Warum hält Lacan Homosexualität für „pervers“?

Ich versuche mir immer mal wieder einen Reim auf die Lacansche Terminologie und das Gedankengebäude dahinter zu machen, etwa: dass die seelische Ordnung des Menschen entweder “hysterisch”, “obsessiv” oder “pervers” sein muss. Zur Veranschaulichung wird dann von Lacan noch gesagt, Frauen seien in der Regel “hysterisch”, Männer “obsessiv” und z. B. Homosexuelle “pervers” – weil sie “die Kastration verleugnen”.

Wenn ich den Gedanken selber zu entziffern sollte, würde ich bei der “Kastration” beginnen, ein hauptsächlich psychoanalytischer Begriff, der ev. klarer wird, wenn man statt seiner “Missbrauch” oder “Verwundung” sagt – die tiefe, unausrottbare Überzeugung jedes Menschen, dass ihm oder ihr einmal übel mitgespielt worden ist. Ich kenne eine entsprechende Formel aus der Dramaturgie: die Hauptfigur einer Geschichte muss “schikaniert und wichtig” sein, dann wird das Publikum garantiert auf sie einsteigen. Denn es gibt niemand auf der Welt, die oder der sich nicht durch dieses Wortpaar – “schikaniert & wichtig” – charakterisiert findet. Trifft selbst auf Menschen zu, die auf eine wohlbehütete und stressfrei Kindheit ab der Geburt zurückblicken; auch sie plagt die Vorstellung, ihnen sei etwas angetan, sie seien irgendwie “missbraucht” worden. Das Bild scheint mir notwendig zu sein, um etwas Schreckliches am Grund des Daseins zu deuten, vielleicht sogar zu verdecken, eine Art leeren Wirbel, dessen Grauen eine anspringt, wenn man z. B. “Trypophobie” googelt und sich (besser nicht!) die leeren Bilder anschaut.

Die Vorstellung der “Kastration” verdeckt somit eine Panik am Grund des Seins, und “Hysterie” wie “Obsession” sind Arten, das Bild zu verarbeiten, während “Perversion” abstreitet, dass es so ein Bild überhaupt gibt.

Žižek erwähnt, dass “Hysterie” schlechthin “Ideologiekritik” sei. Um zu verstehen, was er oder die Theorie, welche er vertritt, meinen könnten, hole ich mir als Metapher das Theater zur Hilfe. Das Leben wäre dann ein einziges Theater, auf dem uns nichts anderes übrig bleibt, als unsere Rolle zu spielen, um – so sieht es wohl die Psychoanalyse – nicht in das schreckliche Loch zu fallen, das am Boden lauert. Besser noch: das menschliche Leben zerfällt in alle möglichen Stücke, die gespielt werden können. “Hysterie” wäre dann die Unsicherheit, in welchem “Narrativ” man sich gerade befindet. “Obsession” das Schwanken zwischen zwei Stücken, die sich ständig in den Weg kommen. “Perversion” die Festlegung auf ein Stück und Verleugnung damit von dessen Ursache (dem Loch …).

Warum sollten dann vor allem Frauen in diesem Theater hysterisch sein? Weil, würde ich spekulieren, die Haupthandlung vor allem “patriarchalisch” ist oder war. Ich betrachte dafür die Gesellschaftsformen, in denen die Menschheit die meiste Zeit ihres Lebens zugebracht hat, die sie also immer noch prägt: die umherziehende Horde. Von diesen haben u. a. nur solche überlebt, die das Inzestrisiko klein hielten, indem sie die in ihrer Mitte geborenen Frauen weggaben – sich dafür fremde holten oder raubten (die Mythologie ist voll von solchen Bildern). Das Schicksal der Frauen bestand darin, sich in unvertraute Verhältnisse zu finden, auszumachen, was Sache war oder gespielt wird – und damit “Ideologiekritik” zu üben. Während die Männer festgelegt blieben auf die Regeln ihrer Horde, die sie durch Erfindungen erweitern, dadurch in den Konflikt des “Obsessiven” zwischen fixer Idee und Gepflogenheiten geraten.

Und warum sind dann die Homosexuellen “pervers”? Weil, so Lacan, der Perverse die “Kastration” leugnet – infolge so tut, als ob es nur eine Rolle oder “Identität” gibt, die alle Fragen beantwortet. Aber was hat das wiederum mit “Homosexualität” zu tun? Zur Erklärung heißt es, der “Phallus” würde in den “Penis” gelegt, dieser also zum “Fetisch” gemacht. Wie kann man den “Penis” zum “Fetisch” machen? Verständlich wird das nur, wenn man zugeben möchte, was die Psychoanalyse nahelegt, dass nämlich die Triebe sowie die aus ihnen schießende Sexualität an gar kein Körperteil gefesselt ist und nur zufällig und vorübergehend genital wird. Eine Privilegierung der Genitalien für sexuelles Erleben wäre so gesehen “pervers”, weil sie sich an einen Gegenstand auf Kosten aller anderen klammert, im Falle der Homosexualität an den Penis, ohne welchen das Schema zerfallen und das “Kastrations-Trauma” hervorbrechen würde.

So deute ich die bizarre Lehre Lacans. Die Psychoanalyse hat angefangen mich zu beschäftigen während der Pandemie, vor allem um herauszufinden, was die mir oft unverständlichen Reaktionen auf das Impfen motivieren könnte.