Der vollkommenste Tag der Welt

Es war gegen Ende meiner Landstreichertage, wenn man mich fragte, in welchem Jahr, welchem Monat, an welchem Nachmittag, ich wüsste keine Antwort. Ich kann nur sagen, dass es der vollkommenste Tag der Welt war, und dass ich ihn deswegen im Gedächtnis bewahrt habe, jenseits von Zeit und Wirklichkeit. Jeder Mensch hält so einen Tag in Ehren, in den er sich zurückziehen kann, wenn die Jahre verzweifelter werden. Für jeden ist es ein anderer Tag. Für manchen ist es die Erinnerung an eine Frau, oder an eine verklingende Melodie, oder an die glückstrunkene Nacht an einem Casino-Tisch im flüchtigen Wahn, das Spiel des Lebens gewonnen zu haben.
Auch gehört der vollkommenste Tag nur einen selbst. Wer einem Gesellschaft dabei leistete, wird sich nie in derselben Weise erinnern; wenn er sich überhaupt an etwas erinnert. Es ist ein Tag, der ausschließlich einem selbst gehört. So denke ich an meinen eigenen Tag. Ich erinnere mich nicht mehr meiner Begleiter, wenn ich damals überhaupt ihre Namen wusste. Ich erinnere mich nur, dass wir zu viert waren. Von all den Städten und Bahnhöfen dieser Jahre waren wir irgendwo in Kansas, im Weizen. War’s in Norton, war’s in – nein, ich glaube, es muss in Philippsburg gewesen sein. Wie wir schwärmende Herbstvögeln zusammengekommen waren, weiß ich nicht mehr. Es war ein zufälliges Treffen unter dem Wasserturm eines Verlade-Bahnsteigs an einem vollkommen verschwendeten Tag.
Die Stadt war klein genug, um uns gleichgültig zu sein. Von etwas Kleingeld hatten wir Trauben-Sprudel aus der Fabrik ebendieser Stadt gekauft. Wir tranken ihn langsam, genüsslich, und fanden es großartig, im Schatten eines Wassertanks ausgestreckt auf den unebenen Planken des Verlade-Bahnsteigs zu dösen. Ich weiß nicht, ob wir nach Osten oder Westen unterwegs waren oder von welchem Zug wir gesprungen waren, oder worauf wir warteten. Wir waren einfach da, Wandervögel, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Begehr.
Wir räkelten uns in der Makellosigkeit unserer Jugend und Gesundheit, rußig vom Lokomotivenrauch, geschwärzt von der Sonne vieltausender Meilen. Wir lachten, spannten aus, und die Welt konnte auf uns warten. Die Welt kann immer auf einen warten, wenn man jung ist. Es schickte sich damals nicht, jemand zu fragen, woher er kam und wohin er wollte. Meistens wollte er nirgendwo hin, egal wie weit oder wie schnell er bis jetzt gereist war. Was ihn umtrieb, ging niemanden etwas an; er hätte ein Dieb sein können, ein Revolverheld oder einfach nur vom Pech verfolgt. In den nächsten 48 Stunden mochte er unter einen Zug fallen und sterben, oder das Gesetz wartete hinter dem Horizont auf das Ende seiner Glückssträhne.
Nein, es gab keinen Grund für irgendeinen von uns, sich zu beeilen. Es gab wichtigeres. Auf den unebenen Planken, auf denen wir palaverten und dösten, waren wir in Abrahams Schoß. Unterschwellig spürten wir, glaube ich, dass wir dem Zeitfluss entronnen waren, heimlich, unbemerkt. Es war Frühherbst, die Hitze nicht mehr drückend. Wir tranken den Sprudel – eine Flasche nach der anderen – wie Ambrosia, die Welt vergessend.
Ich war die Nacht zuvor auf einem Lokomotiven-Tender gefahren – mindestens das fällt mir ein, indem ich mich anstrenge -, und der Junge, der jetzt neben mir saß, war über das Dach des schnellen Zuges herangekrochen, um mir Gesellschaft zu leisten. Als ich ihn hinunterklettern sah, war ich vor Angst ins Schwitzen geraten. Ich war zu groß für solche Kunststücke an einem schlingernden Zug. Er war der einzige Mensch, den ich je mit solchem Schneid und solcher Wendigkeit, buchstäblich im Tanz mit dem Tode die Trittleiter eines rasenden Zuges hinaufwirbeln sah. Er war einer der vollkommensten Gleichgewichtskünstler, den ich je erblickt hatte, und ich dachte mir, er würde einen sehr guten Leichtgewichtskämpfer abgeben.
Dann war da ein Indianer, Mexikaner wäre vielleicht das bessere Wort, nur dass er wie jemand aussah, der mit Geronimo geritten sein konnte. Ein ganz und gar wildes Gesicht, das durch irgendeine genetische Laune aus der Eiszeit zu uns gekommen war. Er hätte einer von Attilas Männern oder mit den ersten Jägern über die Landbrücke nach Amerika gezogen sein können . . .


Loren Eiseley ALL THE STANGE HOURS

(übers. Martin Thau)