Frank O’Connor DIE KÖNIGSKINDER

Ich habe nie begriffen, was an den Romanen von Charles Dickens übertrieben sein sollte. Bis heute kann ich die Geschichte irgendeines Straßenjungen lesen, der in Armut und Elend aufwächst und sich als verschollener Sproß einer Königsfamilie herausstellt, ohne mich im geringsten darüber zu wundern. Mir kommt das ganz natürlich vor.

Als Mutters Liebling wurde mir erst verhältnismäßig spät klar, welcher Herkunft ich wirklich war. Ich arbeitete bereits als Laufbursche bei der Eisenbahn. Natürlich hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt – ich spielte ständig mit Gedanken -, doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war mit sonnenklar, daß ich nichts mit diesen zwei gewöhnlichen Kreaturen zu tun haben konnte, die sich meine Eltern nannten.

Es war nicht mal ihre Armut, die mich abstieß, obwohl sie schlimm genug war, oder das schmale Reihenhaus, in dem wir lebten, mit dem winzigen Garten, dem schiefen Türlein und löcherigen Zaun. Es war ihre Gewöhnlichkeit, ihr Streiten über Kleingeld, ihre ordinären Freunde und seichten Unterhaltungen. Ganz offensichtlich besaßen sie nicht den Hauch von Eleganz. Sie schienen mir wie Leute, die von Geburt an verkrüppelt waren und nicht wußten, was es hieß zu gehen oder zu rennen oder zu tanzen. Obwohl für den Moment nur Botenjunge, hatte ich doch diese langen Augenblicke, in denen ich instinktiv ahnte, wer ich wirklich war: dann trat ich sozusagen neben mich und sah mich mit entspannten und gemessenen Schritten nach Feierabend die Straße hinauf kommen, den Kopf langsam zum Gruße der Nachbarn wendend, den Hut mit einer vornehmen und charmanten Lässigkeit lüftend, die von der Noblesse eingeborenen Adels zeugte. Nicht nur sah ich mich so, manchmal hörte ich sogar eine innere Stimme, die jede meiner Bewegungen wie aus einem Buch diktierte – „Würdevoll hob er den Hut, während ein nachdenkliches Lächeln über sein Antlitz glitt.“

Kam ich dann um die Ecke, sah ich Vater in seiner Feierabendkluft am Gartentor stehen; er trug abgewetzte Hosen, eine Weste, eine alte Mütze, die ihm über die Augen reichte, und Schuhe, die in etwas wie Sandalen zerschnitten waren, und die er mit Nachdruck „Pantoffeln“ nannte. Vater war ein Gewohnheitstier. Kaum hatte er die Arbeitskleidung ausgezogen, lauerte er auf seine Abendzeitung, und kam der Austräger mal fünf Minuten zu spät, murmelte er: „Ich weiß wirklich nicht, was mit dem Jungen los ist!” Dann ging er runter zur Hauptstraße, um nach ihm Ausschau zu halten. Kam er endlich, riß Vater ihm die Zeitung aus den Händen und rannte beinahe nach Hause, wobei er sich seine Brille auf fummelte, um die Schlagzeile zu lesen.

Damit war mein schöner Traum zerplatzt, und ich nahm Platz bei der offenen Hintertüre, während Vater, der am anderen Ende über der Zeitung saß, kleine Freuden- oder Wutrufe ausstieß und Mutter sich erkundigte, was den Tag über vorgefallen war. Meine Antworten waren in der Regel einsilbig. Wie hätte ich ihr erklären können, daß auf der Arbeit auch nichts Aufregenderes passierte als zu Hause; nichts als diese Momente blendender Erleuchtung, in denen ich alleine zwischen den Rangiergleisen stand und die Frühlingssonne durch die Kliffe über dem Tunnel strahlte – wenn ich auf dem Weg zwischen den Waggons ahnte, daß es nicht mehr lange dauern würde: daß ich ein Herzog oder König war, verloren, geraubt oder verstossen aus meiner ursprünglichen Heimat, und daß ich nur entdeckt zu werden brauchte, damit alles wieder in Ordnung kam. Die Erleuchtungen stellten sich ausschließlich ein, wenn ich entkommen war, meist nach Arbeitsschluß beim Überqueren der Rangiergleise, oder wenn ich noch etwas vor den Bücherständern in der Bahnhofshalle lungerte – oder dem Zug nach Queenstown oder Dublin nachschaute: dann wußte ich, daß eines Tages auch mich ein solcher Zug in meine wahre Heimat, in mein Königreich bringen würde.

Meine melancholische Schweigsamkeit machte Vater ganz verrückt. Er war ein gesprächiger Mensch, jedes kleinste Tagesgeschehen geriet ihm zur Geschichte oder zum Drama. Unentwegt schien er alte Kameraden vom Militär zu treffen, die er seit 15 Jahren nicht gesehen und die sich alle „erstaunlich” verändert hatten. Und schaute ein Freund vorbei oder auch nur eine Frau von gegenüber zum Teetrinken, ließ er alles stehen und liegen, sogar seine Zeitung, um sich zu unterhalten. ln seiner Ecke am Fenster war ihm nie genügend los, er stampfte in der winzigen Küche umher, schaute durch die Hintertür rauf zum Himmel, durch die Vordertür auf die Straße, um zu sehen, wer vorbeikam. Es irritierte ihn, wenn ich mittendrin aufstand, die Mütze aufsetzte und mich davonmachte. Noch mehr irritierte ihn, wenn ich las, während er mit andern sprach, und auf seine Fragen nur das Buch sinken lies und ihn mit leeren Augen ansah. Als einfacher Mensch faßt er es als Beleidigung auf. Er hatte keine Ahnung von Königen, er hatte niemals eine innere Stimme gehört, die ihm zuraunte: „Langsam ließ der Jüngling das Buch sinken, in welches er vertieft gewesen, und blickte fragend auf den Mann, der sich sein Vater nannte.”

Eines Abends, als ich von der Arbeit kam, sprach mich ein Mädchen an. Sie hieß Nancy Harding, und ich kannte ihren älteren Bruder flüchtig. Ich hatte nie mit ihr geredet, ich redete überhaupt wenig mit Mädchen. Die ganze Zeit mußte ich daran denken, daß meine Jacke zwar in Ordnung war, die Hosen jedoch einen großen Flicken hatten. Nancy aber, die aus einem Haus in der Nähe kam, rief mich zu sich hinüber, als ob wir alte Freunde wären, und ging mit mir die Straße hinunter. Sie war ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen, sprunghaft, und ihr Geplapper erregte und bezauberte mich, ich selber gab mich eher ominös.

„Ich war bei Madge Regan, um mir die Antworten für die Hausaufgaben zu besorgen”, erklärte sie. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, aber ich kann einfach nicht rechnen. Wo warst Du?”

„Och, gearbeitet”, antwortete ich.

Gearbeitet?“ rief sie erstaunt. „Bis jetzt?”

„Ich muß von acht bis sieben”, sagte ich.

„Aber, das ist ja – schlimm…”

„Ich mach’s auch nur vorübergehend”, erklärte ich obenhin. „Ich bleib da nicht lange.”

Wohl wahr; denn wenige Monate später wurde ich eingezogen. Im Moment wollte ich allerdings nur klarstellen, daß, wenn irgendjemand Nutzen aus der Situation zog, ich es war, und nicht die Eisenbahngesellschaft. Wir gingen langsam, und sie stand bei mir unter der Gaslaterne am Ende des Straße. Ist es nicht merkwürdig, wie sich die Menschen immer wieder um Gaslaternen versammeln? Dort haben wir als Kinder gespielt, uns als Jugendliche getroffen. Und ich hörte erstmals die Worte durch meinen Kopf klingen: „Erquickt von dem entspannenden Gespräch, fragte sie sich, ob er überhaupt der Sohn der Delaneys sein konnte.” Bis jetzt hatte die Stimme nicht auf andere Menschen geachtet; nun befaßte sie sich mit einer bezaubernd neuen Wirklichkeit, und ich sehnte mich danach, die Erfahrung zu wiederholen.

Ich hatte häufig Gelegenheit, denn wir trafen uns immer, wenn ich von der Arbeit kam. Ich dachte mir nichts dabei; erst Jahre später fiel mir ein, daß sie vielleicht auf mich gewartet hatte. Und eines Abends, als wir unter der Laterne standen, sprach ich ein bißchen zu begeistert von einem bestimmten Buch, und Nancy fragte, ob ich es ihr leihen könnte. Ihr Interesse freute mich, zugleich aber alarmierte mich der Gedanke, daß sie sehen könnte, wo ich wohne.

„Ich bring’s dir morgen”, sagte ich.

„Ach, komm – hol’s mir jetzt”, schmollte sie, und ich sah über ihre Schulter Vater mit gerecktem Hals am Gartentor nach dem Zeitungsjungen Ausschau halten. Mir wurde ganz schlecht. Ich wußte, daß so ein nettes Mädchen unmöglich den Wunsch haben konnte, meinen Vater kennenzulernen. Gleichzeitig sah ich keine Möglichkeit, das Buch zu besorgen, ohne ihn ihr vorzustellen. Wir gingen zusammen hin.

„Vater, das ist Nancy Harding”, sagte ich nebenbei. „Ich hol ihr eben ein Buch.”

„Oh, komm rein, Mädchen, komm rein”, sagte Vater freundlich lächelnd. „Setz‘ dich doch, solange du wartest.” Fast hätte er den Zeitungsjungen vergessen. „Mutter!” rief er. „Guckst du mal nach der Zeitung!” Und er stellte einen Stuhl mitten in die Küche. Während ich im Wohnzimmer nach dem Buch suchte und es zu meiner Verzweiflung nicht finden konnte, hörte ich Mutter nach der Zeitung gehen und Vater wie einen Geistesgestörten auf Nancy einreden, und als ich in die Küche kam, saß er da in seinem Lieblingsstuhl, die Zeitung unberührt auf dem Tisch, und erzählte eine seiner end- und sinnlosen Geschichten aus der Nachbarschaft. Vater war hier geboren, was ihn anscheinend mit Stolz erfüllte. Wenn ich aber eines seiner Lieblingsthemen am wenigsten leiden konnte, dann war es das „verruchte” Leben, das die Leute hier zu seiner Jugendzeit geführt haben sollten. Gerade erzählte er von einer Totenwache – seine saftigsten Geschichten handelten immer von Totenwachen – und einer müden Frau, die dem Leichnam das Bett neidete. Nancys Aufmerksamkeit entzückte ihn dermaßen, daß er mehr als sonst übertrieb, und ich stand mehrere Minuten stumm und zornig in der Küche, bevor man mich überhaupt bemerkte. Als ich Nancy zur Tür brachte, fühlte ich mich gedemütigt wie nie zuvor in meinem Leben. Ich bemerkte, daß unsere Veranda brüchig war, das Gartentor schief abstand und die Straße voller Wäsche hing.

Das schlimmste aber kam noch. Eines Abends, als ich heimkam, sagte meine Mutter fröhlich: „Vater hat auf dem Heimweg die kleine Harding getroffen.”

„Ach, ja”, sagte ich möglichst gleichgültig, obwohl es mir einen Stich im Magen gab.

„Reiner Zufall!” rief Vater und ließ kurz die Zeitung sinken. „Wir haben uns unterhalten, dies und das. Ihre Tante Lil war mal gut mit deiner Mutter befreundet. Ihre Mutter ist eine Clancy. Wußte doch, daß mir das Gesicht irgendwie bekannt vorkam.”

„Also das hätt‘ ich nicht gedacht”, meinte Mutter. „Wenn man bedenkt, was sie für eine ruhige kleine Person war.”

„Was soll den an der ruhig sein?” gluckste Vater; er mochte junge Leute, die den Mund auf kriegten – im Gegensatz zu mir.

Ich war wie gelähmt. Schlimm genug, daß ich Nancy nicht selber sah; daß sie jetzt aber auch noch Vater treffen mußte, wie er in Arbeitskluft von der Düngerfabrik kam, und sich womöglich anhören, was er in seiner ignoranten Art über mich zu erzählen hatte – das war einfach zuviel. Ich mußte Vater mit Mister Harding vergleichen, den ich gelegentlich auf dem Weg von der Arbeit traf, und den ich auf eine Art und Weise respektierte, die an Bewunderung grenzte. Er war ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie eine geballte Faust, immer aus dem Ei gepeilt, und trug seine Zeitung gewöhnlich zu einem Stab gerollt, mit dem er sich manchmal auf die Schenkel hieb, während er zügig heimwärts schritt.

Eines Abends, als ich scheu zu ihm rüberschaute, nickte er mir auf seine brüske Art zu. Alles an ihm war brüsk, scharf, soldatisch, und als ich sah, daß er mich erkannte, schwang ich in Gleichschritt neben ihn.

„Wo arbeitest du jetzt?” fragte er mich mit einem kurzen Seitenblick.

„Noch bei der Eisenbahn”, sagte ich. „Noch einige Monate…”

„Und was machst du da?”

„Büroarbeit”, sagte ich. Das stimmte natürlich nicht; aber es war mir zuwider, Leuten zu erzählen, daß ich nur Laufbursche war. „In der Freizeit studiere ich natürlich”, fügte ich hastig hinzu. „Ich will vielleicht Abitur machen oder was ähnliches. Die Eisenbahn hat keine Zukunft.”

„Nicht?” fragte er überrascht.

„Nicht wirklich”, erwiderte ich gleichgültig. „Noch ein paar Jahre, und die Lastwagen übernehmen alles. Ich arbeite da nur zwischenzeitlich. Ich kann mir eine dauerhafte Tätigkeit nur vorsteilen, wenn sie mit Reisen verbunden ist. Natürlich außerhalb Irlands. Mein Hauptinteressengebiet sind nämlich Sprachen.”

„Wirklich? Wieviele kannst du denn?”

„Och, im Moment nur Französisch und Deutsch – ich mein, genug, um mich verständlich zu machen”, sagte ich. Und hatte das Gefühl, immer noch nicht den richtigen Eindruck zu hinter lassen. Vielleicht mußte man als anständiger Linguist ein Dutzend Sprachen und mehr beherrschen, „jetzt im Winter werd‘ ich Italienisch und Spanisch lernen, wenn die Zeit reicht. Ohne Spanisch ist man ja praktisch verloren. Nach Englisch ist das die meistgesprochene Sprache überhaupt.”

„Also dann!” sagte er.

Das Ergebnis unserer Unterredung stellte mich nicht zufrieden. Nachdem er weitergegangen war, verlangsamte ich meinen Schritt zu einem geruhsamen Schlendern – und begriff, daß Mister Hardings schneller Marsch mich weiter als geplant mitgerissen hatte. Von fremden Sprachen kannte ich höchstens einige Worte und Sätze, die ich mit einem unbestimmten Vergnügen gelernt und wiederholt hatte – wie ferne Echos aus meiner verlorenen Heimat. Es war unklug gewesen, den Eindruck zu erwecken, daß ich diese Sprachen vollständig beherrsche. Schließlich hatte Mister Harding drei Töchter, alle wohlerzogen, immerzu wurden Leute zu ihnen eingeladen; ich selber hoffte, demnächst empfangen zu werden. Nun aber würde man mich hauptsächlich wegen meiner angeblichen Fremdsprachenkenntnisse ein laden – und wenn Nancy oder eine ihrer Schwestern dann in fließendem Französisch oder Deutsch loslegten, würde ich mit meinen paar poetischen Sätzen dumm dastehen. Ich besaß ein altes französisches Wörterbuch, das ich mir mal von jemand geliehen hatte, und beschloß, soviel wie möglich daraus auswendig zu lernen.

Ich arbeitete hart, angespornt auch von einem Treffen mit Rita, Nancys älterer Schwester, die auf der Straße stehenblieb und mich – zu meiner Erleichterung – in Englisch ansprach.

Als ich dann eines Abends unterwegs war, was mich in jenen Tagen automatisch in den Nähe von Nancys Haus brachte, traf ich sie unverhofft, und wir standen an der Ecke des Gebäudes. Ich freute mich, weil Rita gleich rauskam und raunte: „Warum schnappt ihr euch nicht das Sofa, bevor die Katze zuschlägt?” Woraufhin Nancy errötete. Als nächstes kam ihr Vater raus und nickte uns zu. Ich winkte zurück, Nancy aber wandte ihm den Rücken. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, wie er die Straße hinunterschritt, doch dadurch schien sie nur auf meinen Vater zu kommen.

„Ich hab‘ ihn neulich wieder gesehen”, sagte sie mit einem Lächeln, das mir weh tat.

„Wirklich?” meinte ich abschätzig. „Und wovon hat er geredet? Von seiner Militärzeit?”

„Nein”, sagte sie interessiert. „Erzählt er denn davon?”

„Erzählt er von irgendetwas anderem?” erwiderte ich gedehnt. „Ich kenne den letzten Krieg in und auswendig. Scheint das einzige zu sein, was je in seinem Leben passiert ist.”

„Er weiß aber trotzdem ’ne Menge, nicht?” fragte sie.

„Dann hat er’s jedenfalls bis jetzt geschickt verborgen”, erwiderte ich. „Der Mann ist ein kompletter Versager – und Mutter hat er auch dazu gemacht. Ich schätze, sie war die klügere von beiden – was immer das zu bedeuten hat.”

„Hör auf!” sagte Nancy verwirrt. „Warum hat sie ihn denn dann geheiratet?”

„’Das Echo weiß warum’”, sagte ich lachend und stolz, einen Satz anwenden zu können, den ich neulich gelesen hatte. „Es wird wohl das übliche gewesen sein.” Und als ich sah, wie sie mich anstaunte, zuckte ich die Schultern und fügte verächtlich hinzu:

„Lust.”

Nancy errötete wieder und schickte sich an zu gehen.

„Tja, er ist dein Vater”, sagte sie. „Du mußt es wissen. Weiß der Himmel, was mit meinem ist…”

Es tat mir leid, daß sie so schnell gehen mußte; gleichzeitig behagte mir der Eindruck von Kultiviertheit und Witz, den ich bestimmt hinter lassen hatte. Davon wollte ich noch mehr auf ihren Samstag-Abend-Partys versprühen – dazu einiges Französisch, das würden mich bestimmt über Wasser halten.

Indes ließen sie sich reichlich Zeit, mich einzuladen, und meine Abendspaziergänge an ihrem Haus vorbei kriegten etwas Trotziges. Wenigstens konnten sie nicht sagen, sie hätten mich nicht gesehen. Erst Wochen später begriff ich die bittere Wahrheit: daß man mich nicht ein lud, weil ich unerwünscht war. Nancy hatte mein Haus und meine Eltern gesehen; ihre Schwestern und ihr Vater hatten mich in Augenschein genommen – meine Arbeitshosen und den Flicken. Da konnte ich noch soviel Französisch oder Deutsch sprechen, wie ich wollte. Sie hielten mich einfach für unter ihrem Niveau.

Es waren die bittersten Wochen meines Lebens. Voller Verzweiflung spazierte ich abends im Winter an dem Haus vorbei, aber niemand bemerkte mich. Und wenn ich auf dem hinteren Feldweg erschien, wo der Wind in den Zweigen heulte, und den kleinen Hang hinunter auf das Haus blickte, das sich mit strahlenden Fenstern, hinter denen die Mädchen ihrer Hausarbeit nachgingen, in seine Mulde schmiegte, schien es mir voll unnahbarer Schönheit. Manchmal an der Gartenmauer ging mir durch den Kopf, daß sie vielleicht dachten, ich sei gar kein Prinz, sondern der Sohn eines Arbeiters aus der Düngerfabrik; dann aber wieder, wenn ich alleine, zerschlagen und mutlos nach Hause ging, entbrannte die Wahrheit in mir von neuem! Und wenn sie endlich herauskommen würde, das wußte ich, würden die Hardings als erste ihre Blindheit bereuen. Ich aber würde mich in herzlose Affären gestürzt haben und Nancy kühl offenbaren, daß keine dieser unglücklichen Frauen mir je etwas bedeutet hätte, nur sie.

Ich war auf dem Tiefpunkt, als man mir einen Mädchen namens Mary Dwyer vorstellte, und von Anfang an verspürte ich nicht die Notwendigkeit, ihr irgendetwas vorzumachen. Erfindungen und Mary: das paßte einfach nicht zusammen. Sie war von einer Unmittelbarkeit, die ich zuvor bei keinem Mädchen erlebt hatte. Schon beim ersten Treffen fragte sie mich, ob sie mir die Straßenbahnkarte bezahlen sollte. Das schockierte mich, aber hinterher war ich ihr dankbar. Sie bat mich auch gleich ins Haus, um ihre Eltern kennenzulernen; aber ich verlor die Nerven und versprach, es später nachzuholen. Darauf nannte sie mir alle ihre freien Abende. Sie war weder drängend noch leichtfertig; sie war nur direkt, was sie im Nu zu einem guten Kumpel und Schatz zugleich machte. Ich schulde ihr eine Menge; ohne sie würde ich wahrscheinlich heute noch jede Frau, die mich interessiert, mit Französisch oder Deutsch beeindrucken wollen.

Selbst als sie mich ihren Eltern vorstellte, kam ich mir innerhalb 5 Minuten zu Hause vor. Mary fragte mich auch gleich ob ich mit „nach oben” wollte. Das hatte mich bisher noch kein Mädchen gefragt, und ich errötete, doch ihre Art war mir zum Glück schon vertraut. Ihr Vater war ein langer, trauriger Beamter und ihre Mutter eine helile, direkte kleine Frau, nicht unähnlich der Tochter, und was immer er sagte, die beiden redeten ihn erbarmungslos an die Wand. Danach hing sein Kopf noch tiefer, aber plötzlich, nachdem ich ein bißchen erzählt hatte, fing er an, mit mir über den Zustand des Staates zu reden, der ihn zu bekümmern schien. Ich dagegen war in jenen Tagen zuversichtlich, grub meine Hände tiefer in die Hosentaschen und gab höflich aber feste Antwort. Er ertappte mich bei einem Gemeinplatz, was ihn dermaßen freute, daß er zwei Flaschen Bier aus der Küche holte. Inzwischen war ich so in Fahrt, daß ich das Bier gerne nahm (für ein gutes Streitgespräch bin ich heute noch zu haben).

„Herrje”, sagte Mary, als ich ging. „Hörst du denn niemals auf, wenn du mal angefangen hast?”

„Man trifft nun mal nicht jeden Tag einen so gebildeten Gesprächspartner”, sagte ich gutgelaunt.

„Wenn du ihn erst mal solange kennst wie ich, hältst du ihn vielleicht nicht mehr für so intelligent”, sagte sie, ohne direkt beleidigend zu wirken; ich hatte eher den Eindruck, sie war froh, endlich jemand gefunden zu haben, der ihren Vater unterhalten konnte. Es gab ihr das Gefühl, die ganze Zeit schon eine Intellektuelle gewesen zu sein, die nur mit den falschen Jungs zusammen gewesen war. Während ich ihr den Hof machte, stritten wir alle naselang – mit ihrem Vater aber war es Liebe auf den ersten Blick. Nachdem die Eisenbahn mich gefeuert hatte, war er es, der mir einen neuen Job besorgte und darauf bestand, daß ich ihn auch antrat. Der arme Teufel hatte sich seit Ewigkeiten nach einem weiteren Mann im Haus gesehnt.

Eines Abends traf ich zufällig Nancy Harding, die ich einige Monate nicht mehr gesehen hatte. Es war ein peinlicher Moment, denn mir wurde sofort klar, daß meine Fantasien Wirklichkeit geworden waren. Wenn ich auch keine „Affäre” hatte, so doch beinahe. Trotzdem war Nancy meine erste und reinste Liebe.

„Wie ich höre, soll’s dir und Mary Dwyer prächtig gehen”, sagte sie, und etwas in ihrer Stimme ließ mich auf hören. Später merkte ich, daß es der Ton war, in dem ich ihr eigentlich die kühle Nachricht hatte hinschleudern wollen.

„Ich hab‘ sie öfters gesehen”, gab ich zu.

„Hat ja nicht lange gedauert, bis sie dich geangelt hat”, sagte sie mit einem Lächeln, das nicht glücken wollte.

„Ich weiß nicht, was du mit ‚angeln‘ meinst”, erwiderte ich mit zusammengeraffter Würde. Sie hat mich zu sich eingeladen, und ich bin gegangen, das ist alles.”

„Das ist allgemein bekannt”, sagte Nancy mit nicht mehr zu überhörender Schärfe. „Das brauchst du mir nicht mehr zu erzählen.”

„Da gibt’s auch nichts zu erzählen”, erwiderte ich mit breitem Lächeln.

„Ich schätze, sie spricht Französisch und Deutsch wie ihre Muttersprache?” fragte Nancy.

Diese Anspielung auf mein Geflunker verletzte mich, ich wußte, daß die Hardings indiskret waren, hätte aber nicht gedacht, auch noch Gegenstand ihres ständigen Gelächters zu werden.

„Ich weiß wirklich nicht, worüber du redest, Nancy”, sagte ich matt. „Mary hat mich zu sich eingeladen, und ich bin gegangen. Genauso wie ich zu dir gekommen wäre, wenn ihr mich eingeladen hättet. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.”

„Mehr nicht?” fragte sie betont gefaßt, und plötzlich sah ich zu meiner Überraschung Tränen in ihren Augen. „Und wenn du ein Haus hättest wie unseres – würde es dir nichts ausmachen, Leute einzuladen? Und Schwestern wie ich! Und einen Vater wie ich! Über deinen kannst du dich ja beklagen, aber wenn meinen hättest: dann hättest du was zu klagen! Der Vollidiot hat dir gegenüber ja nicht mal den Mund aufgekriegt! Du kannst gut reden, Larry Delaney! Du schon!”

Und sie rannte davon, um ihre Tränen zu verbergen. Ich stand auf dem Bürgersteig wie vom Donner gerührt, unfähig zu irgendeiner Reaktion. Es war alles so plötzlich geschehen, so heftig in meine Träume gedrungen, daß ich zunächst nichts verstehen konnten. Ich war so erstaunt und aufgeregt, daß ich ein Rendezvous mit Mary am selben Abend vergaß. Statt dessen unternahm ich einen einsamen Spaziergang über die Hügel zum Fluß, um mir zu überlegen, was zu tun sei. Schließlich tat ich natürlich gar nichts; ich war ja viel zu unerfahren; und erst Jahre später wurde mir klar, daß ich Nancy deswegen so sehr gemocht hatte, weil sie wie ich eines jener Königskinder war: Ausgestossene eines verlorenen Vaterlandes, die ihr Leben neben und jenseits von sich selbst zubringen, wie die Ebenbilder ursprünglicher Menschenhoffnung.