RÜCKHOLUNG DES SELBST – Wittgensteins Philosophie der Psychologie

Wittgensteins Neuformulierung des Wesens der Individualität dürfte, sofern sie einmal nachvollzogen wurde, mehr zur geistigen Gesundung Europas und des Westens beitragen als sämtliche parallel vorstellbare Psychotherapien oder ökonomische oder technische Allheilmittel. Wittgensteins Vormarsch gibt die frischeste, unerschrockenste und gesündeste Antwort auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Was ist ein Mensch?“ seit Sokrates.

Wittgensteins Spätwerk Philosophische Untersuchen geht größtenteils auf folgende sogenannte „mentale“ Phänomene und Begriffe ein: „verstehen“, „lesen“, „weiterwissen“, „Regelfolgen“, „Empfindung“, „denken“, „vorstellen“ und „Vorstellungen“, „träumen“, „Ich-Bewusstheit“, „beabsichtigen“, „wollen“ usw. Wittgensteins Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Sprachspielen laufen hinaus auf den Zerfall des Trugbilds einer „inneren Welt“, aus der er das Seelenleben befreit, wodurch es echter, genießbarer wird.

Wittgenstein zersetzt die über 2.000 Jahre alte philosophische Vorstellung, das Gemüt des Menschen sei ein Ding oder bevölkert von Gegenständen. Seit den Zeiten des heiligen Augustin wird eine „Innenwelt“ voller geistiger Angelegenheiten als erwiesen erachtet; dasselbe gilt– in verweltlichter Form – für Descartes oder später für Kant und seine „transzendentale Psychologie“.

Die „Innenwelt“ genießt ein enormes Ansehen. Die in ihren Vergegenwärtigungen erscheinende „Geistigkeit“ macht sie sowohl philosophisch als auch religiös interessant. Geist, der sich eigentlich nicht verdinglichen lässt, bekommt Gewicht und Prestige kraft seiner Verkörperung durch (innere) Angelegenheiten nach dem Muster wirklicher Gegenstände, die man behandeln (sich vorknöpfen und „hinkriegen“) kann. Verloren geht dadurch freilich, wie Wittgenstein uns zeigt, etwas unendlich viel Wertvolleres: das lebendige, atmende Seelenleben.

Wittgenstein verdeutlicht als Erster im Hauptstrom abendländischer Weltweisheit den Unterschied zwischen (unechter) Innenwelt und (echtem) Seelenleben.

Seine Methode des Philosophierens besteht in einem unausgesetzten Zwiegespräch mit sich selbst, in dessen Verlauf er Fragen stellt und den Antworten, die ihm sein Inneres gibt, lauscht: „Jeden Morgen muss man wieder durch das tote Geröll dringen, um zum lebendigen, warmen Kern zu kommen“, schreibt er in seinen Vermischten Bemerkungen. „Beim Philosophieren muss man ins kalte Chaos hinabsteigen und sich dort wohl fühlen [sic!].“ Er ist mit anderen Worten kein Behaviorist, der dem Innigen die Existenz abspricht, sondern sein Dementi betrifft allein die „innere Bühne“ mit ihren „mentalen Gegenständen“.

Die im Verlauf von 2.000 Jahren versteinerte Vorstellung, das „Ich“ könne seine „mentalen Inhalte“ betrachten, sich irgendwie vorstellen, hat sich dermaßen festgesetzt, dass sie als Gemeinplatz gilt und ihre Leugnung folglich als Mangel an Verstand betrachtet wird. Jeder bedeutende westliche Philosoph seit Plato – und heute auch jeder Psychologe – geht in der einen oder anderen Weise von „inneren Angelegenheiten“ des Selbst oder Bewusstseins aus. Sie alle nehmen an, dass Vorstellungen, Gedanken, Eindrücke, Ahnungen und dergleichen einen Standort im menschlichen Gemüt haben.

Plato, Aristoteles, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, William Occam und seit der Renaissance Rationalisten wie Descartes, Spinoza und Leibnitz oder Empiriker wie Locke, Berkeley, Hume – sie alle gehen aus von „geistigen Gegenständen“, mit denen der Mensch inwendig verkehrt und umgeht, wenn er etwas „weiß“, „wahrnimmt“, „sich vorstellt“, „glaubt“, „denkt“ oder „beabsichtigt“. Dass es „mentale Inhalte“ gar nicht geben könnte, ist vor Wittgenstein keinem bedeutenden Philosophen aufgefallen. Es erscheint einfach unvorstellbar, weil die Besinnlichkeit als Inneres, denkt man, irgendwie nötig ist, um Äußeres zu spiegeln oder zu bestätigen, wenn man diese Trennung – zwischen innen und außen – einmal vollzogen hat.

Indem er den selbstverständlichen Gebrauch von Wörtern wie „denken“, „meinen“, „beabsichtigen“ usw. sorgfältig nachvollzieht, stellt Wittgenstein jedoch heraus, dass die Grundannahme eines inneren Geschehens unnötig dualisiert – zu dem eingebildeten Zweck einer Vermittlung zwischen innerer und äußerer Bühne, welche nur seinsmäßig verschieden gedacht zu sein scheinen, um in fantasierter Weise wiedervereint werden zu können.

Als Erstes ist Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen daher aus auf die Zersetzung von Augustins oder Descartes’ „inneren Bewandtnissen“, jener sinnlosen „Doppelung“, der zufolge wir nicht nur erfahren, fühlen oder denken, sondern auch beobachten und somit begründen könnten, was Erfahren, Fühlen, Denken usw. im Einzelfall ausmacht.

Die pathologische „Doppelung“ resultiert nach Wittgensteins Erkenntnissen aus einer mehrfachen Verkennung unserer alltäglichen Sprache, einem Missverständnis von deren Grammatik, welchem Trugbilder entspringen.

Diese bringt Wittgenstein stückweise zum Verschwinden, indem er endlich herausstellt, dass es sich bei „Denken“, „Verstehen“, „Lesen“, „Meinen“, „Beabsichtigen“, „Glauben“ usw. nicht um von der Außenwelt abgesetzte Vorgänge handelt. Das Tätigkeitsmerkmal „Denken“ unterscheidet sich nicht wesentlich von zum Beispiel „Genießen“, „Trinken“ oder „Zögern“ – dasselbe gilt auch für so vorstellungsgeladene Begriffe wie „Erinnerung“, „Wahrnehmung“ oder „Traum“. Sie bedeuten nicht etwas dank ihrer Rolle auf einer „inneren Bühne“, sondern verkehren, sobald es mit ihnen etwas auf sich hat, auf der gleichen Ebene wie alle anderen menschlichen Erscheinungen.

Doch wie schlich sich das Trugbild ein?

Wir malen uns dafür zum Beispiel aus, dass, wenn wir etwas Vernünftiges sagen, irgendein innerer Hergang vorgeschaltet sein muss, weil es uns drängt, zu glauben, vernünftiges Sprechen könne nicht „einfach nur so“ vor sich gehen.

Obwohl es genau das tut.

Ähnlich verhält es sich, wenn wir irgendeiner Regel folgen – wir denken dann, dass wir diese innerlich jedes Mal erst „verstehen“ müssen, um dann ihr entsprechend handeln zu können.

Aber wir befolgen eine Regel, wenn wir sie befolgen, „ohne Weiteres“.

(Eine Person lernt, mit zehn Fingern zu tippen. Bald gelingt es ihr „blind“ – sie folgt der Regel, welche in der Buchstabenordnung auf der Tastatur liegt, ohne diese dabei „vor Augen“ zu haben. Im Gegenteil, sobald sie sich diese vergegenwärtigt, vertippt sie sich …).

Auch wenn wir jemanden wiederkennen oder identifizieren, konsultieren wir keine „inneren Bilder“, sondern es stellt sich etwas Unvermitteltes ein.

„Denk doch einmal gar nicht an das Verstehen als ‚seelischen Vorgang‘! Denn das ist die Redeweise, die dich verwirrt …

In dem Sinn, in welchem es für das Verstehen charakteristische Vorgänge (auch seelische Vorgänge) gibt, ist das Verstehen kein seelischer Vorgang.

(Das Ab- und Zunehmen einer Schmerzempfindung, das Hören einer Melodie, eines Satzes: seelische Vorgänge)“ (Philosophische Untersuchungen 154).

Wittgenstein liefert hier Beispiele für innere Vorgänge, nämlich das Ab- und Zunehmen einer Schmerzempfindung, das Hören einer Melodie usw. Im Vergleich zu diesen ist das Verstehen aber kein solcher Vorgang. Es kann zwar seelische Vorgänge beinhalten, also etwa eine abnehmende Schmerzempfindung oder das Hören einer Melodie, doch sie machen das Verstehen nicht aus. Ob jemand etwas verstanden hat, ob „Verstehen vor sich ging“, erkennt man nicht an dem, was der Person dabei „durch den Kopf“ geht, sondern daran, was sie – für alle sichtbar – als Nächstes tut, infolgedessen eingesehen oder nicht richtig erfasst hat.

Ähnlich ist es mit dem Denken: „,Denken‘ nennen wir wohl manchmal, den Satz mit einem seelischen Vorgang begleiten, aber ‚Gedanke‘ nennen wir nicht jene Begleitung. – Sprich einen Satz und denke ihn; sprich ihn mit Verständnis! – Und nun sprich ihn nicht, und tu nur das, womit du ihn beim verständnisvollen Sprechen begleitet hast“ (Philosophische Untersuchungen 332).

Wir neigen mit anderen Worten dazu, das, was wir sagen, für „Denken“ zu halten, weil uns dabei irgendetwas durch den Kopf geht: der „Gedanke“. Was wir sagen, wird aber nicht durch das zum Denken, was uns dabei durch den Kopf geht, nicht durch eine bestimmte Vorstellung, Melodie o. Ä. m. So wie es etwa auch unmöglich ist, das Verständnis, mit welchem man einen Satz spricht, von diesem getrennt zuwege zu bringen. Ähnlich lässt sich der Ausdruck, mit dem man etwas sagt, also sein Ernst oder seine Leichtigkeit, nicht davon abziehen und an sich zustande bringen, um dann eventuell „zugemischt“ zu werden. „Verständnis“, „Ernst“, „Leichtigkeit“ usw. begleiten nicht ein gesondertes Sprechen oder Tun, ebenso wenig, wie „Denken“ mit dem, worin es sich vollzieht, „einhergeht“. Denken hat keinen hinzukommenden, sondern „hitzigen“ Charakter: Es zeigt sich zum Beispiel in der Vorsicht, Aufmerksamkeit oder Andacht, mit der etwas gesagt oder getan wird.

„Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ‚Bedeutungen‘ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens“ (Philosophische Untersuchungen 329).

Ein anderer geistiger Begriff, die „Vorstellung“, bleibt bedeutungslos, solange wir nur unsere eigenen Vorstellungen untersuchen. Denn das Wesen einer Vorstellung liegt nicht in dem, was wir uns ausmalen, wenn wir uns etwas vorstellen, sondern im Gebrauch des Wortes „Vorstellung“.

„Die Vorstellung ist nicht ein Bild, noch ist der Gesichtseindruck eines. Weder ‚Vorstellung‘ noch ‚Eindruck‘ ist [sic!] ein Bildbegriff, obwohl in beiden Fällen ein Zusammenhang mit einem Bild statthat, und jedes Mal ein anderer“ (Zettel 638).

Die Alltagsverwendung des Wortes „Vorstellungen“ (der allgemein vorgeschriebene oder erlaubte Gebrauch dieses Wortes) bestimmt, dass Vorstellungen dem Willen unterliegen. Man kann also sich oder jemand anderen auffordern: „Stell dir eine Wiese mit Pferden vor!“ Schon stellt sich das entsprechende „Bild“ ein. Andererseits funktioniert die Grammatik des Wortes „Bild“ in diesem Falle nicht. Man kann zum Beispiel nicht fragen: „Wo befindet sich die wirkliche Wiese, von der das Bild angefertigt wurde?“ Vorstellungen lassen sich nicht wie Bilder mit dem vergleichen, was sie darstellen. Dies finden wir nicht heraus, indem wir unsere Vorstellungen untersuchen, sondern indem wir die Alltagsverwendungen der Worte „Vorstellung“ und „Bild“ miteinander vergleichen.

Ein weiterer – zentraler – geistiger Begriff ist der „Eindruck“. Wir sind instinktiv der Meinung, dass Eindrücke uns etwas mitteilen, noch bevor wir sprechen – dass es daher auch ohne Sprache bereits etwas auf sich haben muss mit der Welt. Deswegen kommen uns Eindrücke – insbesondere über das Gesichtsfeld – vor wie eine Art Abbild oder etwas damit Verwandtes. Es sieht so aus, als ob es etwas gibt und wir es wortlos wahrnehmen können. Denn so kommt es uns ja vor, wenn wir eine vertraute Umgebung erblicken: Sähen wir von den sie beschreibenden Worten ab, meinen wir, blieben doch die Gegenstände oder Sinneseindrücke unverändert zurück. Es stapeln sich demzufolge, spekuliert man, in unserem Gemüt „Bilder“ vorheriger Wahrnehmungen, die dazu verwendet werden, hinzukommende Eindrücke zu identifizieren – ob sie mit ihnen übereinstimmen oder nicht.

Eine Klärung dieses Missverständnisses im Stil Wittgensteins könnte zum Beispiel so aussehen: Ich sage jemandem, der weiß, was Eieruhren sind, er soll eine Eieruhr aus der Küche holen. Er tut es. Was ist dabei geschehen? Nun, er hat meine Aufforderung gehört und die Eieruhr gebracht. Oder hat er sich zunächst eine Eieruhr ins Gedächtnis gerufen, nachdem er meine Aufforderung verstanden hat, und anschließend den seinem Erinnerungsbild entsprechenden Gegenstand aus der Küche geholt? Was aber, wenn ich ihn aufgefordert hätte, sich eine Eieruhr vorzustellen? Würden wir dann immer noch geneigt sein, zu denken, er rufe sich eine Eieruhr ins Gedächtnis, indem er meine Aufforderung versteht, und stelle sich dann eine weitere vor, welche dem Gedächtnisbild entspricht?

Das Wort „Eieruhr“ ermöglicht dem Verständigen eine Vorstellung, zu deren Identifizierung das angenommene Erinnerungsbild nicht nötig ist. Man räumt schließlich gezwungenermaßen die Unmittelbarkeit der Abfolge „Hören des Wortes | Vorstellung der Eieruhr“ – ohne dazwischengeschaltetes Bild – ein.

Indem wir nachvollziehen, dass „Bild“ und „Vorstellung“ nicht dieselbe Bedeutung (Grammatik) haben, werden wir nicht mehr darauf bestehen, meint Wittgenstein, dass „innere Bilder“ bei Vorgängen wie dem Befolgen einer Aufforderung eine Rolle spielen müssen.

Auch „Erinnerung“ oder „Gedächtnis“ sind sprachlich, und man muss sehen, welche Rolle sie in der Sprache spielen (dürfen), um zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Wenn mich jemand fragt „Erinnerst du dich an letzten Winter?“, kann ich „Ja!“ antworten, ohne dass mir dabei irgendwelche Bilder durch den Kopf gehen müssen. Mir können freilich auch Bilder durch den Kopf gehen, und sie können auch vom letzten Winter sein, aber sie machen das Erinnern nicht aus. Das Spiel mit dem Wort „Erinnerung“ geht anders. Es erlaubt mir zum Beispiel, zu sagen: „Letzter Winter – ich versuche mal, mich zu erinnern …“ Anschließend kann ich alle möglichen Bilder in mir heraufbeschwören, muss das aber nicht tun. In ihnen läge sowieso nicht die Erinnerung, sondern vielmehr in meinen Worten „Jetzt erinnere ich mich, dass …“ sowie in den Worten, die darauf folgen. Eine Erinnerung besteht somit in den Worten, welche auf „Ich erinnere mich, dass …“ folgen. Begleitende oder konsultierte Bilder können die Erinnerung illustrieren, aber nicht begründen.

Worin bestünde dann aber – in Ermangelung eines „inneren Bereichs“ – das menschliche Selbst? Mein Ich?

Wittgenstein war ein sehr privater Mann, entwickelte seine Philosophie im Rahmen eines „inneren Zwiegesprächs“ und zog keinesfalls das Gesellschaftliche dem Individuellen vor. Seine Philosophie stellt, wenn überhaupt, das „Kultivierte“ über das „Gemeine“ oder das Althergebrachte über das „Gedeichselte“, von oben oder außen Aufgezwungene. Trotzdem sprach er dem menschlichen Selbst die Identität ab. Innere Zustände oder Vorgänge, die exklusiv und daher kennzeichnend für ein bestimmtes Ich sind, spielen keine Rolle und sind folglich bedeutungslos. Den Nachweis führt Wittgenstein in seinem „Privatsprachen-Argument“, der Paradenummer seiner Spätphilosophie.

Dieser Nachweise funktioniert ungefähr so: Sprachliche Sätze schaffen etwas Bedeutendes nur unter der Voraussetzung, dass sie auch unwahr sein könnten. Andernfalls wäre jeder Satz wahr, auch solche, die sich widersprechen. Damit aber Sätze sowohl wahr als auch falsch sein können, müssen sie einen autonomen Sinn haben, welchen sie an die Wirklichkeit herantragen, die ihn dann verifiziert (wahrer Satz) oder falsifiziert (falscher Satz). Einen solchen Sinn jedoch bringt nicht ein Mensch allein zustande, er entsteht vielmehr in den Sprachspielen einer menschlichen Gemeinschaft. Insofern verfügt ein Mensch über keine sinnvolle Sprache, die ihm alleine dient, und ist infolgedessen nahtlos ein Bestandteil seiner „sprechenden Umgebung“, selbst indem er Zahnschmerzen hat – ein Beispiel, welches Wittgenstein öfters anführt.

Beispielsweise könnte eine Person jedes Mal, wenn sie Zahnschmerzen hat, ein selbst erfundenes Zeichen in ein Buch schreiben, das sonst niemand zu sehen bekommt. Schon bald aber wird die Person dann nicht mehr in der Lage sein, anhand ihrer Aufzeichnungen festzustellen, ob die Schmerzen, welche sie an diesem Morgen hat, dieselben sind wie jene, die sie vor drei Tagen plagten. Das eigene Gedächtnis reicht nicht aus, um solche Urteile zu fällen. Ein die Öffentlichkeit ausschließender Bezug zum eigenen Gemüt ist daher bedeutungslos. Etwas anderes wäre es, wenn die Person das Ausmaß ihrer Schmerzen zum Beispiel mit Ziffern bewertete: „1“ für „gering“, „5“ für „mittel“ usw. Die Zahlen wären aussagekräftig, weil sie nicht mehr allein der Person gehören, sondern die Öffentlichkeit, in welcher sie als Angaben einer Intensität gelten, ins Spiel bringen und damit eine Bedeutung erlangen.

Natürlich kann man Bücher in Geheimschrift verfassen – solange sich diese übersetzen lässt. Ist sie aber prinzipiell unübersetzbar, nur zu verstehen von einer einzigen Person, sagt sie auch dieser nichts, weil sich ein Mensch „nicht selber die Hand schütteln“ kann.

Hieraus folgt, dass es keine „privaten Gegenstände“ gibt. Selbst unsere geheimsten Gedanken, Absichten oder Träume – unsere Zahnschmerzen – sind prinzipiell „öffentlich“. Das Individuum des Kapitalismus oder der Wissenschaften ist eine leere Hülle.

Das Käfergleichnis, welches Wittgenstein dafür in den Philosophischen Untersuchungen findet, hat mindestens die Wucht von Platos Höhlengleichnis, manche halten es aber sogar für noch bedeutender:

„Angenommen, es hätte Jeder [sic!] eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder [sic!] sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ‚Käfer‘ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ‚gekürzt werden‘; es hebt sich weg, was immer es ist.

Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ‚Gegenstand und Bezeichnung‘ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus“ (Philosophische Untersuchungen 293).

Ein „Ausdruck der Empfindung“, um dessen Grammatik es hier geht, wäre zum Beispiel „Jubel“ oder „Schmerz“. Haben Schmerzen einen „inneren Gegenstand“, der ihnen Inhalt verleiht – den sie „bedeuten“? Dieser gliche dann dem Käfer in Wittgensteins Gleichnis, den niemand außer seinem Besitzer sehen kann. Ist folglich unter Menschen von „Schmerzen“ die Rede, kann dieses Wort, wenn es denn eine Stimmung signalisiert, diese nicht durch einen „Gegenstand“ erhalten, den sonst niemand zu Gesicht bekommt.

„,Ja, aber es ist doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, – und schrecklich.‘ – Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegenheit? – Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?“, heißt es zu dem Thema in den Philosophischen Untersuchungen 296-7.

Es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob die Schmerzen (das Kochen) nicht weiter wichtig seien in dem Bild, welches wir uns von ihnen machen, zum Beispiel als Arzt. Der Dampf in der (sprachlichen) Wiedergabe des Topfes versinnbildlicht hier die Charakterisierung eines Schmerzes durch den Empfindenden, indem er zum Beispiel dessen Sitz in bestimmten Stellen seines Körpers angibt. Diese Fähigkeit, Schmerzen zu lokalisieren und in gewissem Maß zu beschreiben (als „dumpf“, „stechend“, „flimmernd“ u. Ä. m.), verleitet uns zu der Vorstellung, bei diesen handle es sich um unseren „Privatbesitz“. Aber dergleichen gibt es nicht.

„,Aber du wirst doch zugeben, dass ein Unterschied ist zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.‘ – Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! – ‚Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.‘ – Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, dass ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen lässt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will.“ (Philosophische Untersuchungen 305).

Wir haben als Menschen die Neigung, alles, dem wir uns widmen, zu verdinglichen. Es erhält, indem wir es uns vorstellen, eine Art Körper, wenn keinen sichtbaren, dann einen unsichtbaren. So ist es aber nicht immer richtig, denn es gibt – wie zum Beispiel im Fall von Schmerzen – Lebensäußerungen, welche nur ausgedrückt, nicht aber „in die Enge getrieben“ und gestellt werden können. Wenn wir Kindern das Wort „Schmerz“ beibringen, dann nicht wie ein Namensschildchen, das einer Sache umgehängt werden kann wie im Fall von „Apfel“ oder „Bleistift“, sondern indem sie zum Beispiel lernen, es statt „Aua“ zu verwenden, den Schrei gewissermaßen ersetzend.

Um jemanden zu verstehen, der Schmerzen äußert, muss ich mir diese nicht vorstellen, sondern seine Signale richtig deuten. In der Grammatik des Wortes „Schmerz“ liegt nicht die Beschreibung eines (inneren) Gegenstands, sondern die Anbahnung von Hilfsmaßnahmen. Besinnlich und unverborgen wird Schmerz zum Auslöser und Lenker eines mitmenschlichen Verhaltens. Indem wir Schmerzen äußern, teilen wir niemandem mit, was wir „haben“ (oder „sind“), sondern leiten einen zwischenmenschlichen Vorgang ein.

Schmerz steht in den philosophischen Untersuchungen Wittgensteins ein für alles „Mentale“. In welchem zwischenmenschliche „Muster“ liegen, welches die Sprache zum Gebrauch von allen, die an ihrer Gemeinschaft teilhaben, verwaltet. Das gilt sogar für Träume, die wir nicht privat, sondern „für alle“ haben, wie aus alten Texten (Homer, Gilgamesch, klassische chinesische Romane) hervorgeht.

Mit der „inneren Bedeutungsquelle“ voller mentaler Gegenstände wurde laut Wittgenstein ein geisterhafter Zusammenhang fantasiert, entsprechend dem unterstellten „Wesen“ äußerer Materie, ob es sich bei diesem nun im frühen Mittelalter noch um ein Gefüge vorgestellter „Formen“ handelt oder in der heutigen Wissenschaft um Kräfte, Felder und Partikel. Die absolute wissenschaftliche Objektivität spiegelt sich in dem ihr gegenüber verharrenden isolierten, hermetisch verriegelten Subjekt. Beide sind Kehrseiten einer Geisteshaltung, die Wittgenstein zersetzen möchte.

Die kulturellen Weiterungen seines neuen Selbstbegriffs wären nachhaltig. Jenseits des einsamen, habgierigen, ängstlichen, total privatisieren Individuums, mit dem wir heute leben und dessen einzige Wirklichkeit in der Macht besteht, sich „zu entfalten“, taucht eine Gelegenheit auf, dem Menschsein tiefere Stimmung zu verleihen oder diese wiederzuentdecken.

„Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neuen Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neuaufführen [sic!] in einer Weise, die unserer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. – Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechtstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alten Formen & richtet sie dem neuen Geschmack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewusst, wirklich die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört“ (Vermischte Bemerkungen).

„Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen“, schreibt Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen 242. Und Davila ergänzt mit dem Aphorismus „Wenn der Dialog der letzte Ausweg ist, ist die Situation nicht mehr zu retten“. Es ist immer eine grundsätzliche Übereinstimmung vonnöten, um ins Gespräch zu kommen, und diese wird nicht hergestellt durch Argumente, sondern ein verlockendes Bedeutungs-, d. h. Gemeinschaftsangebot.