DER LETZTE DEUTSCHE Glosse von Botho Strauß | Deutung

“Manchmal habe ich das Gefühl, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein. Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche. Einer, der wie der entrückte Mönch von Heisterbach oder wie ein Deserteur 60 Jahre nach Kriegsende sein Versteck verlässt und in sein Land zurückkehrt, das immer noch Deutschland heißt – zu seinem bitteren Erstaunen. Ich glaube, ich bin der letzte Deutsche. Ein Strolch, ein in heiligen Resten wühlender Stadt-, Land- und Geistesstreicher. Ein Obdachloser.”

Strauß beginnt mit einem Zitat aus einem seiner Romane. Die „Ahnen“, bei denen sich der hier Sprechende zu Hause fühlt, sind – wie sich später zeigen wird – die Dichter und Geistesgrößen der deutschen Romantik. – „Romantik“ wird oft falsch verstanden rein als Widerspiel zur Aufklärung, zu Wissenschaft und Kritik. Aber sie meint deren Vervollständigung – zu einer Polarität, die (lt. Hegel) unhintergehbar den Grund allen Seins ausmacht. Ein Wissenschaftler ist erst perfekt, wenn er sich parallel aufs Dichten versteht. Dieser Gedanke, welcher einmal deutschem Genie entsprang, ist uns heute fremd, beinahe lächerlich. Strauß bedauert dies, da er darin keinen Fort-, sondern einen Rückschritt sieht. Das Niveau, auf dem in Deutschland und nur in Deutschland einmal gedacht und gedichtet wurde, ist heute kaum mehr vorstellbar, und es gibt auch keine Institutionen, die seiner erinnern. Die noch davon wissen, gleichen den letzten Sprechern einer aussterbenden Sprache.

Das Selbstzitat aus dem Buch Die Unbeholfenen verhehlt nicht, dass sich der Autor als dieser Letzte sah. Man soll’s darin nicht übertreiben, immer von irgendetwas ein Letzter sein zu wollen – doch der Posten schien mir unbesetzt, und die Fiktion ließ mich nicht los, ein Fortsetzter von Empfindungs- und Sinnierweisen zu sein, die seit der Romantik eine spezifisch deutsche Literatur hervorbrachten. Etwas davon wieder aufleben zu lassen, war mein Leben. Bei zahllosen schöpferischen Geistern war ich zu Gast, ich  k o n s p i r i e r t e.  Zum Dank hinterließ ich ein paar Aufmerksamkeiten, geringe Gegengeschenke, die aber nicht weiter beachtet wurden, wie immer auf großen Festen.

Strauß lag m. a. W. zeitlebens daran, im besonders hierzulande einmal entfalteten Geiste der Romantik deren Dichtern nachzueifern. (Damit streitet er anderen Kulturen nicht ähnliche Leistungen ab, sondern betont gewissermaßen den Geschmack des deutschen Weines im Vergleich zu dem aus Frankreich, Italien oder Spanien, der ev. ja auch vor solchem Hintergrund erst – nicht als besser, sondern als eigentümlich – hervortritt.)

Was ist mir nicht alles zum Roman geworden! Nicht aus Lebensgeschichten gemischt, sondern aus Geist-Stimmen komponiert. Oft aus Stimmen von Autoren, die gar nicht als Romaciers hervortraten, Franz Blei, Hugo Ball, Leopold Ziegler, Rudolf Kassner, Konrad Weiß, um unter meinen Favoriten nur die weniger bekannten, zu unrecht vernachlässigten zu nennen.

Strauß preist hier an der Romantik und deren Epigonen, seinen Vorbildern, die „Erotik“ – des Geistes, welcher der Wirklichkeit nicht urteilend gegenüber steht, sondern, wie wir sehen werden, gleichsam durch die Sinnesorgane ins Gemüt tritt, dieses nicht etwa „aufmischend“, sondern ordnend.

Ich meine Roman im alt-amourösen Sinn: Er hatte nämlich einen Roman mit ihr … Denn ich hatte mit der einen oder anderen Stimme wohl einen Roman … Man bedenke die tiefen Lieben und Anhänglichkeiten, die unter diesen Geistern wirksam sind.

Strauß hat die genannten und weitere Autoren der Romantik nicht verehrt oder studiert, sondern ein „amouröses“ Verhältnis mit ihnen, kein sachverständiges also, sondern ein empfindsames, wie man es etwa auch zu einer Musik oder einer Landschaft haben kann (bevor sie flurbereinigt wurde).

Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demographischen Spekulationen mit anderen Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.

Deutscher, französischer und spanischer Wein, zusammengegossen, bekommt einen unbestimmten Geschmack, der keinem seiner Bestandteile gerecht wird und deren Qualitäten auch nicht zusammenzieht. Der Wein – hier als Sinnbild – entspricht den diversen Völkern, Deutschen u. a. m. , die Strauß in dem akuten Flüchtlingsgeschehen „aufgemischt“ sieht – aus geschmacklos „ökonomisch-demographischen“ Gründen. Die darin markierte „Vitalisierung“ verdankt sich einem eher wissenschaftlichen Vormarsch, vergleichbar dem Gang zum Psychologen oder der Gabe von Vitaminspritzen zur Hebung des Gestimmtseins anstelle von z. B. dem Hören einer bestimmten Musik oder Lesen einer bestimmten Dichtung.

Noch vor nicht allzu langer Zeit fand sich eine linkskritische Intellektualität, die sich gegen die Hegemonie des Ökonomischen über unsere Lebenswelt auflehnte. Mittlerweile sind deren Geistesverwandten selbst die führenden Ökonomen der Gegenwart – Piketty, Stiglitz, Krugman – und betreiben unter linkem Vorzeichen eine nächste Hegemonie der Ökonomie, nun der angeblich sozialverträglichen, aber auch sie bieten keinen Geistesfunken außerhalb von Wirtschafts- und Geldpolitik.

Die fachmännischen Kritiker des Primats von Belangen der Güter-Verteilung sind mittlerweile selbst Experten der einst von ihnen auseinander genommenen Machenschaften geworden und festigen die Herrschaft des Wirtschaftlichen in allem, ohne so noch einem Rest des Schönen eine Chance zu lassen, diesen kratzfesten Horizont auch nur zu garnieren.

Der letzte Deutsche, dessen Empfinden und Denken verwurzelt ist in der geistigen Heroengeschichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietzsche, von Klopstock bis Celan. Wer davon frei ist, wie die meisten ansässigen Deutschen, die Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich zu ihnen gesellen, der weiß nicht, was kultureller Schmerz sein kann. Ich bin ein Subjekt der Überlieferung, und außerhalb ihrer kann ich nicht existieren. Sie besteht im übrigen jenseits von Fürstenstaat, Nation, Reichsgründung, Weltkrieg und Vernichtungslager, nichts davon ist in ihr ein- oder vorgegeben, weder Heil noch Unheil trägt sie in sich, um es auszutragen. Zum Missbrauch kann soviel wie alles dienen.

Hier versucht Strauss eine konservativ-reaktionäre Auffassung der Welt zu vermitteln, die dermaßen außer Mode ist, dass man unaufgefordert neigt, sie für geistesgestört zu halten (so auch der Unterton der meisten Feuilleton-Antworten auf seine Glosse). Um zu veranschaulichen, worum es ungefähr geht, nehme ich als Beispiel einen vielbeschäftigten Filmschauspieler: Aus dem Buch kennt er in der Regel nur die Szenen mit seinem auswendig zu lernenden Text und erlebt so während der Dreharbeiten etwas völlig anderes als später auf der Premiere, wenn er die Geschichte und seine Rolle darin zum ersten mal als ganzes, den tieferen Sinn darin sieht. Entsprechend die Weltsicht der Konservativen: Sie wähnen uns als Akteure einer großen Geschichte, deren Sinn unser momentanes Menschsein allzeit überfordert und am besten noch erahnt werden kann im Blick durch und über die vergangenen Kapitel. Deswegen die große Wichtigkeit einstiger, von Strauß herbeizitierter Geistesgrößen, wobei er weniger an Immanuel Kant als dessen großen Antipoden (und im übrigen Freund) Hamann erinnert. Im Moment werden wir nämlich völlig beherrscht von den Pointen Kants, welcher eine Kopie des „großen Drehbuchs“, nach dem wir angeblich nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt leben, meinte entdeckt zu haben. Der Geist Kants bzw. der Aufklärung beherrscht heute alles, was wir für normal halten, und gilt als Maßstab zur Identifizierung des Verrückten. Die wichtigsten Herausforderungen – Gerechtigkeit, Emanzipation, Freiheit usf. – glauben wir heute „theoretisch“ alle gelöst zu haben. Es ist nur noch die Wirklichkeit, die hinterher hinkt. Wird sie es je schaffen, unsere Ideale wahr zu machen? Ein Leben unter diesen (letztlich platonisch-christlichen) Voraussetzungen endet nicht selten in Verbitterung, weil die Erfüllung per se im Jenseits der uns mit dem Hier und Heute andauernd unzufrieden machenden Ideale liegt (sie erscheinen, Ironie des Moments, etwa auch in den Vorstellungen, welche sich gerade der „entwurzelte“ Flüchtling vom heiligen Deutschland, bevor er es zweifellos erreicht hat, machte). Strauß steht auf der Seite jener von ihm zitierten Geistesgrößen, welche eher diese idealistische Auffassung für Wahnsinn und das von ihr geleitete Streben für den Weg ins Verderben halten. Das ist auf Anhieb sehr schwer zu verstehen, da es den Hauptstrom unseres „normalen“ Denkens angreift. Das (auch Strauß) verlockende an der konservativ-reaktionären Sicht der Dinge besteht in der endlosen Hoffnung, die sie berechtigt. Denn wenn wir wie Schauspieler in einem großen Drama auftreten, dessen Sinn wir nicht ganz erkennen, können wir zwar nichts voraussagen – nicht für lange -, aber stets guter Dinge sein, dass etwas Sinnvolles (unsere Sinne Erbauendes) schon eintreten wird, wie es – verrät der teilnehmende Rückblick – stets noch eingetreten war und auch in unserem kaum verstandenen Kreativ-Impuls liegt, es selbst zu schaffen. Es ist solcherart nicht möglich, ein sinnloses Leben zu führen. Und Strauß wittert in den Möglichkeiten dieser Auffassung, spekuliere ich, mehr Gelegenheit zum Glück als in ihrem Gegenteil.

Der letzte Deutsche liest vielleicht Conrad Ferdinand Meyer oder den ‚Zauberberg‘ zum dritten Mal in seinem Leben. Er ist süchtig nach deutscher Dichtersprache. ‚Die Dichtung hat die Aufgabe, die Sprache einer Nation in einigen vollendeten Anwendungen zu zeigen.‘ (Paul Valéry)

Strauß hebt ab auf die bedeutende Kraft von Sprache, in diesem Fall der deutschen, ruft als Zeugen aber einen ausländischen Schriftsteller an, wohl um zu zeigen, dass jede Sprache ihre Würde hat. Unser Denken und Sein ist sprachlich verfasst, d.h., jeder Gedanke, jede Wahrnehmung haben eine „grammatische Struktur“ = lassen sich sprachlich ausdrücken. Dichtung zeigt Sprache in Hochform. Wir übersetzten nicht in Sprache, was uns z. B. durch den Kopf geht. Es ist Sprache.

Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein. Gegen die immer herrschsüchtiger werdenden politisch-moralischen Konformitäten. Ihre Farbe scheinen parlamentarische Parteien heute ausschließlich in der Causa Schwulenehe zu bekennen. Es ist, als gäbe man mit jeder libertären Bekundung, jeder Weisung politischer Korrektheit Verhaltensbefehle aus, denen sie meisten Einwanderer nur nachkommen können, wenn sie sich von ihrem Glauben und Sittengesetz verabschieden und also eine weitere Entwurzelung hinnehmen müssen. Die Überprofilierung von Freiheit, von Zulassen und Gewähren enthält unausgesprochen die Drohung, der Willkommene habe sich säkularisiert zu verhalten oder wenig Chancen, ein integrierter Bürger dieses Landes zu werden.

Strauß redet hier, möchte man meinen, einer multikulturellen Gesellschaft das Wort, geprägt von Abgrenzung und Respekt der sich gegenüber stehenden Lebensformen. In seiner besten Welt würden sich die Deutschen in Gemüt und Tradition der Zugereisten auskennen, so wie diese Kenner von Conrad Ferdinand Meyer wären. (Der von Strauß gegen Kant hochgehaltene Hamann sprach in Königsberg Arabisch und las den Koran im Original. Auch Goethe und Hegel hatten den Koran gelesen.) Strauss wendet sich gegen den Herrschaftsanspruch einer Lebensform, etwa der „libertären“, über eine andere. Es gibt keine Hierarchie der Lebensformen, nur unterschiedliche, gleichwertige Kulturen. Wenn unsere Verfassung allen Religionen gleichen Rang einräumt, ist dieses (Gleichen-Rang-Einräumen) nicht bereits selber ein Wert und kann deswegen auch zu nichts Werthaltigem verpflichten – oder: Irreligiosität ist kein Wert, sondern schafft die Voraussetzung für die Entfaltung von Werten. – Strauß wehrt sich mittelbar dagegen, für die „Schwulenehe“ sein zu müssen, wobei dieser Begriff („Schwulenehe“) einsteht für alle möglichen Direktiven einer aufgeklärten Weltordnung, zu deren Bekenntnis er sich nicht zwingen lassen möchte. Verhaltensregeln, auf die man sich einigt (etwa, dass Gleichgeschlechtliche heiraten können), sind nicht Ausdruck einer Kultur wie es ihre Dichtung ist. Es ist wohl die Rechtfertigung der gleichgeschlechtlichen Ehe aus den Menschenrechten, an der Strauß sich stößt; als Ausdruck von Tradition käme sie ihm natürlicher vor. Die implizite Polemik gegen die Menschenrechte ist auf Anhieb unerträglich. Was kann man denn gegen die Menschenrechte haben? Die Reaktionäre wehren sich gegen das abstrakte Prinzip, hinter dem sie die „Linzenz zum Töten“ wittern. Noch nie sind mehr Menschen historisch gesehen zu Tode gekommen als im „freundlichen Freuer“ der Menschenrechte, da diese, um zu gelten, nicht auf das Hier und Jetzt angewiesen sind, sondern ganz unabhängig „ewig“ gelten.

Umgekehrt bereiten aus Sicht nicht nur von Heiligen Kriegern die Ungläubigen immer alles zu ihrer Verurteilung vor. Sie Verzichten auf jede Verteidigung. Als ob ein geheimes Verlangen sie antriebe, das gesamte Ancien Régime der Nüchternheit, der Aufklärung und Emanzipation bald stürzen zu sehen.

Schier die Werte der Aufklärung – Wissenschaftlichkeit, Weltlichkeit, nüchterne, aber sichere Erkenntnis, Menschenrechte – liefern, scheint es Strauß, denen, die sich zu ihnen bekennen, keinen inneren Halt. Nichts, für das sie brennen würden.

Das Gutheißen und Willkommen geschieht derart forciert, dass selbst dem Einfältigsten darin eine Umbenennung, Euphemisierung von Furcht, etwas magisch Unheilabwendendes auffallen muss.

Aus solch innerer Leere und – infolgedessen – Angst, wird Willkommen geheißen, was Erlösung verheißt, indem es vor allem nicht der bekannten Umgebung entspringt. Wer seinem Nachbarn nicht helfen würde, umarmt die Ankömmlinge wie Montezuma den „weißen Gott“ Cortez.

Nun, was kann den Deutschen besseres passieren, als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden?

Zumindest werden die Deutschen solcherart einmal zurückgeworfen bzw. aufmerksam gemacht auf das, was sich nicht importieren lässt.

Oft bringt erst eine intolerante Fremdherrschaft ein Volk zur Besinnung. Dann erst wird Identität richtig gebraucht.

Erst, was einem schwer gemacht wird, tritt kritisch ins Bewusstsein.

Der Irrtum der Rechten: als gäbe es noch Deutsche und Deutsches außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmungen. Jenen Raum der Überlieferung von Herder bis Musil wollte doch niemand retten.

Was freilich darauf nun „wir sind das Volk“ schreit, beruht – wie sein das Fremde panisch umarmendes Gegenteil – auf keinem stabilen Inhalt. (Strauß scheint die Mentalität des heimischen Protestes jener der „entwurzelten“ Flüchtlinge für verwandter zu halten als einem „deutschen“ – von Herder und Musil erfüllten – Geist, den „das Volk“ längst abgemurkst hat.)

Dass Reiche untergehen, zerbrechen, ist unwahrscheinlich geworden; eine Art Fließgleichgewicht der Erde im Sinne kulturelle Globalität verhindert es weitgehend; daher verstetigt sich die Doppelansicht von Zerfall und einer Umdeutung in Vielfalt, von Verlust als Bereicherung. Auf und Nieder sind zu beweglichem Ausgleich, einem geringen Schwanken abgeflacht.

Im 6. Gesang der ILIAS gibt es die Szene am Skäischen Tor zwischen Hektor und seiner Frau Andromache, in welcher sie des unwiederbringlichen Endes ihrer Stadt und damit ihrer Kultur inne werden, eine der gewaltigsten Stellen in der abendländischen Literatur. Diese erhabenen Zeiten sind längst und heute endgültig vorbei, weil nicht mehr eine Kultur der anderen Platz macht, sonder alle bestehenden ineinander fallen und solcherart entkernt werden. Man denke hierzu etwa an unsere „Altstädte“, die für viel Geld in Form gehalten werden, in den denen aber nur Touristen wohnen – überhaupt die touristische Art, „Kultur“ zu konsumieren. Der Barbar zerstört nur; der Tourist entweiht.

Man hält sich, klammert sich an das Wichtigste, was man hat, hier ein Erzählung von Henry James, dort ein Film von Kubrik, schließlich ein Text vom alten Heidegger.

Strauss klammert sich angesichts dieser Auflösung an Brocken aus der Vergangenheit, die ihm wertvoll waren. Im Fall Heideggers an dessen spätere Texte, laut welchen die um sich greifende Technik uns die Quellen des Glücks verstellt.

“Nie wieder werde ich solche Freunde haben!“

Offenbar ein Zitat, ich weiß nicht, aus welchem Werk. Strauß bedauert den Verlust von Freunden, nicht von Lehrern oder Geliebten oder Partnern, sondern von Herzenbrüdern. Denn unser Gestikulieren drückt, wenn wir Menschen sind, zunächst nichts aus, sondern ahmt nach, was wir bei anderen sehen. Unsere Seele entwächst der Gemeinschaft: ihrem Winken, Lächeln, Zugewandtsein – nicht unverweilt oder durch einen Willensakt, sondern vergleichbar dem Lernen einer Sprache.

Man wird verdrängt, nicht mehr von avangardistischen Nachfolgern, sondern von grundsätzlich amusischem Andersgearteten, Islamisten, Mediasten, Netzwerkern, Begeisterten des Selbsts.

Für Strauß unterschieden sich die Islamisten nicht von den „Begeisterten des Selbst“, der Islamist wäre dieser Logik zufolge sogar der maximal integrierte Muslim, erfüllt von derselben Blasiertheit gegenüber Würde, Schönheit und Tradition, derselben Kunstvergessenheit, welche den Hauptstrom unserer Gesellschaft ausmacht.

Was aber Überlieferung ist, wird eine Lektion, vielleicht die wichtigste, die uns der Gehorsam des Islam erteilt.

Just jene Moslems – nicht die Islamisten, welche das Affentheater unserer eigenen Entfremdung nur nacheifern, sondern die frommen Gläubigen -, sollten uns, findet Strauß, erinnern, wie man Sinn aus der eigenen Überlieferung schöpft. (Dass Strauss dermaßen auf das unbeeinflussbare Herkommen setzt, legt eine Abwesenheit jeglicher Theorie in seinem Fall nahe. Sein Denken entwickelt sich danach nicht aufgrund einer Basis unumstößlicher Wahrheiten, aus denen sich zwingend die und die Sachverhalte folgern lassen – oder, sollte man anders argumentieren, die und die anderen. Strauß leidet keine absoluten Wahrheiten. Statt dessen nimmt er einen Blickwinkel ein, welcher dem Macher-Wissen und jenen, die es für ihre ganze Weltauslegung halten, misstraut. Lieber scheint er anzunehmen, die Welt und ihr Werden seien zu kompliziert für vernünftiges Ausloten, indem sie mehr einer Welle (des Werdens . . .) ähnelten, die uns trägt, ohne dass wir ihrer mehr als „merkend“ inne werden können, vor allem auf die Töne der Tradition – aber auch jenen schöpferischen Impuls, der uns bewegt, neue Formen herauszuwerfen, vollkommen unverstanden = nicht am Leitfaden vorausbegriffener Wahrheit.)

So bleibt dem deutschen Schriftsteller, sofern er ein Schriftsteller des Deutschen ist, nichts anderes, als sich neu zu beheimaten: Zuflucht in die ästhetischen Überlieferung zum einen, zum anderen Erduldung ihrer Auslöschung. Palmyra auch hier. Lange Zeit wird er gezwungen sein, unschlüssig zu sprechen, heteroglott, das eine wie das andere zu sagen und zu meinen. Das Unvereinbar auszuhalten, bis die Vernunft wehtut.

Dem Schriftsteller wird durch das Vergessen der Tradition sein Werkzeug aus der Hand genommen. Er babbelt infolgedessen nun noch Unsinn.

Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt zu sein: Glaube fest daran – und Du wirst zur komischen Figur!

Wenn er auf die Quelle seines Schaffens zeigt, wirkt das inzwischen, wie wenn er nicht alle Tassen im Schrank hätte.

Religion ist die Frucht des Starken. Doch wer erträgt Frucht als geistige Disziplin und moralische Kraft?

Wenn einen etwas ergreift, will man sich nicht davon befreien und bekennt sich vielmehr dazu = leistet Gehorsam.

Das Kopftuch sei Zeichen von religiöser Selbstverwirklichung einer Frau, so eine gütige Angehörige der Grünen. Trefflicher kann man sein verständnisvolles Unverständnis nicht in Worte fassen. Man muss eben auch den rituellen Gehorsam in die Sprache der Emanzipation übersetzen.

Auch das Kopftuch der religiösen Muslimin drückt ein Bekenntnis aus, keine Freiheit, welche sie sich herausnimmt. (Unserer Verfassung ist kein „Meta-Bekenntnis“, das weiteren Bekenntnissen Kraft verliehe.)

In islamisch theokratischen Ländern wie Iran sind es wenige (Gelehrte), die den meisten, den Massen, Weisung geben. Bei uns bestimmen Massen und Medien das Niveau der politischen Repräsentanten, die allesamt Ungelehrte in jeder Richtung sind, nicht zuletzt weil Parteizugehörigkeit zwangsläufig Wissen reguliert und im wesentlichen kein außerdemokratisches aus der Tiefe der Zeit zulässt.

Die Quelle unserer „Bekenntnisse“ sind eher die Parteiprogramme und die Meinungsumfragen, nach denen sie sich richten. Das Nicht-mehr-Fließende (Herkommen …) hat demgegenüber keinerlei Autorität.

Offenbar frisst sich jede Revolution durch bis zu ihrer Entartung. Der Islamismus könnte den Islam verschlingen.

Der fromme Islam wird von dem „Parteiprogramm“ des Islamismus bedroht.

Beslan – nur eine Erinnerung, Nordossetien, 2004, Geiselnahme von Kindern, Ort der Verstümmlung von allem, was einmal Kampf, Krieg, Eroberung bedeutete. Daher muss man Begriffe schmieden für das Neue wie etwas asymetrischer Krieg, failed state, jemand neutralisieren etc. – die morgen schon ein neuem Feuer dahinschmelzen.

Die Mode des Islamismus bringt alle möglichen, geschichtsvergessenen Erscheinungen hervor, die es sich kaum lohnt zu benennen, so schnell lösen sie einander ab.

Was in der Zeitung steht, macht den Anteilnehmenden immer konfuser. Ich lese vom Lynchmord an einer tief religiösen afghanischen Frau. Sie hatten den Handel mit Devotionalien als muslimischen Aberglauben geschmäht und wurde zu Unrecht der Koranverbrennung beschuldigt. Von jungen Männern angefallen, wird sie auf offener Straße geschlagen und zu Tode getreten. Die Menge steht herum und filmt mit dem Smartphone die Gräultat. Hin und wieder unterbricht einer die Videoaufnahme, geht zum Opfer und tritt ihm ins Gesicht.

Eine Verwirrung der Begriffe und folglich des Verständnisses im muslimischen Raum beschreibt Strauß im Zusammenhang mit der Erscheinung moderner Technologie, welche ihre Verwender zu brutalisieren scheint.

Wie soll ich das verkraften?

Die überkommenden Kategorien, mit dergleichen fertig zu werden, versagen.

Auf der nächsten Seite wird die Verfolgung einer Bande Rechtsradikaler geschildert, die Brandanschläge gegen Flüchtlingsheime bundesweit vorbereiten.

Dasselbe im deutschen Raum . . .

Dies alles lesen, dem nackten Entsetzen ausgeliefert, außerstande, es mit kühlen Erwägungen bewältigen zu können. So jedenfalls ergeht einem noch nicht durch und durch medialisierten Menschen.

Strauß schreibt den Medien, die sich zwischen Sinne und Wirklichkeit schieben, eine ebenso verwirrende wie verrohende Wirkung zu. Dahinter steckt wohl auch die Frage, wie wir zu unseren Begriffen kommen. Entstammen diese einer jenseitigen „Welt der Ideen“ und ewigen Werte, oder erfahren wir sie unentwegt durch unsere Sinne (so wie alles, das an uns Körper wird, vorher durch den Magen gegangen sein muss)? Der Konservative|Reaktionär hängt eher an der letzteren Auffassung, die auch der von Strauß bevorzugt Hamann gegenüber Kant oder Goethe gegenüber Schiller vertrat: dass wir „mit den Augen denken“. Jede Beeinflussung des Sinnenseindrucks, seine Dämpfung oder Formung durch Medien (z. B. Smartphones), hätte danach eine das Unvermittelte fälschende Wirkung. Diese Verzerrung oder Schematisierung von organischem Sinn erzeugt Taubheit, als Lebensimpuls nur Angst und – in deren Abwehr – Grausamkeit.

Die Mörderkommandos der Assassinen, jener ismailitischen Sekte im Syrien des 12. Jahrhunderts, haben die Seite gewechselt; jetzt sind’s die anderen, die radikalen Sunniten und ihr ‚Islamistischer Staat‘. Ihr Kampf jedenfalls eintihre Feinde nicht. Und mit der Vertreibung des Schreckens durch Eroberung, gleich dem Einfall der Mongolen einst, ist in unseren Tagen nicht zu rechnen.

Strauß deutet den IS-Staat aus der Tradition der Gegend seines Entstehens, spekuliert aber, dass die von ihm ausgehende Gewalt (noch) nicht direkt bis in unsere Mitte reicht.

Man muss untersuchen, was macht der Druck der Gefahr aus uns – wie verändert er langsam aber unaufhaltsam unsere Prägungen, Vorlieben und Gewohnheiten.

Es muss aber im Blick behalten werden, in welchem Maße die Weiterungen des Konfliktes unseren Alltag verändern dürften. Zwischen den Zeilen steht hier, dass für Strauß der einzelne keine „seelische Substanz“ hat, sondern inwendig eine Funktion von „Prägungen und Gewohnheiten“ ist. Die Menschen ist m. a. W. formbar, und ständige Gefahr formt infolgedessen einen anderen Menschen, mit anderen „Vorlieben und Gewohnheiten“. Menschen aus eine Kriegssituation sind anders drauf als friedensgewöhnte und können, unter diese gemischt, auf deren Lebensform, also Seele, einwirken.

Bekanntlich gibt oder gab es auch in der Schia eine quietistische, mystische Richtung und dagegen eine machtergreifende, äußere. Der Innen/Außen-Streit macht universell vor keiner Lebensform halt.

Das Gewaltausübende ist nicht spezifisch muslimisch, sondern hat wie andere Orientierungen anderswo auf der Welt auch die islamische heimgesucht und überformt – strömt nun mit deren Flüchtlingen in unsere Richtung.

Die Sorge ist, dass die Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen. Dem entgegen: Eher wird ein Syrer sich im Deutschen so gut bilden, um eines Tages Achim von Arnims ‚Die Kronenwächter‘ für sich zu entdecken, als dass ein gebildeter Deutscher noch wüsste, wer Ephraim der Syrer war. Zuletzt ist es ein Frage der persönlichen Wissbegierde, denn die üblichen Ausbildungsprogramme reichen nicht bis dorthin. Man darf annehmen, dass in puncto Wissbegierde sich der Syrer im Vorteil befindet.

Strauß hält die Befürchtung, unsere Kultur könne durch die von Ausländern ersetzt werden, für leer, da wir über gar keine Kultur mehr verfügten, nichts aus der Vergangenheit aufnähmen oder an künftige Generationen weitergäben. Der Sinn für Kultur, die auf sie gerichtete Neugier, sei uns abhanden gekommen. Bei den anrückenden Syrern dagegen vermutet Strauß mehr Neugier, auch für unsere Kultur, von der sie infolgedessen mehr entdecken dürften als wir – demgegenüber – von der ihren.

Aber wie will man dem Krieg, wenn er uns angetragen wird, ausweichen? Schließlich gehört nicht nur Freiheit, sondern auch Freiheitskampf zu unseren viel beschworenen Werten. Doch zuvörderst melden sich immer die Pazifisten zu Wort und erklären. ‚Deutschland wird jeden Tag weniger, das finde ich großartig.‘

Strauß macht einen Angriff auf die von ihm geschätzte deutsche Kultur der Romantik, die Einheit von Wissenschaft und Dichtung, aus, zu deren Werten auch zählt, dass sie einstmals erkämpft wurde. Eine unkämpferische Mode scheint diesen Angriff, die Zerstörung des romantischen Erbes, zu begrüssen.

Das niedrigste an diesem Schurken-Wort ist die politisierte Schmerzlosigkeit, mit der man die Selbstaufgabe befürwortet, zum Programm erhebt. Dank der Einwanderung der Entwurzelten wird endlich Schluß sein mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur. Der sie liebt und ohne sie nicht leben kann, wird folglich seine Hoffnung allein auf ein wiedererstarktes, neu entstehendes ‚Geheimes Deutschland‘ richten.

Die Flüchtlinge werden als Vorwand benutzt, um sich der Herausforderungen seines Erbes zu entledigen. Wer diesem weiter anhängt, wird infolgedessen zum Untergrundkämpfer, gehört bald nicht mehr zur Gesellschaft.

Der Hass Radikaler richtet sich wohl vordergründig gegen die Flüchtlinge – er ist vor allem ein unkontrollierte Reaktion auf das Vakuumempfinden, das ‚die Politk‘, wie man heute sagt, der Bevölkerung zumutet.Verantwortliche, die das Ende nicht absehen. Die in täuschende Beschwichtigungen ausweichen. Die Schwäche zeigen.

Auch, was sich am rechten Rand der Gesellschaft oder Islamistenhirnen zusammenbraut, geht eher auf den zunehmenden Mangel an Identität zurück: drückt Unwohlsein aus infolge abwesenden Sinns, dessen Lieferung – zumindest von offizieller Seite – auch nicht in Aussicht steht.