Ninsuns Gebet zu Ishtar

Herrin, die du der Himmel geworden bist
Und groß wie die Erde, die du an ihrem Kreis
Aufgehst wie Shamash und mit ihm untergehst,

Herrin, die du der Morgenstern bist und der Stern
Dieses Abends, die du den Himmel hinansteigst
In deinem Glanz, der schrecklich anzusehen ist,

Herrin, die du dein Licht über die Erde bringst,
Wenn du über die Berge kommst und die Zedern,
In deinem Glosen aufflammen lässt ihre kalte Glut,

Herrin, die du den Himmel zu uns herunterbringst
Wie eine Klinge gegen den Schild der Erde und sie
In Blut tauchst in der Schlacht, die den Tag schlägt,

Herrin, die du die Nacht bist mit ihrem Rachen,
Ihre Krallen, die sich in die Erde graben,
Die im Dunkeln leuchtenden Augen einer Löwin,

Herrin, die du die Nacht des Himmels abschreitest
Und über dem Abgrund der Gebirge stehst:
Als du zu deinem Berg kamst, war niemand da,
Dir die Huldigung zu erweisen, die dir zusteht,
Niemand, der vor dir im Staub lag, niemand,
Der dir ein Opfer brachte, niemand, der dich dort
An deinem Gipfel auf den Thron hob, niemand.

Herrin, du hast deinen Arm auf das Gebirge gelegt
Und deine Hände dem Himmel geöffnet.
Doch niemand war da im Wald und am Gipfel
Und hat dir gezeigt, wie sehr er dich fürchtet.

Herrin vergib ihnen, sie waren nur Männer,
Die nicht wussten, was sie tun. Vergib Gilgamesh:
Er glaubte nun, ein Mann zu sein, doch muss er erst
Lernen, was es heißt, ein König zu sein!

Und nun bitte ich dich, erscheine zu dem Fest,
Das Gilgamesh versprochen hat, dir zu weihen,
Wenn er heil zurückkehrte. Die Gerste ist zur Ernte
Jetzt bereit, und du allein bist es, die dem neuen Jahr
Seine Fruchtbarkeit verleiht: Komm᾽ und kröne es!

GILGAMESCH-EPOS XV