Über-Ich und Moralapostel

Das Über-Ich ist nun mal eine Triebgestalt, die ihr Mütchen “im Interesse der Allgemeinheit” kühlt. Die Nummer gleicht dann der dünnen Spiel-Handlung in einem Pornofilm und verrät sich auf Facebook häufig durch die obszöne Verwendung von Stimmung verspritzenden Bildschriftzeichen unter Beiträgen, die es “nicht fassen können” oder die Wortkette “immer noch nicht” wiederholen. Es bleibt freilich ein Schmierentheater, indem sein Zweck allein in der Triebbefriedigung besteht (bei alten Männern ev. der einzig noch zur Verfügung stehenden).
 
In dem Trieb oder seiner Befriedigung liegt an sich nichts Verwerfliches, solange er in privatem Sinne wirkt, etwa als Sammel–, Lese– oder auch Sexbessenheit, Bungeespringen usf.
 
Moralisch fragwürdig bis lebensgefährlich wird TRIEB, wenn als Vorwand für sein Ausleben öffentliche oder Gruppeninteressen in Anspruch genommen werden. Alle staatlichen Angelegenheiten, politischen Fragen werden zu einem Witz als Vehikel der Tiebbefriedigung.
 
Ein Beispiel aus unserer Zeit wäre der Trumpismus, eine typische Über-Ich-Erscheinung, indem er allein dem Zweck diente, eine Ejakulation hinter die andere zu setzen. Nicht weniger pervers, nur weniger Spaß machend, waren die linken Antworten darauf in Form einer altjüngferlichen Kläffsucht, der’s freilich ebenso wenig um Anstand als dessen Instrumentalisierung für (im Falle der Linken oft masochistische) Triebzwecke geht.
 
Dass in Wirklichkeit der Trieb am Ruder ist, erkennen wir daran, dass er nie genug kriegt. Denn Triebe haben kein Ziel außer ihrer Zirkulation. Irgendein Erfolg kann sie so wenig zufriedenstellen wie Milch, die plötzlich aus dem Schnuller eines Kleinkinds käme. Jede Form des moralischen Engagements oder der Empörung steht deswegen im Triebverdacht, ob sie dabei scheinheilig meckert wie von links oder obszöne poltert wie von rechts.
 
Man merkt, dass das Über-Ich einen am Wickel hat, wenn die Forderungen immer unerfüllbarer werden. Wie in einem der Kafka-Romane, die das Phänomen vollkommen durchsteigen. Es geht dabei nie um Erkenntnis oder Moral, sondern stets ums Genießen, auf die eine oder andere Art. Die Gesetzesbücher in Kafkas Prozess sind voller pornografischer Zeichnungen, die Richter und Polizisten alle Schürzenjäger.
 
Das quälende Kommando des Über-Ichs lautet: Als Mensch des öffentlichen Lebens musst du sehen, dass du auf deine Kosten kommst! Wie der Gröhl-Befehl in der Fan-Meute der Südkurve. Oder auch der süchtige Trotz in der öffentlichen Geste des Querdenkens.
 
Sobald der Trieb unter irgendeinem sozialen Vorwand mehr als private Interessen kolonialisiert, droht er, die öffentliche Sache zu verderben. Wir sind da ev. inzwischen weiter gegangen, als gut oder zurückzuziehen ist. Denn niemand verliert sein Gesicht, wenn er öffentlich die Hosen herunterlässt. FB stellt vielmehr eine Batterie von Emojis bereit, um die obszöne Geste hochzujubeln.
 
Hat das Über-Ich, frage ich mich manchmal, überhaupt einen Nutzen, außer eben dem Abspritzen eine öffentliche Bühne zu liefern? Was ginge verloren, wenn man es dekonstruierte und damit aus dem Verkehr zöge? Gewiss nicht das Vergnügen, das sich fast jeder Spielwiese bedienen kann, ohne Einbuße.
 
P. S. Früher hieß es noch, dass die „Frauen kein Über-Ich“ hätten, ihnen mit anderen Worten das Talent oder die Neigung fehlte, in der Öffentlichkeit abzuspritzen. Dies wurde jedoch als Kritik oder Mangel gedeutet und aufgeholt von der jüngeren Generation – salonfähig gemacht auch für ehm. privaten Randgruppen, die ihr Genussschema inzwischen um die öffentliche Sache erweitert haben.