Identität – geht vorüber

Ehrgeiz ist der Tod des Denkens, denn er pocht auf das Ich und dessen dessen Besitztümer: Theorien, Vorstellungen, Träume, Urteile, Wissensstücke – Inbegriff von Identität.


Ist aber Identität nicht ein Trugbild?


Klar, zwei Steine z. B. können nicht identisch sein, sonst wär’ es einer. Dass aber ein Ding mit sich selbst identisch sein soll, ist eine merkwürdige Vorstellung, denn es wird dadurch etwas verdoppelt: im Ding ruht seine „Dingheit“, ein Stein hätt’ Identität kraft seiner „Steinheit“. Es wird auf diese Weise ein Schattenreich vergegenwärtigt, in dem alles, was es gibt, noch einmal existiert: als Rücksicht, zu deren Bestimmung man freilich auf nichts weiter zeigen kann als auf den Gegenstand, der sie bedeutet. Die „Apfelhaftigkeit des Apfels“, seine „Identität“, wird erklärt, indem man auf einen Apfel zeigt, der sie „interpretiert“. Die „Essenz meines Ichs“, meine „Identität“, wird erklärt, indem ich auf seine Inhalte zeige. Welche es deuten.


Solcherart wird nur weiter gar nichts gesagt. Man kann mit anderen Worten gleich bei der Sache bleiben und deren „Prinzip“ vergessen. Mein Ich hat – infolgedessen – keine Identität: nichts „Grundsätzliches“, das es fest zu dem macht, was es unabänderlich wäre. Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht.


Damit ist nicht gemeint, mir ginge nichts durch den Kopf, mein Gemüt ist im Gegenteil voller Gedanken und Vorstellungen. Nur machen es diese nicht aus. Meine Bewusstseinsinhalte „identifizieren“ mich nicht, machen mich nicht unverwechselbar. (Aus religiöser Sicht wären sie nicht mal etwas wert, sondern blockierten die „Selbstlosigkeit“ – z. B. im Buddhismus oder kenotischen Christentum, nach dem der Herr auf seine göttlichen Attribute verzichtete bei der Menschwerdung als Vorbild fürs Leerwerden des menschlichen Ichs, an dessen Stelle lauter Gnade treten soll).


„Du sollst aber alles erfahren: sowohl der Unverborgenheit, der gut gerundeten, nicht zitterndes Herz, als auch der Sterblichen Dafürhalten, dem fehlt das Vertrauenkönnen auf Unverborgenes“, schreibt Parmenides in den Fragmenten. „Dafürhalten“ meint wohl das Ich. Ihm gegenüber: das „Unverborgene“, welches weder fest steht noch Identität leidet, sondern das Leben unmittelbar macht durch Ernstnehmen seiner mehrenden Möglichkeiten. Nietzsche, den diese Vorstellung anstieß, schreckte innerlich noch zurück vor der jähen Abwesenheit des Prinzipiellen und sein Romantizismus hinderte ihn daran, die besinnliche Fülle des Alltags, seiner Äußerungen und Entwicklungen als hinreichende Antwort auf den „Tod Gottes“ oder der Metaphysik zu würdigen.


Statt auf seinem Ich zu beharren, philosophiert man lieber selbstlos ohne Bestimmungen bzw. Rücksichten wie Familie, Stamm, Nation, Klasse, Volk, Beruf, Geschlecht oder Eigentum. Selbst die Vorstellung des geistigen Eigentums löst sich in diesem Falle auf.


Was ist es – wenn man nun absieht von der „Fiktion des ICH“, die nichts bedeutet – dann eigentlich noch, was den „befreiten“ Menschen ausmacht?


Der Mensch ist sein Körper, zusammengefasst im Gesicht, dieses wiederum zusammengefasst in den Augen. Haltung, Gang, Stimme und Kleidung künden von seiner Seele. Sowie die Tatsache, dass er spricht.


Im „identitären“ Sinn schließen Körper und Geist einander aus und können nie zusammenfinden. Eine von ihrer Erscheinung her ausdrucksstarke Gestalt jedoch sowie ein sprechendes Bewusstsein können sich in einem Körper vereinen. Dieser ist der Mensch: sein Wesen und seine Möglichkeiten.