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