WIE BEDEUTUNG ENTSTEHT

Wittgensteins Vormarsch demonstriert, dass wissenschaftliche Herangehensweisen wie Logik, Mathematik, Naturgesetze usw. Abkömmlinge oder „Abmagerungen“ von etwas Bedeutenderem sind, das in GRAMMATIK, LEBENSFORM und NATURGESCHICHTE sowie im Sinnbild des SPRACHSPIELS zum Ausdruck kommt.

Die GRAMMATIK beinhaltet alle Möglichkeiten selbstverständlichen Sprechens und wird durch sonst nichts gerechtfertigt. Sie regelt, was es mit den Dingen auf sich haben kann, und verleiht einem so die nötige Freiheit, zu sprechen. Zugleich ist sie wie alles Zwischenmenschliche voller Fallstricke und Anreize, fehlzugehen, und die Aufgabe der Philosophie besteht – laut Wittgenstein – darin, solche Verirrungen, die ihr „Rohmaterial“ bilden, aufzulösen.

Wittgensteins Spätwerk, die Philosophischen Untersuchungen, ist voll von Beispielen besinnlicher Missverständnisse, die zum Beispiel in der Suggestion irreführender Bilder oder Gleichnisse bestehen, die einen verführen können, etwas zu sagen, was sich nicht sagen lässt, oder Bedeutungen zu erfinden, die es nicht gibt.

Als Beispiel seien hier – Philosophische Untersuchungen 345 zitierend – eine falsche Angabe über den Gebrauch der Wörter „manchmal“ und „immer“ sowie die Auflösung dieses Irrtums genannt: „,Was manchmal geschieht, könnte immer geschehen‘– was wäre das für ein Satz? Ein ähnlicher, wie dieser: Wenn ,F(a)‘ Sinn hat, hat ‚(x).F(x)‘ Sinn. ‚Wenn es vorkommen kann, dass Einer [sic!] in einem Spiel falsch zieht, so könnte es sein, dass alle Menschen in allen Spielen nichts als falsche Züge machten.‘ – Wir sind also in der Versuchung, hier die Logik unsrer Ausdrücke misszuverstehen, den Gebrauch unsrer Worte unrichtig darzustellen. Befehle werden manchmal nicht befolgt. Wie aber würde es aussehen, wenn Befehle nie befolgt würden? Der Begriff ‚Befehl‘ hätte seinen Zweck verloren.“

Die philosophische Untersuchung klärt hier das Verhältnis und den richtigen Gebrauch von „manchmal“ und „immer“: Was immer geschieht, kann nie manchmal geschehen, obwohl der Satz „Was manchmal geschieht, könnte immer geschehen“ oberflächlich Sinn macht und damit zur (falschen) Generalisierung von Einzelfällen verleitet.

Die Grammatik regelt das gewöhnliche Sprechen einer Gemeinschaft mit fundamentalen Gebrauchsmustern, deren alltägliches Funktionieren einen Sprecher trotzdem immer wieder auf Abwege bringt, ihn täuscht, ihm etwas vormacht. Die diesbezügliche Aufgabe der Philosophie besteht nach Wittgenstein nicht darin, irgendwelche Grundlagen oder Richtlinien nachzuliefern, sondern darin, die normalen Möglichkeiten einer Sprache dort, wo sie verschüttgegangen sind, wieder in den Blick zu rücken. Dies geschieht nicht durch Erklärungen, sondern durch Beispiele, Vergleiche, Umstellungen, welche die pathologisch gewordenen Stellen wieder beweglich oder „gesund“ machen (die Sprache wird mit anderen Worten nicht wie ein Algorithmus oder wie eine Maschine aufgefasst, sondern wie ein Organismus).

Das SPRACHSPIEL, in dem sich Menschen, Alltag und Sprache gegenseitig bedingen, wird in Wittgensteins Spätphilosophie zum Ursprung der Bedeutung.

Die Verstandestätigkeit entspringt hiermit zum ersten Mal im westlichen Denken nicht der Gegenüberstellung von Einzelnem und Gegenstand, welche der Philosoph versucht, aufeinander zu beziehen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen beginnen mit etwas, was sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es fällt, wenn man das Werk zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas zu entwickeln, das so offensichtlich zusammengesetzt ist wie das „Sprachspiel“, als Keimzelle der Besinnlichkeit.

Doch Wittgensteins Genie besteht genau in diesem Erkennen der dreifachen Wechselbeziehung – von Menschen, Umgebung und Sprache – als Ureinheit der Bedeutung. Dadurch erfüllt er den Traum eines jeden Philosophen, endlich hinauszukommen über das Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne dabei doppeldeutig werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch einer Welt gegenübertritt, darauf war vor Wittgenstein noch niemand gekommen.

Was er unter „Sprachspiel“ versteht, veranschaulicht Wittgenstein ab dem zweiten Paragrafen seiner Philosophischen Untersuchungen: „Denken wir uns eine Sprache […]. Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ‚Würfel‘, ‚Säule‘, ‚Platte‘, ‚Balken‘. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.“

Am wichtigsten hier: die „Vollständigkeit“, welche „aufzufassen“ einem geraten wird. „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen“, fügt Wittgenstein erklärend hinzu. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“

Weitere Sprachspiele, welche Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen anführt, sind nicht immer der Wirklichkeit entnommen, sondern manchmal als „Vergleichsobjekte“ erfunden worden, um die Aufmerksamkeit auf wichtige Merkmale zu lenken. Als existierende Sprachspiele zitiert er:

• Befehlen und nach Befehlen handeln

• Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen oder nach Messungen

• Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung)

• Berichten eines Hergangs

• Über den Hergang Vermutungen anstellen

• Eine Hypothese aufstellen und prüfen

• Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme

• Eine Geschichte erfinden und lesen

• Theater spielen

• Reigen singen

• Rätselraten

• Einen Witz machen, erzählen

• Ein angewandtes Rechenexempel lösen

• Aus einer Sprache in die andere übersetzen

• Bitten, danken, fluchen, grüßen, beten

Es hilft, sich vorzustellen, die hier aufgelisteten Sprachspiele seien gerade erst entstanden, spontan in die Welt getreten vor Millionen Jahren, um zu erkennen, dass in ihnen die Keimzelle von zum Beispiel Physik, Architektur, Geschichte, Theoriebildung oder Humor liegt.

Wie viele Sprachspiele gibt es?

Unendlich viele – neue kommen ständig in die Welt, alte verblassen.

Sprachspiele als Teil einer Kultur sind Erweiterungen einer noch primitiveren organischen Entwicklung, welche Wittgenstein als die NATURGESCHICHTE der Menschen beschreibt: „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ Nicht alle Sprachen verwenden Wörter, einige bestehen aus Nummern – oder Gesten – oder Tönen. Auch Bienen, Ameisen, Vögel oder Schimpansen haben ihre jeweilige Sprache. Die menschliche Wortsprache aber ist Teil der menschlichen Naturgeschichte, welche deswegen nicht etwa erklärt, warum wir sprechen, sondern diesen Entwicklungsschritt eben mit sich bringt.

Von großer Bedeutung ist schließlich noch die Beziehung zwischen Sprachspiel und LEBENSFORM, Wittgensteins Bezeichnung für das Unbewusste, in Form des Alltags.

„Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen“, schreibt Wittgenstein dazu in den Philosophischen Untersuchungen, „die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere [sic!]. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich [einen Alltag] […] vorstellen.“

Zu einer Sprache, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht, gehört dann zum Beispiel der Alltag „Krieg“. Besteht eine Sprache nur aus Fragen und einem Ausdruck der Bejahung oder der Verneinung, ist sie im Alltag „Gerichtsverfahren“ anzusiedeln.

Ein Alltag besteht aus sich wiederholenden Aktivitäten, egal, ob sie nun kultureller oder biologischer Natur sind. Sich einen menschlichen Alltag vorzustellen, heißt, sich eine Sprache – wohlgemerkt noch kein Sprachspiel – vorzustellen: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll […] hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder […] [eines Alltags] […].“

Dass sich der menschliche Alltag aus etwas sich Wiederholendem zusammensetzt, beinhaltet unter anderem, dass gesprochen wird – also Sprachspiele stattfinden.

Der Alltag kann nun beispielsweise jener der Geschäftswelt sein; eines seiner Sprachspiele wäre dann die Werbung. Er könnte auch im Bereich der Therapie verortet sein; in dem Fall wäre ein Sprachspiel die Psychoanalyse. Im Alltag der Wahrsagerei bestünde ein Sprachspiel im Handlesen, in einer Welt, die sich nur ums Glücksspiel dreht, hieße ein zugehöriges Sprachspiel Lotto, usw.