Das Handtuch mit dem Hahn

Ich habe heute mit Michail Bulgakows ARZTGESCHICHTEN angefangen und werde die Geschichten, so wie ich sie lese, hier nacherzählen.

Die erste heißt „Das Handtuch mit dem Hahn“. Bulgakow wird als junger Arzt in einen gottverlassenen Ort gebracht. Die Straßen sind so schlecht, dass der Fuhrmann für 40 Kilometer 24 Stunden braucht. Der Fuhrmann sagt, dass er die Strecke seit 15 Jahren fährt und sich immer noch nicht an die Zumutung gewöhnt hat. Als Bulgakow ankommt, ist er so durchfroren, dass seine Zehen „wie Holzstückchen in den Stiefeln liegen“. Er kriecht bei seiner Gastfamilie unter und schaut sich im Krankenhaus des Ortes um, seinem neuen Arbeitsort, der noch ganz vom Geist seines Vorgängers beherrscht wird.

Die Passage, in welcher das kleine Krankenhaus beschrieben wird, ist großartig. Die nächtlichen Räume sind menschenleer. Aber alles scheint in tadellosem Zustand, die Geräte, die Bibliothek, in welcher Fachbücher stehen, die der junge Bulgakow nicht mal in der Unibibliothek gesehen hat. Sein Vorgänger muss ein sehr engagierter, fähiger Arzt gewesen sein, der in der Wildnis eine Apotheke mit „ausländischen Medikamenten“ aufbaute. Bulgakow dagegen ist noch sehr jung, keine 25 Jahre. Er sieht aus wie ein Student, bemerken die Hebamme und der örtliche Feldscher.

Da kommt sein erster Patient, mitten in der Nacht. Wir wissen erst nicht, wer es ist, erfahren nur von einem verzweifelten Mann, Bulgakow solle „ihr Leben“ retten, auch wenn sie verkrüppelt werde. Das mache nichts aus. „Wir füttern sie durch.“

Im Operationssaal liegt dann ein junges Mädchen, das in eine Landwirtschaftsmaschine geriet, die ihr die Beine zerschmetterte. Sie ist ohnmächtig. Beschrieben wird sie hauptsächlich über die Länge ihres Zopfes. Sie ist von übermenschlicher Schönheit, die Mutter offenbar schon länger verstorben, nun will der Vater nicht auch noch ihr Ebenbild in der Tochter verlieren.

Aber es sieht schlecht aus, sie ist so gut wie tot, ihr Puls kaum zu spüren. Trotzdem macht der junge Arzt sich daran, ihr zerschmettertes Bein zu amputieren. Die nächtliche Szene im Operationsraum ist ein weiterer Höhepunkt der Geschichte.

Das bleiche Mädchen mit dem Zopf wird dann zum Sterben ins Bett gepackt. Ihre Chancen zu überleben sind minimal, so viel Blut hat sie auf dem Weg zum Krankenhaus (10 Kilometer) verloren.

Zwei Monate später kommt sie auf Krücken strahlend ins Behandlungszimmer. Auch der Vater ist überglücklich. Es wird besprochen, wie man in Moskau eine Prothese für sie machen lassen kann.

Die Geschichte endet dann so:

Sodann band sie, an den Krücken hängend, ein Bündel auf, und heraus fiel ein langes schneeweißes Handtuch mit einem kunstlos eingestickten roten Hahn. Dies also hatte sie bei den Visiten unter dem Kissen versteckt. Richtig, ich erinnere mich, auf dem Nachttisch lagen Fäden.
„Ich nehm‘s nicht“, sagte ich rauh und schüttelte sogar den Kopf. Aber sie machte ein Gesicht und bekam solche Augen, dass ich es doch nahm.
Viele Jahre lang hing es in meinem Schlafzimmer in Murjewo und ging dann mit mir auf Reisen. Zuletzt wurde es mürb, verwetzt und löcherig und verschwand, so wie auch Erinnerungen mürb werden und verschwinden.