Habermas zu dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen

Was die Kritiker der zögerlichen Haltung der Regierung Scholz in Frage stellen, ist nach Habermas die grundsätzlich dialogbereite und friedensorientierte Haltung der deutschen Politik, die immer wieder angeschwärzt worden ist von Rechts.

Freilich lässt sich die nukleare Drohung durch Russland als Erpressung zurückweisen. Dadurch ist sie aber nicht vom Tisch, sondern bestimmt weiter das Denken, egal wie es ausfällt.

Die Heftigkeit des Streites um das deutsche Engagement in der Ukraine entspringt aber nach Habermas vor allem dem Zusammenstoß von zwar gleichzeitig stattfindenden, aber unterschiedlich ausgeprägten gesellschaftlichen Zuständen. 

Das Atomzeitalter hatte eine Abkehr von überkommenem militärischen Denken zur Folge, das ersetzt wurde durch die Vorstellung einer internationalen Rechtsordnung. In Wirklichkeit wird diese von den Weltmächten nicht anerkannt. Ihr Traum aber peitscht das westliche Gemüt auf für die Sache der Ukraine und erregt ein Begehren zur Hingabe an Werte, ungeachtet deren wirklicher Geltung.

Der Widerstandskampf der Ukrainer entspringt einem Geist, über den Deutschland hinaus ist. Die Ukrainer formen gerade ihren Staat, Deutschland hat das hinter sich, ist verhältnismäßig erwachsener, langweiliger. Wer aus seiner Mitte den jugendlichen Elan der Ukrainer befeuert, tut es von der Zuschauertribüne, nicht im Interesse der Spieler, sondern für die vorgestellte eigene Verjüngung.

Deutschland und die Ukraine sind einfach unterschiedlich alt, was ihren Umgang miteinander bestimmen sollte. Andernfalls herrscht nur gefühlsmäßige Verwirrung.

Die junge Ukraine kann für eine ältere Nation wie Deutschland kein Leitstern sein. Unsere vorsichtige Haltung ist die richtige Antwort auf zwei Weltkriege und den Kalten Krieg. Uns angesichts eines nuklearen Patts gefühlsmäßig und kulturell der Ukraine anzuschließen, ist so wirklichkeitsfremd wie gefährlich. Vielmehr stehen wir vor der Herausforderung echte Unterstützung zu leisten bei Einhaltung eines „altersbedingten“ Abstands. Ziel sollte dabei sein, den Bau der ukrainischen Nation weiter zu fördern.

Die EU sollte sich angesichts der Ukraine nicht so sehr Gedanken machen über die Eintrocknung nationalen Elans, sondern über das Fehlen ihrer darüber hinaus gehenden Fähigkeiten. Diese werden umso nötiger, je mehr die USA sich in ihrem Inneren verstricken wird.