Empfindsame Indien-Reise

Vorzeichen

Indien war mir egal. Als ich klein war, verfolgten mich noch die Bilder „armer Inderkinder“, die an Hunger starben, heraufbeschworen von meiner Großmutter, wenn ich nicht aufessen wollte. Später machten wir uns lustig: „Pack’s doch ein und schick’s nach Indien!“ Die Beatles hatten von dort einen zotteligen Yogi mitgebracht. Junge, dann auch alte Leute, die’s, wie ich fand, nirgends gebacken kriegten, pilgerten orange verkleidet in „Ashrams“ und legten das, was sie besaßen, einem närrischen Priester zu Füssen. Meine Reiselust war auf mir mehr versprechende Ziele in der Welt gerichtet, Nordamerika zum Beispiel, und wurde, als sie mit den Jahren fortschritt, von Afrika gefesselt: raubtierumstrichene Wanderherden an gewitterblauem Horizont, glänzende Speer-Fischer auf Strohflößen, die ihre Beute zwischen Krokodilen suchen; wo andernorts Paläste oder Pyramiden alterten, ragte hier unverändert die Natur ins Mondlicht – oder wurde wie der Tafelberg über Kapstadt gleich einer Kathedrale nächtens angestrahlt. „Hast du Afrika erst mal Blut…“, raunten die Kenner. Nur die Inder, die hier lebten, wirkten ungerührt, waren nicht leutselig wie die Eingeborenen, von deren Aufmerksamkeit einem das Herz überging. Sie bildeten eine Schicht: Ärzte, Lehrer, vor allem Geschäftsleute, ohne die nichts im Schwarzenstaat zu klappen schien. Sie hatten ihre eigenen Viertel, eigenen Filme, eignen Restaurants. Die besten, in denen ich bis dahin geges sen hatte. An riesigen Tafeln saßen mindestens 20köpfige Familien, die mich keines Blickes würdigten, wenn ich mein Katzentischchen neben der Küchentür bezog. Sie waren mir unsympathisch: laut, auf sich bezogen, ohne Aufmerksamkeit für alles, was sich außerhalb ihrer Kreise regte. Ihre Mittel erlaubten ihnen, mit uns (Touristen, die wir waren, auch wenn wir anders heißen wollten) im selben Wildparklager bei Abendgrill und Gästeunterhaltung abzusteigen, und ich erinnere mich an einen Vater, der seine kleine Tochter ins Schwimmbecken holte. Als sie gleich zu schreien anfing, tauchte er sie mit weit von sich gestreckten Armen auf- und nieder und feuerte sie an, zu ihrem Bruder hinüberzuschauen, der am Ufer lümmelte, wie wenn allein durch seinen Anblick ihrem Weh, als Mädchen auf der Welt zu sein, leibhaftig abgeholfen wäre. Die Mutter saß dabei in heimatlicher Tracht sanft über ihrem teuren Sohn am Beckenrand und schwieg. Ich konnte wenig damit anfangen. Und nichts deutete darauf, dass ich irgendeinmal einmal den indischen Subkontinent bereisen würde.

Man hatte mich vielleicht noch nicht genug davor gewarnt. Indien war gerade im Schwange. Mir aber muss von einer Gegend abgeraten worden sein, damit sie anfängt, mich zu interessieren. Denn ich habe bisher gute Erfahrungen damit gemacht. Auf den Azoren wird man vom Besuch Santa Marias entmutigt; dabei führt gerade sie das Insel-Restaurant schlechthin im mittleren Atlantik. Wer in Südafrika, wie empfohlen, einen Bogen um Johannesburg macht, versäumt das Market Theater, eine der wenigen Bühnen dieser Welt, die Produktionen an den Broadway exportiert. In einem dicken Reiseführer über Afrika, der jedem Staat dort, auch dem schlimmsten, etwas abgewinnt, steht über Mauretanien „wenn es ein Land der Welt gibt, das man meiden sollte, ist es dieses“. Es sind solche Bemerkungen, die mein Interesse wecken.

Von Indien riet mir Bruder Elias ab.

Er war auf eine Regenwaldinsel im Golf von Guinea entkommen, wo die Bewohner seinem Kreuz singend durch stockfleckige Dorfgassen folgten. Sein Eiland gehörte praktisch einem südafrikanischen Waffenhändler, einem Sohn deutscher Missionare, die wie Elias einst in Indien zu schaffen hatten. Im schwülen Palmenschatten bei südafrikanischem Weißwein lernte ich seine Aversion gegen den ganzen Subkontinent kennen: der infernalische Krach, Gestank, die viel zu grellen Farben – Mütter brächten es fertig, ihre Kinder fürs wirkungsvolle Betteln zu verstümmeln – bei einer Afrikanerin undenkbar, solch Herzenskälte. Hindus seien nicht zu missionieren!

Und gaben sich die Eingeborenen im Vergleich zu Indern in Afrika nicht auch mir gegenüber viel lieber, frommer? Vielleicht, weil sie letztendlich Christen waren? Von einem deutschen Arzt und Psychologen, der lange im Busch gelebt hatte, war ich indes gewarnt worden, afrikanische Freundlichkeit zu Europäern, die beharrliche Verehrung des weißen Mannes, als Ausdruck gemeinsamer, womöglich christlicher, Werte aufzufassen. Afrikaner seien im Gegenteil geistergläubig. Sie wären zum Beispiel bei aller Welt verschuldet (er hatte recht), nur nie und nimmer bei ihrem Medizinmann. Ich erinnere mich an eine afrikanische Bekannte, Mathematikerin, die in einer Münchener Schwarzendisko einen Zauberer getroffen hatte, und danach lange nicht beruhigt werden konnte. Hexer haben die schwarze Seele im Griff; ein Wort von ihnen, und der Afrikaner legt sich sterben.

Die Magie war selbstverständlich auch auf Weiße gerichtet worden, als sie zum ersten Mal in Afrika auftauchten. Sie haben sich dann aber aus Sicht der Afrikaner als „mächtiger“ erwiesen. Der Zauber selbst wurde nie bezweifelt; bei Afrikanern wirkte er ja nach wie vor. Der davon unangegriffene Weiße aber galt hinfort als höheres Wesen. Daher die Ehrerbietung, Anerkennung, die einem überall in Afrika entgegenschlägt, sobald man eine hellere Haut hat. Noch der letzte Versager profitiert davon. (Man trifft ja überall in Afrika Existenzen, die in Europa als gescheitert gelten würden, hier aber ein Hotel oder eine kleine Ferienanlage mit vielen Angestellten leiten.)

Beruhte die „rätselhafte Faszination“ des Schwarzen Kontinents auf abendländische Gemüter mithin auf magischer Verehrung, die einem ohne Zutun vonseiten der Bevölkerung entgegenkam? Auf die man leider zu Hause, solange man kein Filmstar war, verzichten musste? Zog es mich aus diesem Grund zurück nach Afrika? Um lediglich den Bauch gepinselt zu bekommen? Und ging ich Indien deswegen aus dem Weg? Wollte ich im Grunde nur nicht wie Bruder Elias erschöpft oder missachtet werden von einer wirklich fremden Gesinnung, die sich vielleicht sogar der meinen überlegen vorkam? Wenn ich eins in meinem Leben bisher hoffentlich vermieden hatte, dann eine Haltung, die beim Reisen allem ausweicht, was nicht mit ihr sympathisiert. In dieser Hinsicht schien mir Indien auf einmal eine größere Herausforderung als, wie ich immer meinte, Afrika. Seine hochfahrende Einstellung zum Christentum, das als Abkömmling einer älteren Landesreligion begriffen wird, die damit eingehgehende Ablehnung menschlicher Gleichheit, Mitleidlosigkeit als hinduistische Kardinaltugend – was Bruder Elias daran verzweifeln ließ, reizte mich zusehends, es mit Indien aufzunehmen. Und wenn ich es jetzt vielleicht doch einmal bereisen wollte, dann in erster Linie, um nicht davor zurückzuschrecken.

Was darauf an Reiseführern, Themen und Figuren in meinen Blick geriet, war kaum geeignet, meinen Trotz in Neigung zu verwandeln. Indien erweckte den Eindruck einer Jauchegrube. Wie über sonst kein Land schienen alle Darstellungen, egal wie schlicht oder gestochen, angewiesen (zum Teil erpicht) auf ein Kapitel über die öffentlichen Entleerungsgewohnheiten der Bevölkerung: in lang gehockten Reihen am Einfallstraßenrand, angesichts vorbeifahrender Züge, sowieso hinterm Dorf auf freiem Feld. Naipaul zitierte, dass der indische Bauer klaustrophobisch auf europäischen „Örtchen“ würde; er muss den ganzen Horizont im Auge haben. Und das würzige Kloakenaroma, das einem schon weit vor Bombay entgegenschmeichele, feierte der langhaarige Rückkehrbericht einer britischen Schauspielerin als Ausdruck einer Menschlichkeit, von der allein das große Indien wisse.

Auch die weniger stimmungsorientierten Handbücher für Reisende hatten auf Anhieb wenig anzubieten, das geeignet schien, einen ins Land zu locken. Einigen ihrer Autoren war laut Klappentext inzwischen selbst die Einreise verboten worden. Weil sie vielleicht die Armee verunglimpften mit Hinweisen wie, ihr „Veteranen-Flughafen-Transport-Dienst“ schicke seine Touristenbusse zu getürkten Fremdenverkehrsämtern (mit unechten Schildern, Uniformierten usf.), wo Neuankömmlingen falsche Hotels und überteuerte Weiterreisen angedreht würden? Selbst per Taxi war es offenbar nur unter Aufbietung prometheischer Überredungskünste möglich, ein Ziel seiner Wahl – statt eines, das dem Fahrer Beteiligung versprach – zu erreichen. Dass einem darüber hinaus für mehr als 500 € Impfungen angeraten wurden (zum Teil mit Stoffen, die aus Japan eingeflogen werden mussten), dass auch bei allergrößter Vorsicht immer noch jeden Moment mit Durchfällen zu rechnen sei, dass mit Frauen nie ein Gespräch angefangen und eventuell gelitten werden sollte, von Brahmanen als Untermensch taxiert zu werden, und was noch alles sonst an Tipps und Vorschlägen mich auf Land und Leute einstellen sollte, zersetzte meine Entschlossenheit, die Reise überhaupt noch anzutreten.

Die intelligenteren Abhandlungen, die ich darauf hinzuzog, konnten noch weniger gute Gründe liefern. Koestlers Von Heiligen und Automaten gipfelte im Urteil, dass Indiens Religiosität die von ihr als Illusion verschmähte Welt nicht überwunden, sondern auf spezielle Art zum Irrenhaus gemacht hätte. V. S. Naipaul flieht am Ende von Land der Finsternis das Dorf seiner Vorväter und schließlich Indien selbst, für das er auch nach über einem Jahr dort keinen Sinn entwickeln konnte. Und Günter Grass meditierte in Zunge zeigen mehr über Theodor Fontante, den er zufällig in Kalkutta las. Was um Himmels Willen wollte ich in Indien?

Auf unheimliche Art verstand es immerhin Dominique Lapierre mit Stadt der Freude zu fesseln, der romanhaften Reportage über Leben und Schicksal eines französischen Sandalenmissionars und seiner bengalischen Freunde in den Slums von Kalkutta. Obwohl sie fast nur Hässliches, Trauriges und Schreckliches enthielt (ein Rikschakuli muss zum Schluss sein eigenes Skelett verkaufen und sterben, damit die bescheidene Hochzeit seiner Tochter stattfinden kann), wirkten die kurzen Momente der Freude oder Güte jedes Mal umso überwältigender, glühender. Das Buch war ein trickreich abgefasster Bestseller (verfilmt mit Patrick Swayze), verstellte aber nicht die Ahnung einer menschlichen Nähe, die, wie mir nun schien, auch schon den schweizerischen Seelenarzt Medard Boss beeindruckt haben musste, wenn er in seiner Indienreise eines Psychiaters 1964 die Slums von Lucknow bei hereinbrechender Nacht mit „Rembrand“ verglich: im warmen Licht von kleinen Hüttenöffnungen Kinder, aneinandergeschmiegt, die Kleinsten schon im Schlaf, die Älteren den Worten des Ramayana lauschend. Und Boss stellt diesem Bild die menschenleeren Elternvillen seiner jugendlichen Patienten über dem kalten Zürichsee gegenüber.

Das Ramayana, dargestellt von einem wandernden Puppentheater, war auch einer der Höhepunkte für die gebeutelten Protagonisten von Stadt der Freude, besonders, wie mir schien, die Slapstickszene, in der die Affen- und Bärenarmee des Göttlichen Prinzen, einer an den Schwanz des anderen geklammert, in die Höhle der Trugbilder schlidderte. „Ich stelle hiermit die Behauptung auf“, schreibt R. K. Narayan in der Einführung zu seiner Nacherzählung, „dass ausnahmslos alle Inder auf die eine oder andere Art das Ramayana kennen. Jeder, egal wie alt, gebildet oder gestellt er ist, liebt die Hauptfiguren. Jedes Kind bekommt die Geschichte vorm Einschlafen erzählt“ – wie Sita, Braut des zu unrecht verbannten Prinzen Rama, vom Dämonenkönig Ravana entführt und mit Hilfe des Affengenerals Hanuman wieder befreit wird. Da gibt es einen „10.000 Jahre alten“ König, naive und gewitzte Königinnen, verräterische Ammen, einen Riesen, der für jeden Tag, den er „in dieser dummen Welt“ zu leben hat, drei Jahre schläft, ein hässliches Dämonenmädchen, das sich nach dem Prinz verzehrt, einen aufopfernden Geier, Weise, Zauberer, Unterlinge und ein Heer von Tieren, angeführt von Hanuman. Sohn eines Affenmädchens und des Windes, springt er über die Palkstraße von Indien nach Ceylon, spioniert dort Ravanas Palast nach der gestohlenen Prinzessin aus, überbringt ihr heimlich Ramas Ring und setzt, als er gefangen, verhört und zur Strafe am Schwanz entzündet wird, flüchtend die Dämonenhauptstadt in Flammen. Später, als ihm die Worte fehlen, um seinem Gefühl zu Rama Ausdruck zu verleihen, reißt er „mit scharfen Fingernägeln“ seine Brust auf, zieht das Fleisch zurück „und siehe, da stand wieder und wieder geschrieben auf jedem seiner Knochen in kleinen Buchstaben Rama, Rama, Rama, Rama, Rama.“

Unter den mir bis dahin widerfahrenen Vorzeichen Indiens war Hanuman, der erste Privatdetektiv und Hindu-Gott der Junggesellen, noch das einnehmendste: seine Treue und große Könnerschaft, die Erfüllung nur im Glück des Freundes findet – auf Abbildungen sah man als Inhalt seines freigelegten Herzens immer nur die Figuren Rama|Sita. Letztere allein blieb mir (auch im Vergleich etwa zu Draupadi, ihrer Schwester im anderen Nationalepos Mahabharata, die dort fünf Männer hatte) sehr zurückgenommen, nicht wie Rama von Fleisch geboren, sondern gefunden in einer Ackerfurche, meist schweigend ihrem Gatten untertan, beharrlich dem Werben Ravannas widerstehend. Schließlich in Verbannung, weil der Dämonenkönig sie trotz allem berührt haben sollte, ruft Sita „Mutter Erde“ als Zeugin ihrer Unschuld an und wird von dieser für immer wieder aufgenommen. Ähnlich unwirklich blieb mir das Bild der indischen Frau, bis ich zum Schluss noch das Glück hatte Satyajit Rays Film Ballade vom Weg zu sehen: das Heranwachsen Apus, Sohn einer verarmten Brahmanenfamilie, in einem bengalischen Dorf mit seiner uralten Tante, Mutter und Durga, seiner älteren Schwester. Eigentlich ist es ihr Film, die am Ende kurz vor der Hochzeitsreife in einer Gewitternacht stirbt, was den Zuschauer in einem entsetzt und entzückt – entsetzt, weil dieses alles Glück der Welt verdienende Wesen sinnlos zu Grunde geht; entzückt, weil der eigene Tod im selben Moment jeden Schrecken verliert, weiß man doch, dass man durch ihn dahin gelangen wird, wo Durga wartet. Sie war eine Diebin, die ihre Beute mit anderen teilte, eine Kundige auf Tigerpfaden, sich vorbereitende Braut – und hatte mein Herz endgültig mit ihrem Regentanz erobert (ich weiß noch den Namen der Darstellerin: Uma Dasgupta).

Es waren seine Mythen und Geschichten (vielen Filme), die mich zuletzt für Indien gewannen; und wenn ich jetzt mit einem kleinen abschließbaren Schalenkoffer, der Profi hat beim Reisen mindestens eine Hand frei, im Flugzeug saß, dann, wie ich meinte, ohne mich zu täuschen, was mich an Wirklichkeit erwartete.

Ankunft in Dehli

In der Flughafenhalle lauerten die Schlepper der Taxifahrer. Wer sich auf sie einließ, hieß es, wählte den teuersten Weg überhaupt, denn ihre Provision entspräche der Fahrpreisklasse, zu der sie einen überredeten, welche von Alter und Ausstattung der Wagen abhinge und einem launischen Kilometertarif, für den die Fahrpreisanzeiger hätten eine Rolle spielen müssen, die bei Ausländern ohnehin abgeschaltet blieben. Eine Kasse sei folgerichtig eingerichtet worden, an deren Theke man sein Ziel in der Stadt buchstabieren und einen festen Preis vorausbezahlen könne; das Taxi führe einen dann auf Gutschein.

Schiebefenster-Buden ließen sich durch das Spalier der nervösen Schlepper im Hintergrund der Halle ausmachen. Auch von dort wurde einem intensiv zugewinkt; die Anbieter standen im Wettbewerb, beschäftigten ihrerseits Schlepper. Nur an einem Schalter herrschte Ruhe, dem der städtischen Polizei – wo es besagte Gutscheine zu kaufen gab. Die heimischen Flugankömmlinge gingen stracks in diese Richtung; ich schloss mich ihnen an, verfolgt von einem Heer nervös-enttäuschter Blicke…

…und zahlte natürlich einen Bruchteil der mir zuvor entgegen geschmetterten Sonderangebote. Mit meinem verwaschenen Gutschein trat ich endlich ins Freie. Ein weiterer Zwischenmann tauchte auf, um mich zu meinem Taxi zu lotsen, das sich – entgegen der mir angegebenen Richtung – am anderen Ende des Geländes befinden sollte. Als ich nicht folgen mochte, hätte wenig gefehlt, und ich wäre tätlich verschleppt worden. Der Rückweg wurde von Uniformierten versperrt, wie denn man die Ankunftshalle nur verlassen durfte. Den erregten Vermittler im Nacken, musste ich selbst etwas Gewalt anwenden, um’s zurück an den Schalter der Polizei zu schaffen.

Dort wurde meine ausländische Erregung nicht verstanden. Die Lage des Taxistandes? Eben dort, wo man es mir bereits angezeigt hatte. Wo war das Problem? Draußen stehe ein Mann, der sage, mein Taxistand liege woanders? Einfach nicht auf ihn hören. Ein paar Inder, die ebenfalls in meine Richtung mussten, erlaubten mir, etwas befremdet von dem Wunsch, in ihrer Deckung mitzukommen.

Zögernd vermerkte mein Belagerer draußen die neue Lage – und gab endlich auf.

Die städtischen Taxis wurden gleich um die Ecke eingeteilt. Ich fand mich in einem Bienenkorb von Fahrern wieder, die aber das Interesse verloren, sobald sie sahen, dass ich nur Halter eines Gutscheins war. Damit wurde mir ein altersschwaches 50er-Jahre-Modell (eines Morris Oxford, der in Indien noch heute als „Ambassador“ vom Band läuft) mit einem schüchternen jungen Fahrer zugewiesen, der aus den hinteren Reihen hervorgezogen worden war.

Ich wusste, dass, wenn mein gedruckter Reiseführer weiter recht behielt, eine letzte Hürde noch nicht genommen war. Jemand würde versuchen, mir mein Hotel auszureden. Ich hatte es von zu Hause per Fax gebucht, da es mir von Freunden empfohlen worden war. Jetzt würde irgendjemand, ich wusste nur noch nicht wer, mir sagen, dass es ausgebucht, abgebrannt oder wegen Unruhen in seiner Umgebung nicht mehr zu erreichen war.

Mein Taxi hielt, nachdem es getankt und einige hundert Meter gefahren war, kurz an, um einen kleinen, entschiedenen Mann mit Prospektalbum hereinzulassen. Er fragte erst den Fahrer aus, wohin es mit mir gehen sollte, und drehte sich dann skeptisch um, den Namen meines Hotels erwähnend: Ob man mir dort wirklich gesagt hätte, dass sie auch ein Einzelzimmer für mich hätten? Das war der Moment für mein Gegengift. Kein Einzel-, erwiderte ich, sondern ein Doppelzimmer, in dem meine Frau mich bereits erwarte; ich hätte gerade auf dem Flugplatz noch mit ihr telefoniert. Man konnte sehen, wie es in dem Frager arbeitete, eine Option nach der anderen betrachtet und verworfen wurde. Gegen meine Geschichte gab es, wie ich erleichtert feststellte, kein Ankommen, nicht jedenfalls für eine Person vom Zuschnitt meines Gegenübers. (Dass es für jemand mit weniger Verstand immer noch Möglichkeiten gab, sollte ich 90 Tage später in Varanasi erfahren.) Das Taxi fuhr wieder an die Seite, der kleine Mann stieg unzufrieden aus. Und ich hatte fürs erste alle Tests bestanden, durfte unbehelligt nach Delhi zum üblichen Preis in das Hotel meiner Wahl.

Es lag in einem der äußeren schmutzigweißen Gebäudeblöcken, die in niedrigen Bögen den kreisförmigen Rajiv- oder Connaught-Platz, das Zentrum der Neustadt, umschwingen. Mein Zimmer ging auf einen versmogten Dachgarten, von dem ich auf die überquellenden Fahrspuren des äußeren Kreisverkehrs blickte. Knatternde, gelb-schwarze Kabinenroller bestimmten das Bild zwischen rußausstoßenden, großrädrigen Lastern und Verkehrsbusse mit Schlagseite. An die Kühe hatte ich mich schon auf der Fahrt vom Flughafen gewöhnt. Sie ruhten inmitten des Verkehrs, wie wenn es dort am wenigsten Insekten gab.

Dr. Dandapani hatte meinen Fahrplan ans Fremdenverkehrsbüro der Indischen Eisenbahnen gekabelt, und ich machte mich gleich auf den Weg, meine Platzkarten abzuholen. Mein Plan war, den Subkontinent zwei Monate lang mit der Eisenbahn zu bereisen. Dafür hatte ich eine Netzkarte, den Indrail-Pass, erworben und mir die Strecken im Voraus reservieren lassen. Die indischen Züge waren, hatte man mir gesagt, so gut wie immer ausverkauft, und Sitze meist nur kurz im Voraus zu bestellen. Es sei denn man erwarb die Bahnnetzkarte bei Dr. Dandapani, Generalverkaufsagent der indischen Eisenbahnen in Großbritannien, der einem mit dem Pass einen vollständigen Fahrplan ausarbeitete. Der meine sollte mich von Delhi nach Rajasthan, von dort nach Bombay, Madras, Goa und über Kerala wieder nach Delhi bringen, weiter nach Kalkutta und über Varanasi, Khajuraho, Agra erneut nach Delhi, dann in die Berge und ein letztes Mal nach Delhi, um von dort zurückzufliegen.

Neudelhis Hauptbahnhof, ein verwaschen roter Würfel, hinter dem sich endlos Gleisanlagen dehnen, war wieder von Vermittlern umlagert, die einen diesmal in die umliegenden Reisebüros schleppen wollten, wo’s gegen einen Aufschlag Bahn- oder Platzkarten ohne Schlangestehen geben sollte. Sie zu fragen, wo sich das Fremdenverkehrsamt der Indischen Eisenbahnen befand, hielt ich für sinnlos, selbst auf ihr „Where do you want to go“ entsprechend zu antworten, sie hätten mich auf jedem Fall zu ihrem Reisebüro gebracht und darauf bestanden, dies sei der Ort, wonach ich gefragt oder den ich auf ihre Frage als mein Ziel angegeben hätte. Statt dessen strebte ich so unbeirrt wie möglich in die mir vorherschwebende Richtung „erster Stock“ und entdeckte hinter einer verklebten Glasfassade das Nervenzentrum des Netzkarten-Programms der Indischen Eisenbahnen, einen größeren, plakattapezierten, neonflackerenden Raum, hinter dessen Metallschreibtischrunde Männer in Anzügen und Frauen in Saris wartende Ausländer, meist vom Sandalentyp, mit Platzkarten aus dem Touristenkontingent der Indischen Eisenbahnen versorgten. Das für mich vorbestellte Päckchen kam unter einem roten Brustschal, der meiner Sachbearbeiterin immer wieder über die Hände rutschte, zusehends zum Vorschein, ein, wie ich bald nachvollziehen würde, im Land als äußerst wertvoll betrachteter Schatz an raren Sitz- und Schlafgelegenheiten für lange Tage im Voraus.

Dandapadi hatte bestimmt, dass ich mich vor der großen Reise noch etwas in Delhi an Land und Leute gewöhnen sollte; so strich ich vor Sonnenuntergang durch die Straßen um mein Hotel. Der Winter zeigte sich in einem kühlenden Dunst aus Abgasen und Dämmernebel. Die Männer hatten auf indische Art Decken um ihre Schultern geworfen und lungerten, die Rikschafahrer bei ihren Kabinenrollern, die Schlepper an den Ecken der Hausblöcke. „Hashish? Gras?“ Nur nicht reagieren – auch nicht nein sagen, aus dem Gespräch kam man nie wieder raus. Ich lief den inneren Kreisverkehr der Anlage ab, die auf dem Stadtplan eindrucksvoller wirkte als in Wirklichkeit. Die schiere Ausdehnung wurde aufgehoben von der Niedrigkeit der Gebäude. Die Geschäfte in den Kolonnaden boten, was man in anderen Hauptstädten hier auch gefunden hätte, nur dass sie unregelmäßiger, vollgestopfter wirkten, an den kleinen Türen immer mehrere Schließvorrichtungen. Die Nebenstraßen waren schon nicht mehr gepflastert. Über Abflussrinnen hing ein Lichtkasten „Cybercafé“. In dem Verhau dahinter saßen westliche Rucksacktouristen an Computerbildschirmen über ihren E-Mail-Konten. Ich gab eine elektrische Postkarte auf.

Die Bettler schickten ihre Kinder vor. Den ganzen Tag über schon liefen sie mir zwischen den Beinen herum. Ich hatte Gummibärchen dabei, Kugelschreiberminen; aber nie genug. Als ich zum Hotel zurückkehrte, sah ich am Straßenrand eine Bettlerfamilie um ein Stück Pappe sitzen, darauf vor jedem Mitglied sein Teil des Abendessens. Es schien mir, als ob die Kinder vom Vater zur Ordnung gerufen wurden: Bei Tisch wird kein Unsinn gemacht!

Wo würden sie schlafen?

Die Zeitverschiebung hielt mich noch wach vor dem Fernseher im Hotelzimmer – alte Zelluloid-Dramen, die führenden Familien hellhäutig im Vergleich zu Dienerschaft oder Handwerkern, auch in ihren weiteren Zügen fast europäisch, herausgestrichen noch vom Schwarz-Weiß der Filme. Wenn eine Pistole in einer Schublade auftauchte oder eine ältere Dame einen Nervenzusammenbruch erlitt, fühlte man sich an deutsche Abendkrimis der 60er erinnert, gerad’ dass die Frauen Saris trugen. Alle waren sie verwandt oder verheiratet, ob besser gestellt oder Bettler. Noch die Mäuse im Hotelrestaurant rückten als Familie an und schienen als solche wohlgelitten. Auf den Straßen war inzwischen Ruhe eingekehrt, jedermann, wie’s schien, bei sich zu Hause.

Am nächsten Morgen sah ich, dass die Bettler neben dem öffentlichen Pissort um die Ecke übernachtet hatten, in dessen Amoniakdunst nun ihr Teetopf köchelte. Weiter nördlich nahm das Gedränge zu: Läden, Garküchen, sperrangelweit zur Straße und auf diese hinaus – Waren, Werkstätten im Freien – es gab kein Stehenbleiben, man hätte sonst ein Karrenteil oder Lattenbündel in den Nacken gekriegt. Eine Überführung hinab strömten immer noch mehr Menschen, nörgelnde Kabinenroller mit sich schleppend, Last- und Pferdewagen, Rikschas, Handkarren und Fahrräder. Am Brückenrand standen Brettervehikel mit heimischem Obst und Gemüse, grelle Gewürze zum Verkauf in offenen Jutesäcken, einer davon Ruhemulde für ein schwitzendes Baby. Erst auf der anderen Seite nahm die Menge ab, gab schnelleren Fahrzeugen nach sowie einem Platz mit Betonkiosk und Autorikscha-Ständen.

Ich handelte mit einem der verbissenen kleinen Fahrer eine Summe aus, und er tauchte mit mir in den mörderischen Hauptverkehr, seinen Kabinenroller durch jegliche Lücke voranjagend. Dabei rief er mir immer wieder Zahlen über die Schulter zu. Mir dämmerte, dass die Honorarverhandlungen für ihn noch gar nicht abgeschlossen waren, und ich fühlte mich bald überfordert, es dahin zu bringen; jedem entnervten Einverständnis meinerseits folgte der nächsthöhere Preis. Ich bat daher, aussteigen zu dürfen. Erst verstand er nicht, wollte dann nicht abbremsen, schraubte seine Ansprüche wieder zurück. Ich wollte nur noch raus aus der dröhnenden Kabine auf Rädern – dass sie nicht anhielt, machte mich rasend – und sprang ab, galoppierte zum Straßenrand. Ein Fahrradrikscha hatte mich beobachtet und blieb gleich neben mir stehen, klingelnd, klingelnd. Es dauerte eine halbe Stunde, das neue Beförderungsangebot, welches mir überall hin folgte, abzuschütteln.

Wegen solcher Geschichten zum Beispiel war der deutsche Stipendiat froh, das alles hier bald hinter sich zu haben. Ich hatte ihn in einer der Internet-Buden kennen gelernt. Für seine Doktorarbeit durchforschte er seit einem Jahr vor Ort Archive. In dieser Zeit schienen ihm Stadt und Bewohner nicht näher gekommen zu sein, obwohl er ihnen mit seinem vom Auspuffruß gesprenkelten Gesicht und der ständig erhobenen Stimme zu gleichen angefangen hatte. Die Leute hier blieben lieber unter sich, meinte er, besonders in ihren großen Familien; was darüber hinaus ging, spiele kaum eine Rolle. Ständig sei man als Europäer angeschmiert, von Darmgrippen bedroht, selbst aus versiegelten Mineralwasserflaschen. Und er mochte die Filme nicht, für die hier alle schwärmten. Ich notierte mir den Titel des gegenwärtig größten Hits. Es schien, dass er gleich um die Ecke lief.

Dort, unscheinbar zwischen den Läden, befand sich auch der meist verlassene Schalterraum des staatlichen Fremdenverkehrsbüros, wo mir die „große Stadtrundfahrt“ zugeteilt wurde. Im Frühnebel des nächsten Morgen wartete ein hochrädriger Bus. Seine Tour ging über eine moghulische Sternwarte und Grabanlagen zu den Stätten verschiedener Religionen, selbst der Bahai, die vom Programm im gleichen Maß bedacht wurden wie die alles überragende Gemeinschaft der Hindus. Die leeren Areale, in deren Mitte Mahatma Gandhi oder der Staatsgründer Nehru, seine Tochter und deren Sohn verbrannt wurden, bildeten den Schluss- und Höhepunkt der Führung. Kaum im altindischen Sinne religiös (Gandhi schöpfte aus dem Neuen Testament, Nehru war Atheist), hatten sie doch ihren Leichnam auf Hinduart aus dieser Welt entfernen lassen. Denn nicht der Körper eines Hindu würde, so unser Führer, wiederauferstehen, sondern sein Geist in einem neuen Geschöpf oder Dasein, welches er sich durch sein/e Vorleben eingehandelt habe. Jede Existenz, wie sie eben besteht, ist für einen Hindu demnach folgerichtig und offenbart einen großen Wille, der auf alles, was geschieht oder vollbracht wurde, in gerade sich zutragender Weise antwortet. Ein Auftritt ist das Leben in einer gewaltigen Vorstellung, der solange wiederholt wird, bis jede Geste sitzt; erst danach darf die Bühne, die diese Welt ist, auf Nimmerwiedersehen verlassen werden.

Vorher, auf dem staubigen Parkplatz des Lakshmi Narayan Tempels, hatten wir durch die Scheiben unseres Busses ein Bettelmädchen bemerkt, ihre schlanke Gestalt, den glänzenden Zopf, eine Blüte im Scheitel. Sie erhob sich von etwas, das sie gerade aß, schlang mit wenigen unvergleichlichen Bewegungen eine purpurne Schärpe über ihren schwarzen Hosenanzug und näherte sich. An der Hüfte hing eine Trommel, auf die ein gebogener Stecken sauste. Neben ihr aber warf sich, glöckchenbehängt, mit geschminkten Augen, ein halbnackter Knirps auf den Bauch – nahm einen Eisenring um den Hals und steckte, den Oberleib weit nach hinten biegend, die Füße in den Durchmesser. Staubwölkchen aufwirbelnd, wand er Kopf und Füßchen zugleich durch den kleinen Ring, bis dieser leer zu Boden fiel. Weiter folgte nichts. Kein Flehen. Kein Handaufhalten. Nachdem die Vorstellung beendet war, zogen die beiden sich zurück zur der Stelle, wo sie ihr Mahl unterbrochen hatten, und setzten es weiter fort.

Nach Westen

Der Film, vor dem der deutsche Stipendiat mich gewarnt hatte, hieß (auch in Hindi recht gewunden) Du weißt, dass du verliebt bist, wenn…: Ein Junge und ein Mädchen wachsen auf wie beste Freunde. Sie ist sehr burschikos. Als auf der Oberschule eine langhaarige Rivalin auftaucht, ist das Mädchen deren Fraulichkeit nicht gewachsen. Ihre Versuche, den Freund mit einem weiblichen Erscheinungsbild zurückzugewinnen, das sie erstmals ausprobiert, handeln ihr nur Gelächter ein. Er heiratet die andere. Diese aber, seltsam unwirklich von Anfang an, stirbt bei der Geburt der ersten Kindes, einer Tochter. Ihr trägt sie durch Briefe, welche die Großmutter der Enkelin zum achten Geburtstag übergibt, auf, den Vater wieder mit seiner Jugendfreundin zusammenzubringen. Die ist inzwischen jemand anderem versprochen. Auf ihrer Hochzeit wird in allerletzter Sekunde der Bräutigam durch den Jugendfreund ersetzt. Der Geist seiner Witwe taucht auf und gibt der Verbindung seinen Segen. – Im Grunde die Geschichte eine Geschwisterliebe, wie ich sie bald als eines der Hauptthemen von Ratgeberspalten hier entdecken würde. Die Filmmusik klang aus allen Geschäften, und ihre Lieder wurden von den Bettlerkindern um ein Almosen in den Gängen der Züge gesungen.

Aus der Wochenzeitung, die ich unbesehen von einer der Bodenauslagen unter den Connaught-Kolonnaden erworben hatte, war, wie ich erst später merkte, die Titelgeschichte herausgerissen worden. Der Rikschafahrer, mit dem ich danach zum Bahnhof wollte, brachte mich in das Hinterhofreisebüro eines Bekannten, egal was ich dazwischenrief. In dem angeblich preisgünstigen Hotel aus der Kolonialzeit, wo ich für meine Rückkunft in einem Monat buchen wollte, schlug man, indem ich mich als Nicht-Inder herausstellte, den (wesentlich teureren) „Touristentarif“ auf. Dann stellte sich heraus, dass ich mich die ganze Zeit über meinen Abfahrtbahnhof täuschte. Er war keineswegs mit dem identisch, in welchem ich die Platzkarten bekommen hatte; die Züge nach Rajasthan fuhren ab Delhi „Junction“.

Die Station lag nördlich der Altstadt. Ich erreichte sie mit hereinbrechender Dämmerung einen Tag vor Abreise, um herauszufinden, ob Züge hier auch wirklich und fahrplanmäßig abfuhren. In den kahlen Schalterhallen lagerten die Fahrgäste zwischen ihrem Gepäck am Boden. Es war nicht schnell genug durchzukommen, um die Schlepper abzuhängen, die auch hier wieder lauerten. Sobald man stehen blieb, etwa den ölfarbengemalten Fahrplan betrachtete, näherte sich jemand. „Where do you want to go?“ –Rajasthan. –Rajasthan, da drüben! –Ja, danke… –He! Wo gehst du hin? Rajasthan da drüben! –Ich will jetzt noch nicht nach Rajasthan, morgen. –Rajasthan da drüben! –Ja, ich weiß, aber ich muss jetzt noch nicht nach Rajasthan. Ich will mir heute nur den Bahnhof anschauen, die Atmosphäre aufnehmen.

Die Bahnsteige waren in klebrigen Smog gehüllt, nur matt durchdrungen vom Elfenbein einiger Oberleuchten. Menschenmassen lärmten die Überführungen hinauf, hinunter; Koffer tanzten auf den Köpfen rotgekittelter Gepäckträger. Die wartenden Züge zählten endlose Meter bauchiger Waggons mit längs vergitterten Fenstern, dahinter kunstlederüberzogene Pritschen. Alles war bis auf den letzten Platz besetzt, und Menschen hingen aus den Türöffnungen. Die klimatisierten Waggons mit blinden Panzerglasscheiben, für die meine Netzkarte galt, lagen weiter vorne, nur einer oder zwei pro Zug. Nach einer langen genauen Ansage in mehreren Sprachen über das nörgelnde Lautsprechersystem, erfolgte die Abfahrt – pünktlich. Beruhigt kehrte ich in mein Hotel zurück.

Tags drauf klapperte ich noch bis zur Abfahrt am Abend Sehenswürdigkeiten wie das Nationalmuseum ab, vernachlässigt und auf eine Art auch ganz am Nerv der Leute hier vorbei. Den traf viel mehr das in eine Wallfahrtstätte verwandelte Wohnhaus der Ex-Ministerpräsidentin, ein 60er-Jahre-Bungalow, in dessen Garten Indira Gandhi von ihren eigenen Leibwächtern erschossen worden war. Endlose Schulklassen, kleine heiße Hände, schubsten mich an den Ausstellungsstücken hinter Glas vorbei. Das Wohnzimmer war vollständig aufbewahrt worden und erinnerte mit seiner Mies-van-der-Rohe-Liege, den hohen Bücherwänden an etwas, das ich aus Kindertagen von zu Hause kannte. Auf dem Rasenweg war das eingetrocknete Blut überglast, das die von Kugeln Getroffene verlor. Ihre italienische Schwiegertochter fand sie noch am Leben und versuchte mit der Ohnmächtigen den Weg ins Krankenhaus; erst im Verkehrsstau von Neudelhi starb die schwer verwundete Indira Gandhi. Ihr Sari mit dem Einschussloch war ausgestellt – unweit der Turnschuhe, die allein von ihrem nachfolgenden Sohn zurückblieben, nachdem eine Bombe ihn zerrissen hatte.

Die Schulklassen hörten nicht auf. Jede hatte mindestens 100 Kinder. Eins die Hände auf den Schultern des Vorangehenden, schubsen sie durch die Anlage und hinaus auf die Strasse, wo ungeduldige Autofahrer ihre querende Schlange zerhupten, bis nur noch ein ungeordneter Haufen bei den Bussen auf der anderen Seite ankam.

Der Zug fuhr pünktlich wie nachts zuvor in Richtung Rajasthan. Mein Name hatte zwischen dem der übrigen Mitreisenden auf einem Computerausdruck gestanden, der neben dem schmutzigen Einstieg des klimatisierten Waggons klebte. Den mir zugewiesenen Platz fand ich in einer der Fensterkojen längs des Zentralgangs. Zwischen den Liegen auf der anderen Seite richteten sich Familien ein und ließen gleich die Vorhänge vor ihre Querabteile sinken. An Kontaktaufnahme war nicht zu denken. Ich holte meine Nickelkette mit Zahlenschloss hervor und sicherte das Gepäck, wie’s mir der Reiseführer geraten hatte. Die Sitz- und Liegebänke waren mit einem schmutzblauen Kunstleder bezogen, Rexin, das aber angenehm vor allem im Rücken wirkte, und ich schlief bald ein.

Über Nacht näherten wir uns der Thar-Wüste, an deren Süd-Ost-Rand sich die Festung von Jodhpur in den Stahlhimmel erhebt.

Jodhpur

Ein Kabinenroller brachte mich vom Bahnhof vor die sieben Tore der kleinen Stadt zu einem sagenhaften Ort. Als nämlich das Land vor 60 Jahren daniederlag und die Untertanen Hunger litten, hatte der hiesige Maharadscha Erbarmen und engagierte einen polnischen Innenarchitekten mit der Vorstellung eines Palastes, wie ihn die Welt bisher nur aus dem Film Metropolis kannte. Im Fürstentum gab es auf Jahre Arbeit, um die Ideen Stein werden zu lassen, der heute wie ein rotgewordener Petersdom in den Wüstenhimmel ragt.

In schwarzem Italienmarmor grüßte mich die Rezeption zum teuersten Hotel der Welt. In jedem Zimmer standen nur handgefertigte Jugendstilmöbel, die Bäder waren von Sandstein. Turbangekrönte Dienerschaft begegnete mir auf Schritt und Tritt; es konnte so viele Arbeit hier gar nicht geben (und manche standen wirklich auch nur da, um mich zu grüßen). Die öffentliche Herrentoilette war größer als ein Tennisfeld und in dunklem Edelholz gehalten, mit Frauenaktaufnahmen aus dem Dritten Reich. Die Böden polierter Stein, der jeden Fußtritt sichtbar machte und darum immer gleich wieder hinter einem her gereinigt wurde. Zwischen den himmelstützenden Säulen zum Pagodengarten stand eine Handvoll Tische, der Uhmaid Bhavan Palace „Coffe Shop“. Hier fand ich mitunter einen Gast, die Mehrheit aber waren Über-Tag-Besucher; denn hauptsächlich standen die Märchenzimmer leer. Der Manager konnte nicht einsehen, wie das an dem europäischen Wochenlohn liegen mochte, den man fürs Übernachten hier verlangte. Er selbst verdiente weniger als ein Zehntel dieser Summe.

Die wenigen Gäste waren hauptsächlich reichere Kaufleute aus dem Bundesstaat weiter südlich, die ein Sonderangebot nutzten, das auch hier wieder nur für Inder galt. Sie traten in großen geschlossenen Familien auf. Nicht leicht, mit irgendwem davon Verbindung aufzunehmen, ich blieb auf Mitreisende vom Stamm der Abendländer angewiesen, Stewart etwa, den neuseeländischen Filmregisseur. Seit sechs Monaten bereiste er schon den Subkontinent, wie es schien, häufig in Gesellschaft von Straßenjungen, die er ansprach, dass sie ihm zur Hand gingen. So ein Leben konnte er sich aufgrund ganz geringer Kosten hier im Lande leisten. Er wohnte in einem Bahnhofshotel unten im Ort und hatte das Palast-Hotel nur aufgesucht, um sich angesichts seiner „faschistischen Zinnen“ einen Joint zu genehmigen. Er überlistete einen der Turbanträger, uns immer tiefer in die Fluchten der Anlage zu lassen – zum Privatbereich des Maharadschas mit übergroßen Tigerfellliegen in leeren Wartehallen, Flachbrunnenbecken aus Glasziegeln, durch die gelbes Geleuchte webte, alles außergewöhnlich und unik bis in die Muster, die in jeden freien Millimeter Sandstein geschnitzt worden waren. Die Räume wirkten dabei, wie wenn sie von Anfang an mehr als Museum oder Kulissen für Filmaufnahmen geschaffen worden wären.

Beim Abendessen in dem kerzenschweren Repräsentationssaal gegenüber der Rezeption gab es weit mehr Kellner als Bediente, und ich hatte Mühe, das teure Mahl zu würdigen, indem seine Qualität nicht im Verhältnis zum Gewese stand, welches man darum machte.

Am nächsten Morgen war die Festung überm anderen Ende der Stadt zu erkennen. Ich wollte zwischen die Häuser darunter spazieren gehen, von dort vielleicht die Festungsklippe besteigen und sehen, wohin mich meine Füße sonst noch trugen. Draußen vorm Hotel lauerten die Taxi- und Kabinenrollerfahrer. Ich dachte mir einen Umweg aus, wurde aber, sobald dieser mich auf die Strasse zurückführte, von einem Taxifahrer eingeholt: Wo ich denn hinwollte? Ich antwortete etwas wie ‚mich treiben lassen’ oder ‚immer der Nase nach’. Aber das war nicht zu vermitteln. Dass ich mich im Freien einfach nur auf eigene Faust bewegen wollte, schien ungefähr so begreiflich wie die Vorstellung, dass jemand aus Spaß oder zur Entspannung die Strassen kehrte. Ich musste den Taxifahrer schließlich ohne die Beruhigung, von ihm verstanden worden zu sein, einfach fortjagen; er wäre mir sonst nicht von der Seite gewichen. In den lokalen Filmen sah ich später immer wieder, wie Ausländer bei allem Reichtum von Indern als nicht zu verstehende und mitunter bedauernswerte Narren angesehen wurden.

Die brüchige Chaussee nach Jodhpur säumten Baustellen, auf denen kleine Frauen in bunten Saris Dreck und Lehm in flachen Körben schleppten. Niedrige Häuserzeilen tauchten auf mit zur Strasse hin offenen Einzelhandels- und Kolonialwarenläden. Der Verkehr nahm zu und verstopfte bald ein Gassengewirr, das an den antiken Stadtmauerring stieß. Ich schob orientierungslos durch einen Wust von Fahrradfahrern, Schuhputzern, Teeverkäufern und Herumlungerern – rettete mich in einen Kabinenroller, der den steilen Weg zum Eingang der Festung hinaufknarrte.

Durch gewaltige Tore, stieg ich in übereinander gelegene Höfe und Paläste mit Wohnungen, durch deren Steingitterfenster man Land und Wüste himmelweit überblickte. Bei den südlichen Steinwällen warteten am Boden hockend lokal gekleidete Musiker, die wie ferngesteuert erwachten, wenn man sich ihnen näherte. Ein kleines kostümiertes Mädchen dreht sich um die eigene Achse, ohne dabei den geschminkten Blick von einem zu lassen. Indem ich nach Kleingeld in der Hosentasche suchte, schnellte ihre Hand hervor, während sie sich drehte und weiter drehte: „No 10! 20! Give me 20!“

Über die Steinwälle dahinter trug der Wind menschliche Geräusche hinauf. Kletterte man neben die alten Kanonen, kein Geländer oder Zaun hielt einen vor dem Abgrund zurück, sah man plötzlich unten die Häuserwürfel Jodhpurs, zusammengehalten von 10 Kilometer Stadtmauer, dahinter beginnend die Wüste und, etwas höher zur Seite, die märchenhafte Silhouette des Uhmaid Bhavan Palace. Die Wohnstätten des Brahmanenviertels zur Festungsklippe waren blau gefärbt. Auf den Dächern unterhielten sich Frauen, werkten, bügelten oder wuschen ihre Kinder. In den Gassen dazwischen drängten sich Mensch und Vieh. Alles hatte man von hier oben wie ein mittelalterlicher Fürst im Blick.

Bald schlossen die Tore der oberen Festung, und ich folgte den anderen in die tiefer liegenden Höfe. Die kleine Tänzerin von vorhin überholte mich. Ich erkannte sie erst nicht wieder in ihrem Straßenkleid. Als ob sie das amüsierte, lächelt sie zu mir hinauf: „You remember? I dance for you“ – und war schon vorüber, den Steinweg in den unteren Hof hinab auf zertretenen Gummilatschen, das Haupt in eine fromme Decke gehüllt, die mit einem Wurf über die Schulter den kleinen Rücken herabhing.

Der Sadar-Markt lag danach im Altstadtzentrum unter einer britischen Turmuhr. Was ihn sonst an Bogenreihen, -gängen und Gebäuden umgab, verschwamm unter dem Angebot der Händler, die hier die Eingeweide eines ganzen Warenhauses unter den Himmel gestülpt hatten: bunte Plastiksiebe, Waschschüsseln, Schuhwerk, Kleidung, Körbe, Koffer, Tiere, Pflanzen, Gemüse, Gewürze, Elektroartikel, Schreibwaren, Medikamente und Kassetten mit Filmmusik, laut in den Abend wiedergegeben von einer gehäuselosen, auf Holz genagelten Abspielvorrichtung. Daneben saßen verschwitzte Kinder auf Matten am Boden und bekamen die Haare geschnitten. Ein Spezialist mit verschieden langen Nadeln und Wattebäuschchen reinigte die Ohren. Dazwischen liefen Katzen, Straßenköter, Kühe, die mit ihren Hörnern aneinander gerieten in den engen Ausfallgassen.

Entlang der Häuser erstreckten sich, spärlich verdeckt, die Abflussrinnen und Kinderhintern pendelten auf kräftigen Oberschenkeln, um auszutreten, darüber in der Luft. Vorbeiknatternde Kabinenrolle wichen Leiterwagen, einer kleinen Herde Ziegen oder Gruppe schwatzender Mädchen aus, die in bodenlangen Gewändern heimwärts strebten. Türen, Fenster, alles stand weit offen, und man konnte sich nicht vorstellen, dass die Menschen hier Geheimnisse voreinander hatten. Das gesamte Leben spielte sich in der Öffentlichkeit ab, von ihr kontrolliert, aber auch vollkommen darin aufgehoben. Ein Einwohner Jodhpurs, in eine westliche Großstadt verpflanzt, würde seelisch in absehbarer Zeit zugrunde gehen.

Um die Ecke kam eine Hochzeitsgesellschaft, laut, bunt, so unmelodisch wie unerschrocken und überzeugt von sich in dieser Welt. Die Nacht brach herein, und ich machte mich auf den Weg, meinen Zug tiefer in die Wüste Thar rechtzeitig zu erreichen.

Rajasthan

Jaisalmer war ein Banditenlager, im Laufe von Jahrhunderten befestigt zu einem buckeligen, die Thar überblickenden Fort, um das sich Behausungen von Händlern und Quartiermachern drängten, die schließlich mit einer gelben Sandsteinmauer eingefasst wurden. So war die Wüstenstadt entstanden. Dass sie sich der Wegelagerei verdankt, springt einen an, sobald man den kleinen Betonbahnhof in die kalte Morgennacht verlässt. Polizisten bewachten dort einen wütenden, plakateschwenkenden Haufen von Schleppern und Taxifahren hinter einer Absperrung aus dicken Stricken. Ich war am Tag zuvor fernmündlich angewiesen worden, die Aufmerksamkeit eines bestimmten Fahrers dadurch auf mich zu lenken, dass ich den Namen des Landgasthauses, in dem ich gebucht hatte, herumrief. Ein jeder, der mich vernahm, gab an, mein Mann zu sein, ich hätte rufen können, was ich wollte – und zog es daher vor, mich erst einmal im Bahnhof nach Ruheräumen, wie sie Besitzern gültiger Fahrkarten manchmal zustehen, zu erkundigen. An unverfälschtes Weiterkommen war erst zu denken, nachdem die allgemeine Ankunftshysterie sich aufgelöst hatte.

Eine alte Frau mit Schlüsselbund brachte mich zum „Touristendorf“ der Indischen Eisenbahnen, einer Ansammlung runder Sandsteinhütten gegenüber dem Bahnhof. Von geschmackvollem Äußeren, fehlte es innen an Bettzeug, Licht, Armaturen, Toilettenpapier – anstelle stand ein kleiner Wasserkrug, mit dem ich meine Finger spülte. Es war stockdunkel, klamm. Ich packte mich in mitgebrachte Unfallfolie und schlief bis in den späten Morgen.

Nach dem Frühzug hatte sich die Lage draußen im weißen Licht der fernen Vormittagssonne beruhigt. Vorm Bahnhof stand nur noch ein Kabinenroller. Wir fuhren los. Da Winter herrschte, dauerte es lang in den Tag, bis der Boden sich aufwärmte. Gesträuch, hin und wieder künstlich bewässerte Pflanzungen säumten den Weg hinaus in die Wüste.

Mein Gasthaus, die Nachahmung eines kleinen Kastells aus Lehm, stand in einer Versuchsfarm für Obst- und Gemüse. Es wirkte auf den ersten Blick verlassen.

Der junge Maharadscha, der die Geschäfte führte, Gäste unterhielt und auf Kamelsafaris leitete, hatte geheiratet, und seine Teenage-Frau war eben eingezogen. Nebst Groß- und Schwiegermutter konnte man sie durch die Gardinen des Wohnzimmers vor einem Fernseher ausmachen, während ihr Mann am Gartentisch mir gegenüber Bier trank. Er war knapp 20, Lederjacke, Sonnenbrille, Ring im Ohr. Die Hochzeit, seit einem halben Jahr für jeden durchgekautes Thema des nun auch mir gereichten Gästebuchs, erfüllte ihn mit wenig Begeisterung. Er trauerte einer niederländischen Freundin nach, die auch gut mit seiner Mutter ausgekommen sei. Seine Eheschließung jetzt schien vom ganzen Landkreis herbeigesehnt und -gezwungen worden zu sein. Seine Frau habe eine gute Erziehung genossen, freilich, abgesehen von vielleicht Mathematik. Man ahnt, was er gerade für sie übrig hat, und weiß das Gästebuch nicht, wie eingeladen, dazu redlich fortzuschreiben. Die frische Gattin aber bleibt dem Gästeblick trotz gegenteiligster Verheißung vorenthalten, muss sich im Schatten von Groß- und Schwiegermutter einen Rang erst noch erwerben, am besten dadurch, scheint es, dass sie schleunigst einen Sohn zur Welt bringt.

Die Wüste wurde nicht richtig warm. Im Sommer soll es hier ein Glutofen sein. Im Dezember verzog ich mich früh verkühlt ins Bett und legte noch zwei Decken über.

Das alte Händlernest, die City, stand wie alle mauerfesten Städte gedrängt, enge gelbliche Passagen und Gässchen, in denen Kühe und Besucher streunen. Jedes der hohen Erkerhäuser war im Erdgeschoss ein Laden für touristische Artikel, und die Verkäufer ließen einem keine Ruhe, egal in welchen Winkel man sich verirrte. Noch auf den letzten Mauerresten strahlten Kinder, damit man sie für Geld fotografierte. Nach den indischen Atomtests neulich hier in der Gegend waren die Reisenden ausgeblieben; die trotzdem kamen, hatten nun für alles einzustehen.

Nicht wenige waren davor in die „German Bakery“ entkommen zu Kuchen und nördlichen Gerichten. „Deutsch“ stand nicht für Besitzer, sondern eine bestimmte Mischung aus Berechen- und Essbarkeit, bewerkstelligt in diesem Falle von Tibetern. Ihre Gäste kamen aus Europa, Israel, Amerika, Australien, wirkten aber auf der bröckeligen Dachterrasse allesamt vom selben anderen Planeten der Gediegenheit und Klopapierbenutzung. Endlich konnte man sich von gleich zu gleich mit jemandem unterhalten, dessen Sprache man verstand: über Kamelsafaripreise, Politik, den Dollarkurs – you name it…

Die Altstadt mit ihren Herrschaftswohnungen, kleinen Tempeln und elfenbeinernen Steinfenstergittern war wie Rothenburg ob der Tauber zu wirkungsvoll erhalten, um noch eine vom Tourismus unabhängige Lebendigkeit zu haben. Diese spielte sich mehr außerhalb der Festungsmauern ab. Mit zwei amerikanischen Reisenden zog ich hinunter. Der eine entwarf am Computer Autoteile und war trotz langem Pferdeschwanz voll Hass auf seinen Präsidenten, weil er im Fernsehen gelogen hatte. Der andere war ausgebildeter Ledernacken, hatte aber, als nach dem Golfkrieg kein Kampf mehr zu erwarten war, auf Drogenfahnder umgesattelt und wollte jetzt Sozialarbeiter werden. Seine Polizeidienst-Abfindung verbrauchte er gerade auf einer Weltreise: Anlandung in China, Essen von Straßenköchen, billige Hotels in Tibet – immer weniger Lust, überhaupt noch mal nach Hause zurückzukehren. Er hatte riesige nackte Füssen in Stoffsandalen und beschäftigte sich mit Weltuntergangsvorstellungen, die er uns zum Nachtmahl vortrug: Verbrecher würden schließlich das Kommando übernehmen und sich mit Geisteskranken zusammentun, das wäre dann das Ende. Was wir davon hielten? Er wirkte neugierig-ernst wie jemand, der die Gültigkeit eines langen Gedankens überprüfen wollte.

Es war inzwischen dunkel geworden, wüstenklare Sternennacht über den metallenen Schüsselchen und Schalen unseres Abendtisches. Vegetarisch bedeutete hier nicht Entsagung, sondern knusperige Gemüsestückchen in Mandelsoße zu Wein und Bier. Hatte nicht der Buddha selbst vom Fasten schließlich abgeraten? Das Gespräch ging zum Inhalt seiner Lehre: einer Kaufmannsreligion, die nicht unter Bauern hätte entstehen und Verbreitung finden können – ersetzt letztlich durch den Islam, der ebenfalls mehr aus den Städten als vom Lande gekommen sei.

Mein Zug nach Jaipur ging sehr spät am Abend, und ich wurde angeheitert im Kabinenroller zum Bahnhof rausgebracht. Um Platzkarten – die Schlange reichte bis auf den Vorplatz – brauchte ich zum Glück nicht anstehen. Aber die Übernachtung im „Touristendorf“ war noch zu bezahlen. Sie kostete ein Viertel mehr als ursprünglich angegeben und vor meinen Augen in eine Kladde eingetragen worden war. Auf meine Frage nach dem Grund des Unterschieds antwortete der Bahnhofsvorsteher mit: „Railway Policy“, dagegen könne man leider überhaupt nichts machen. Es handelte sich um einen zu verschmerzenden Betrag. War’s daher das Prinzip, an das ich mich nicht gleich gewöhnen konnte? Zur Kasse gebeten werden ohne Gegenleistung? War das noch Korruption, nicht schon Raub? Aber ich konnte es mir ja leisten, wollte nichts unnötig aufbauschen – und machte mich trotzdem mit einem nagenden Gefühl im Liegewagen für den Schlaf zurecht.

Jaipur

Im Anschlussexpress am nächsten Morgen kam dann heraus, dass ich Kamera und Lieblingslektüre im Nachtzug hatte liegen lassen. Der Weg zur Bahnpolizei erschien mir sinnlos, aber ein indischer Agraringenieur, der Deutschland einmal durch ein Praktikum kennen gelernt hatte und vom Reservierungscomputer auf dem Sitz neben mir platziert worden war, wollte solche „europäische“ Einstellung zu seinem Land nicht gelten lassen und hielt mich an, ruhig den offiziellen Weg zu gehen. Ich machte mich also in Jaipur auf, um den Verlust zu melden. Die Schuppen der Bahnpolizei befanden sich hinter den Gleisen, und mein Erscheinen dort löst erst Verblüffung, dann eine umständliche Geschäftigkeit aus. Ein Blatt Papier musste beschafft werden! Um meinen Fall zu protokollieren! Der auftauchende Zettel vermittelte den Eindruck, gerade aus einem Schulheft gerissen worden zu sein, und ich musste selber den Kugelschreiber stellen, damit der Vorfall aufgenommen werden konnte. Meine Ankündigung, mich am nächsten Tag nach eventuellen Ergebnissen zu erkundigen, wurde zur Kenntnis genommen.

Diesmal brachte mich und mein Gepäck ein Fahrradrikscha Richtung Unterkunft, die mir der junge Maharadscha des Landgasthauses vor Jaisalmer vermittelt hatte. Der dünne Fahrer wirkte schüchterner, ehrlicher als andere, die mir bisher begegnet waren, und ich konnte mich einmal entspannen im wie immer wilden Stadtverkehr, durch den er mich im Fahrradtritt bugsierte. Ein Pedal, das dabei abbrach, wurde auf der Stelle von einem Schmied in seinem offenen Laden wieder angeschweißt. Danach ging es in die wieder mauerumgebene City, die hier nicht mittelalterlich gewunden war, sondern in jedem ihrer weiten Straßenzüge und rosa Häuserblöcken den planerischen Willen des Rajputenherrschers kundtat, der sie vor wenig hundert Jahren nach Maßgabe heiliger Texten hatte entwerfen und bauen lassen. Meine Stadtwohnung lag über einer der großen Kreuzungen im Osten und wäre von mir, als ich von einer Etage zur nächsten über Zwischentreppen und Lichthöfe danach suchte, beinahe nicht gefunden worden. Die andren Gästezimmer standen sämtlich leer. Zwei Diener tauchten auf, allein zu meiner persönlichen Verfügung. Aber mir fiel nichts ein, was ich ihnen hätte auftragen können. Der eine war auch Koch und zeigte mir das Gästebuch, in welchem seine Leistungen gepriesen wurden. Er erwartete wohl eine Anweisung für den Abend. Ich aber wollte erst einmal die Stadt sehen, Geld umtauschen und mich nicht jetzt schon in den Tag verpflichten. Was zu bedeuten schien, dass meine Diener dann eben warteten. Solange bis ich ihnen etwas zu tun geben würde. Dass ihre Lage dadurch von meinen Launen abhing, schien ihnen weniger auszumachen als mir.

Beim Verlassen des Wechselbüros passte mich ein Fahrradrikschafahrer ab, der schon vorher unverlangt den Weg zum Gebäude gewiesen hatte, in Erwartung, dass ich dafür sein Fahrgast würde. Ich versuchte, nicht auf sein Winken, den gereckten Kopf zu achten. Aber er folgte mir, quer durch den Straßenverkehr, über die hohen Bordsteine des Mittelstreifens und entlang den lärmenden Geschäftezeilen, als gelte es, mich zu erlegen. Sein treuer Blick wurde mir unheimlich und provozierte endlich Gesten, die mir gerade noch an uniformierten Indern oder Brahmanen, wenn sie Bettlervolk zurechtwiesen, unangenehm aufgefallen waren: ‚Weg! Lass mich in Ruhe! Vollidiot! Versteh doch, das ich nichts mit dir zu tun haben will!’ Ich entkam in wilder Flucht zwischen Autos, Fahrräder, Pferdewagen, Mopeds, Kühe, Kälber, Kamele, Schafe, Hunde und Elefanten, die zwischen Bussen und Kabinenrollern auf Jaipurs Altstadtmauerstraße wankten. Es gab hier wirklich Elefanten auf der Straße.

Es wurde dunkel, und in den Läden um meine näherrückende Bleibe flammte Licht auf, Glühbirnen oder Gas, unsicheren Schein auf Waren und Geräte werfend, aus offenen Geschäften, deren einziger Raum nicht mehr als eine große Waage enthielt, Drogerien mit verblichenen Verpackungen in holzgefassten Vitrinenschränken, Teestuben, Läden, die gestapelte Süßigkeiten aus Milch und Zucker verkauften, Stellen mit Obst, Gemüse, daneben Schreibwaren, Puppen, Stoffe und Textilien, Gewürze, Tempel neben Mehlsäcken, Parfümerien und eine Schmiedewerkstatt, Fahrradverkäufer und Läden für Lampenschirme, Götterbilder, Würfelspiele, Hanteln, Messingaffen in Boxershorts und Gebetsglocken. Daneben urinierten Kinder, Knaben, Mädchen, im Hocken, und Säuglinge zappelten auf verschwitzten Unterlagen.

Die Diener warteten zu Hause und leisteten mir vorm Einschlafen Gesellschaft. Der Koch, stellte sich heraus, hatte über ein halbes Dutzend Kinder – wollte erst damit aufhören, wenn er „eine Kricketmannschaft“ beisammen hatte. Er war ein Moslem, keine 30, die sich nach Meinung der Hindus am stärksten in Indien vermehrten. Ich versprach, am nächsten Abend, bevor mein Zug fuhr, noch von seiner Kunst zu kosten.

Die Bahnpolizei am nächsten Morgen schien peinlich berührt, mich schon wieder zu sehen, eine Unannehmlichkeit, die ich ihnen auch selber lieber erspart hätte und mehr aus Unsicherheit über die Schicklichkeit meiner Annahme, sie würden eh nichts erreichen, zumutete. Höflichst würdigte ich ein bisschen ihre Zurschaustellung von Bemühtsein, um mich möglichst bald in Richtung Bahnhofsvorplatz zu empfehlen. Denn ich verspürte sehr die Weiterungen dessen, was ich mir trotz allergrößter Vorsicht mit irgendeinem Essen eingehandelt haben musste.

In den Aborten neben dem Bahnhofswartesaal war ein trockener Stand nur auf zwei fußförmigen Erhöhungen inmitten einer Lache möglich, die man überspringen musste. Der folgende Balanceakt machte es unmöglich, auch noch Papier ins Spiel zu bringen, so dass die Säuberung mit Hilfe dessen, was ein seitlich angebrachter Wasserhahn ausspuckte, erfolgen musste – ein wesentlich gereinigteres Fühlen hinterlassend als jedes trockne Wischzeug. Die Not weit jeder privaten Zuflucht ohne Papier und trotzdem unbefleckt überstanden zu haben, nahm für mich allen vorstellbaren Lagen gleichen Inhalts in der Zukunft den Hauptteil ihres Schreckens. Denn mindest Wasser war ja auf alle Fälle zu erwarten.

Zur Stadtrundfahrt des staatlichen Fremdenverkehrsbüros hatten sich hauptsächlich Inder aus anderen Teilen des Landes eingefunden, darunter wie so oft auf Inlandsreisen mindestens zwei Flitterwöchler. Der Bräutigam, keine 25, trat bereits wie ein allwissender Stammvater auch gegenüber der restlichen Busgesellschaft auf; während seine pummelige Gefährtin, im Dralonpulli trotz der Sonne, meistens schwieg, ohne ihm dadurch recht zu geben. So ging es hoch über die Stadt zur landesüblichen Festung, gab die leeren Gemächer von neun Maharanis zu durchwandern und beim Mittagessen erneut die Frage, wieso dieselbe Speise für Ausländer doppelt so teuer war wie für Inder. Diesmal lag es an der „besondern Butter“, die, so der Geschäftsführer, eigens zum Einsatz käme.

Ich stieg früher an einer belebten Kreuzung aus und wühlte mich durch den heftigen Lebensstrom in Richtung meiner Bleibe, die ich heute Abend noch für die Schmalspurbahn nach Udaipur verlassen würde. Vorher sollte der Koch mir noch zeigen, wie weit er den Empfehlungen genügte, die in allen Sprachen der Welt sein Gästebüchlein füllten. In einem Verhau hantierte er über nicht mehr als zwei Gasflammen, während ich auf die Dachterrasse komplimentiert wurde, um das Mahl hier oben zu erwarten.

Man konnte hinunter in die Strassen und weit über die vielen flachen Häuser der rosafarbenen Hauptstadt blicken. In der Abendluft wimmelten bunte Papiervierecke, Drachen, die von Kindern auf den Dächern bewegt wurden. Manche hatten ihre Steuerseile mit Glassplittern gespickt, um wettstreitende Nachbarn zu kappen, schlugen dazu wilde Kapriolen, während ihre kleinen Steuermänner, den Arm überm Kopf hin- und herzuckelnd, rückwärts zu den niedrigen Einfassungen glitten, Katzen oder Affen störend, die hinüber sprangen zum nächsten Flachdach oder hoch auf die Kamine jagten.

Mein Abendbrot bestand aus Fladen und Gemüse-Huhn in einer würzigen, üppigen Tunke, deren Unwiderstehlichkeit wie die der meisten indischen Soßen auf flüssiger Butter beruhte. Sie veredelte hier fast jeden Haupt- und Nebengang, so dass man’s dem, der sie sich leisten konnte, bald am Körperumfang ansah.

Am Bahnhof traf ich Stephen, den Outdoor-Entrepreneur aus Neuengland, wieder, der über Land Pensionen und Hotels für seinen Ein-Mann-Netzstandort im WWW abklapperte, auf dem er Amerikanern Reise-Unterstützung anbot. Wir hatten uns im Cyber-Café kennen gelernt im Anschluss an ein Streitgespräch mit dem Besitzer über die Höhe seiner Preise. Stephen war ein Pfennigfuchser, denn er hatte, was man ihm nicht ansah, kaum Bargeld für seine langen Fahrten zur Verfügung. Wie ich nahm er den Nachtzug nach Udaipur, aber im Sitzen.

Udaipur

In Udaipur, dem Venedig Rajasthans, ist einmal der 13. James Bond gedreht worden, Octopussy, und läuft seitdem als Video an jedem Abend in den Gastwirtschaften und überlaubten Dachcafés der Altstadt. Arabisch enge Gassen bremsen die Kabinenroller, hinauf und abwärts um den vielfältigen Maharadscha-Stadtpalast am Ufer eines hitzeglatten Hochsees. In seiner Mitte aber schwebt flach das helle Mamorgeviert der Sommerresidenz des Fürsten, aus kleinen Fenstern auf Seerosenfelder blickend, und lautlose Barkassen landen Gäste aus aller Welt ans teuerste Sternenhotel.

15 Stunden hatte die Meterbahn für 700 Kilometer hier hinauf gebraucht. Unter den Fremden an Bord eines der seltenen Paare junger Amerikaner; sie müssen ihren Job aufgeben, um einmal länger als drei Wochen zu verreisen. Eine vielsprachige junge Bulgarin in weiten Gewändern belehrt sie über die Verrohtheit Westeuropas. Wovon sie selber ihren Unterhalt bestritt und reiste? Im Moment ginge das nun mal für die Elite ihres Landes, zur der sie sich zählte, nicht mit rechten Mitteln.

Mein schmales Hotel blickte aus fünf übereinander stehenden Bogengängen auf den Pichola-See. Von den alten Badetreppen der Altstadt klatschten die Wäscheflegel herüber. Man hörte Menschenrufe, ansonsten aber herrschte für Indien beinah gespenstische Stille. Der Stadtpalast türmte sich hinein mit Erkern und Balkons über steilen Fundamenten am anderen Ufer. Die stelzen Türmchen und das Maßwerk waren oft vom Regen angelaufen, ursprünglich wohl nicht als Bollwerk für die Ewigkeit, sondern gleich einem Bühnenbild zum luftigen Vergnügen aufgerichtet. In den Marmor waren Bilder von Vögeln, Speisen, Pflanzen eingelegt. Schuttbeladene Zwergesel, getriebenen von einem bunt eingewickelten Unberührbaren-Mädchen, galoppierten darunter in die Richtung einer Brücke, und die Touristen in ihren zu kurzen Hosen sprangen aus dem Weg.

Wie in Jaisalmer gehört die Altstadt den Besuchern, wurde einem aus den Läden nachgerufen. Weiter draußen auf einer Freilichtbühne gab es abends Volksdarbietungen, deren wechselnde Darsteller im Schluder ihres Kostüms und Vortrags eine grandiose Baufälligkeit fortsetzten, nur kurz herausgefordert von einer dicken Zirkuskünstlerin, die, barfuss über aufgestellte Schwerterschneiden trampelnd, eine Kaskade landestypischer Töpfe auf ihrem Scheitel balancierte.

Als der Kabinenrollerfahrer zurück ganz selbstverständlich wieder ein Vielfaches von dem verlangte, was diesmal sogar auf städtischen Lackbuchstabentafeln vor dem Palast als Richtpreis aufgepinselt stand, und die Gültigkeit solcher Angaben, als sie ihm gezeigt wurden, ausgerechnet für Touristen wegzuerklären versuchte – fing ich endlich an zu schreien. Was mir indes in anderen Asien-Ländern Betretenheit, einen Gesichtsverlust eingehandelt hätte, wurde gleich als Eröffnung der Verhandlungen genommen, als deren Endergebnis ich mich mit der immer noch überhöhten Hälfte der Anfangsforderung begnügen musste.

Stephen, der mich begleitet hatte, zog gleich einen anderen listigen kleinen Fahrer heran, keine 16, Zuwendungsempfänger nach eigenen Worten einer australischen Touristin, eines holländischen Jungendfreundes – Organisator von Bier nach Ladenschluss, Rauschgift und leichten Mädchen. Nur was Kinokarten anging, musste er passen. Sie sind in Indien schwieriger als Heroin zu kriegen. Wir interessierten uns danach noch für die Mädchen, aber auch diesbezüglich, stellte sich heraus, verfügte er einstweilen mehr über Fantasien als Kontakte. King-Fisher-Bier konnte er immerhin zwei Flaschen (aus einer finsteren Etagenwohnung) organisieren, und wir zogen uns damit in die Hotels zurück.

Stephen musste für seines nicht weiter aufkommen, da er’s, wie man ihm glaubte, für nachfolgende Kunden in Augenschein nahm. Er handelte um jeden Schluck Wasser und fand umso mehr Geschmack an etwas, je weniger es kostete: Linsensoße auf Reis mit Joghurt und einer halben Flade in der speckigsten Busbahnhof-Kaschemme. Vorm Puppenmuseum kaufte er kleine fleckige Bananen auf der Strasse, gab davon den Bettelkindern, die ihn umsprangen, und sie warfen die Gabe im Handumdrehen auf den nahen Mistberg.

In den geduckten Fluchten des Puppenmuseums mit bunt angezogenen Rajasthan-Figuren hingen hinter gewelltem Glas Urkunden über Festivalteilnahmen in Moskau oder Rumänien 1965, und zu zerkratzter Schaumusik ließ ein geschminkter kleiner Mann Marionetten, die, je wie man sie hielt, männlich oder weiblich erschienen, über eine Puppenbühne wirbeln. Wie bei den Volksdarbietungen am Vortag überwog der Eindruck einer staubigen Boheme.

Und durch die ganze Stadt und Vorstadt kutschierte uns jetzt der Kabinenroller von Stephens kleinem Fahrer, der wieder aufgetaucht war mit dem Versprechen eines Freudenmädchens, einer streng vertraulichen Adresse, so geheim, dass er sie selber noch nicht kannte, dafür den- oder diejenigen Personen, welche man fragen konnte, die nacheinander abzuklappern waren und immer neu sich neben den dünnen Fahrer klemmten, ihn zwischen Lastern, Bussen und wegspringenden Menschen, Tieren hindurch in weniger bebaute Gegenden bugsierend – hinaus aufs Land vor der inneren Stadt zur Abzweigung über einen leeren Flusslauf, wo wir aussteigen sollten und warten auf der Brückenmauer bei einem Küchenkarren, dessen junge Besitzerin Tee mit Milch verkaufte. Der Fahrer und sein ebenso alter Freund, der „Kontaktmann“, knatterten in eine modernere Ansiedlung hinauf, um das Terrain zu sondieren. Die Zeit verstrich. Während Stephen unerschrocken den in meinen Augen garantiert verseuchten Milchtee kippte, malte ich mir aus, was uns widerfahren mochte – ein Wohnraum voll wartender Männer, ein Stoffvorhang statt einer Tür zum Nebenzimmer, darin eine überzogene Matratze auf Betonboden und in der Ecke in bonbonbunter Plastikpapierkorb voller… Erleichtert vernahm ich die Auskunft unserer mutlos rückkehrenden Vermittler, dass heute nichts daraus würde. Was mir in Anbetracht ihrer Milchgesichter vielleicht schon eher aufgegangen wäre, hätte uns alle nicht eine Fantasie – von schnellem Geld, exotischen Genüssen – erwischt gehabt, zu indisch-bunt, um ihr zu widerstehen.

Stephen musste weiter zum nächsten Zug, und ich nahm mir den Abend frei auf einer der Restaurant-Terrassen über der Altstadt. Auf den Dächern der Häuser schliefen ältere Bewohner, während das Sonnenrot vom See herüberwehte. Wie aus weiter Ferner klang einmal das Knattern eines Mopeds aus den Straßenschlüften, ansonsten war es beinahe überirdisch still. In der Baumkrone beim alles überragenden Tempel sah man Affen springen – auf die Dächer der Hochcafés mit ihren handgemalten Schildern zu dem Video von James Bond. Mit einem weiten Blick war der aufgetürmte Prachtbau des Maharadschas im zarten Dämmer und weiter untern auf dem See der weiße Sommerpalast zu erfassen, wo man das meiste des Abenteuerfilms gedreht hatte. Die Familien waren herausgekommen, alt und jung auf ihre Dächer, und die geschlafen hatten, standen jetzt bei den anderen. „Es war der Abend eines Tages im Himmel“, schließt das Ramayna. „Die Luft war samtig dunkel und die Frühlingssterne wiegten sich in ihrem Netz aus Wind. Glänzende Seelen wandelten den hohen Weg, und Schwärme himmlischer Singvögel strichen heraus, wimmelten durch den Ozean des Raumes. Und die unschuldigen Himmelsrehe sprangen glitzernd wie die Götter.“

Am nächsten Tag stand meine Weiterreise nach Bombay an. Vorher besuchte ich noch den Stadtpalast unmittelbar, ein wachsendes Konglomerat, wenn man sich nähert, von Balkonen, Türmen, Kuppeln. Der Vorhof hinter steingeschnitzten Marmorbögen wimmelte von Besuchern, vielen indischen Klassen in Schuluniform. Eine abgekordelte Strecke wand sich in die Gemäuer vorbei an Nischen, Sackgassen, durch schmale Gänge, Galerien und nie größer werdende Lichthöfe zu verschiedenen Aussichtspunkten über Stadt und See. Bei aller Wucht von außen hatten die durchquerten Räume eher Wohnzimmercharakter, ornamentiert zwar und mit schönen Stücken ausgestattet, aber höchstens einer Handvoll Menschen auf einmal Anwesenheit gewährend. Repräsentiert wurde im Freien, wo sich der Maharadscha einst in Silber oder Gold aufwiegen ließ, das danach seinen Untertanen zukam.

Deren Nachfahren arbeiteten noch heute, wie mir schien, hauptsächlich mit den Händen und hatten auf einer Baustelle unter dem Hotelzimmerfenster während der Zeit meines Aufenthaltes mehrere Kubikmeter Erde in flachen Körben bewegt, die sie auf dem Kopf über die Strasse trugen. Ihr maschinenloses, daher wenig störendes Gehacke vermischte sich mit dem Echo des Wäscheflegel vom See. So muss es im Mittelalter auch einmal bei uns geklungen haben, wenn Menschen arbeiteten, solange wie es natürliches Licht gab, und danach zur Ruhe gingen.

Nach Bombay

In Richtung Bombay ging zunächst der Nachtzug nach Ahmedabad, und eine kleine resolute Frau beherrschte das Abteil, in dem mir eine Koje zugewiesen war. Ich musste die Türe gewaltsam wieder aufreißen, um meinen Platz zu nehmen. Sie würdigte mich keines Blickes. Als dann ihr Gatte, ein Rechnungsprüfer, hinzukam, entspann sich aber ohne weiteres ein Gespräch – unter Männern, versteht sich – über familienplanende Hindus, Moslems, die zu viele Kinder hätten und die hoffnungslosen Einwohner der Provinz Bihar, welche sich alle für Politiker hielten. Bald hatte der Bummelzug uns in den Schlaf geschaukelt.

In Ahmedabad im Morgengrauen kaufte ich Zeitschriften für die Weiterfahrt nach Bombay. Der Leitartikel galt der schiksalumwehten Filmfee Rekha. Seit ihrer Kinderzeit vor tausend Kameras, hatte sie lange in ehebrecherischem Verhältnis mit einem berühmten Kollegen gelebt, dann selber einen sehr reichen Mann geheiratet, der sich nun umgebracht hatte. In einem langen Interview gesteht sie, dass der wichtigste Mann in ihrem Leben der Vater war und bleibt, ein Schürzenjäger. Auch ihre Kollegin, der Superstar Kajol, berichtet lang und breit von der überragenden Rolle ihres Vaters. Mir fällt auf, dass etliche Filmstars miteinander verwandt und auch nicht selten in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten sind. Alles bleibt in der Familie, die einen Lebensweg vorausgibt.

Der Großraumwaggon nach Bombay bestand aus höchst zerschlissenen, bequemen Kunstledersesseln, und jeder hatte seinen Ventilator, der an der Decke über ihm mit all den anderen in einer grauen Dünung aus Drahtgehäusen seine Kreise strich. Die Fenster standen offen auf eine Art, die eingab, dass sie nie verschlossen waren; schräge Gitterstäbe hinderten am unkontrollierten Aussteigen. Die farbige Wucht der vorbeiziehenden Landschaften und auf Zwischenhalten drang ungefiltert an die Sinne und übertäubte, was sie sonst beschäftigte.

Von den Bahnsteigen sprangen fliegende Verkäufer an Bord und unberührbare Kinder, die mit Reisigbündeln am Boden wurstelten und dafür ein Geld einsammeln kamen. Der Boden war so unsauber wie zuvor; sie hatten nur den Schmutz herumbewegt. Was mir in dem Lande auch bei anderen Verrichtungen auffiel: sie wurden in erster Linie dargestellt, sinnbildlich vorgeführt. Wenn ein Brahmane sich mit Flusswasser wusch, womöglich eine Stunde lang, war er danach unter Umständen sogar verseuchter als zuvor. Aber er hatte alle richtigen Bewegungen gemacht. Und fühlte sich in diesem Sinn restlos gereinigt. Wie wir ja auch zum Beispiel glauben, etwas für unsere Gesundheit zu tun, wenn wir Mineral- statt Leitungswasser trinken, obwohl es nachweislich unreiner ist.

Eines der Kinder, ein verkrusteter kleiner Junge, schaffte sogar wirklich Unrat von Bord. Mit seinen schrundigen Händen wühlte er den nassen, riechenden Müll aus den Abfalleimern und stopfte ihn in die Lücke zwischen Waggoneinstieg und Bahnsteig. Sein Kumpan krähte dazu das Titellied des großen Liebesfilms, den ich in Delhi gesehen hatte, mit dem Kehrreim: „Nicht wacht mein Herz, noch schläft es. Was soll ich tun? Es ist etwas geschehen, es ist ihm was geschehen…”

Ein wohlhabenderer, feister Inder mochte solch Bettelkinder gerade mit seiner ringestrotzenden Hand davonwedeln – sie stoben klaglos weiter, sprangen, wenn jetzt noch der Schaffner auftauchte, vom anfahrenden Zug und rappelten sich draußen wieder wie die kleine Tiere.

Die Türen der Waggons wurden dann nicht etwa geschlossen, während der D-Zug weiterfuhr, und wer wollte, konnte sich immer einen Weg zu den dort meist Versammelten durchbahnen, um seinen Teil in den Fahrtwind herauszuhängen.

Mir gegenüber saß ein, wie sich im brüchigen Gespräch herausstellte, spanischer Yogalehrer, der Indien seit Jahren beehrte und sich inzwischen hier ein Häuschen suchte. Er gab die besondere Mischung aus Loyalität und Ekel von sich, die man zuletzt fast immer von Indien-Kennern erdulden muss: Kenn’ du das alles erst mal hier wie ich – dann kannst du dich beklagen!

Die Belehrungen solcher Experten werden in der Regel mit einem lauernden „Bist das erste Mal in Indien?“ eingeleitet. Wer sich danach als Grünschnabel verrät, ist einer längeren Unterweisung über Land und Leute sicher, die in der Ermahnung gipfelt, keine europäischen Maßstäbe anzulegen, denn „dies“ sei „Indien“! Was andererseits wieder gar nichts hieße, denn zu jeder Tatsache über den Subkontinent könne man, ohne dabei zu lügen, auch ihr Gegenteil feststellen.

Mich haben solche relativierenden Aussagen immer gelangweilt; sie sind so leer wie „Entweder es regnet, oder es regnet nicht!“ Ich riskiere lieber Verallgemeinerungen: dass sich z.B. auf dem ganzen Subkontinent ein Mann und eine Frau in einem Film nicht küssen – dass überall die Zugtüren während der Fahrten offen stehen und es keine Hundehalsbänder gibt.

 

 

Hier bricht der Text ab. Laut Exposé sollte es weiter gehen mit Bombay, den Menschen, die dort auf der Strasse leben, und einem Aufenthalt im Taj, der Mutter aller Luxushotels. Weihnachten erlebt der Autor in Matheran, einem Ausflugsort für die indische Oberschicht. Dann weiter im Zug nach Madras, wo die Leute ruhiger sind, und zu den grellen Tempeln Madurais. Von dort in die Hügelfrische Ootys mit ihren Berghütten im englischen Stil und Kaminen in den Zimmern. Dann – über Mysore und Bangalore – nach Goa zu den übriggebliebenen sowie zurückgekehrten Hippies. Nach Cochin. Im Schiff durch die backwaters von Kerala nach Trivandrum. Mit dem Rajdhani-Express nach Delhi. Das Oberoi Maidens Hotel. Die grosse Moschee. Nach Kalkutta. Das Fairlawn-Hotel, Knotenpunkt der Asienkenner. Im Kalitempel werden Tiere geopfert. Benares. Heilige Stadt. Internet-Cafés und Scheiterhaufen. Kajuraho. Die erotisch verzierten Tempel eines untergegangenen Stammes. Dann im Auto nach Sanchi. Buddhistische Heiligtümer. Agra. Das Taj Mahal wie von einem anderen Planeten (selbst die Inder wirken hier wie zu Besuch). Simla im Himalya. Sommersitz der englischen Vizekönige. Mit dem dritten Besuch Delhis, dort einer Vielzahl indischer Filme endet Thaus peinliche Indienreise.  

 

 

Herkunftsnachweis

Martin Thau

Tegernseer Landstraße 30

81541 München