Im Atlantischen Ozean 1.800 Seemeilen westlich von Kapstadt sprühen sieben schmale Gischtfäden vom Himmel, die Katarakte Inaccessibles. Fast einen Kilometer senkrecht vom dunstigen Hochland der steilsten Insel stürzen sie ins Meer. Die Küste dazwischen ist kahl, naßgrün, nur selten zurückweichend vor einer Handbreit grobem Kiesel. Ein flechtenbesetzter Fels ragt aus rötlich braunem Seetang, ein abgesägter Moosturm. Das Meer zu seinen Füßen wimmelt von Langusten, heißt es; daß vor 50 Jahren, als die Menschen hier noch ausschließlich Kartoffeln und Speisekrebse aßen, Karies ganz unbekannt war – und erstmals auftauchte, nachdem man auf der Insel weiter nördlich eine Fischfabrik gebaut hatte mit einem Laden, um das neuartige Geld ausgeben zu können für abgepackte Lebensmittel und Süßigkeiten.
Tristan da Cunha, erloschener Vulkan in den röhrenden Vierzigern des Südatlantik, Heimat von See-Elefant und Albatros, entlegenste Menschensiedlung der Welt, ist unser Reiserichtung. Vor wenigen Stunden hatten wir ihren sturmumwölkten Kegel flüchtig aus dem Morgendämmer tauchen sehen. Aber der Wellengang war zu heftig gewesen, um die Barkassen der Insulaner längsschiff kommen zu lassen. Tristan verfügt über keinen Hafen, nur eine kleine Betonmole, von der bei gutem Wetter Boote auslaufen können. Dreht der Wind, werden sie an Land gezogen, um nicht im Wogenprall zu bersten. Von unserem Schiff erschien der Seegang in der Früh noch glimpflich; die Inselmole aber war bereits in Gischt gehüllt. „Was macht ihr eigentlich, wenn ihr das Versorgungsschiff einmal nicht erreicht?“ fragte ich einen jungen Insulaner, der anderntags doch noch an Bord gelangte, um Briefmarken zu verkaufen. „Wir warten, bis es nächstes Jahr zurückkommt“, erwiderte er – zuckte mit den Schultern: „We’s used to it.“
Tristan da Cunha, South Atlantic (korrekte Postanschrift) bildet mit ihren unbewohnten Nachbarinseln Inaccessible, Nightingale, Middle und Stoltenhoff das südliche Archipel der Britischen Kronkolonie St. Helena. Ihrer Majestät entlegenster Überseebesitz besteht noch aus noch zwei weiteren Inseln: Ascension und St. Helena, etwa 2.500 Kilometer nordöstlich von Tristan da Cunha. St. Helena ragt – wie das Tristan-Archipel – weit von jedem Festland zwischen Angola und Uruguay aus dem Atlantik, das isolierteste Einzelstück Land der Welt, ca. 100 km2, mit 6.000 Einwohnern verhältnismäßig dicht besiedelt. Das bergige Terrain hat bis heute dem Bau jedes Flughafens getrotzt. Das Eiland hängt seit seiner Besiedlung im 16. Jahrhundert von einem Versorgungsschiff ab, momentan der R.M.S. St Helena, die zwischen Cardiff und Kapstadt pendelt, dabei auch Teneriffa, manchmal Banjul (in Gambia) besucht und auf diesen Weise etwa alle 6 Wochen St. Helena mit dem Rest der Welt verbindet. Die R.M.S. St. Helena ist in erster Linie Versorgungs-, nicht Passagierschiff, verfügt indes über komfortable Ein- bis Vierbett-Kabinen für an die 200 Fahrgäste, vorzugsweise St. Helenianer auf Reisen, aber auch Urlauber, die sich für wirklich einsame Inseln interessieren und längere Seefahrten dorthin.
Als wir uns nach dem Ablegen von Kapstadt abends beim Kapitänsempfang auf dem Gesellschaftsdeck kennenlernten, entfiel endlich die Notwendigkeit, seine Reiseabsicht zu rechtfertigen. Nicht mehr: „Tristan da Cunha? St. Helena? Wo liegt denn das?“ – und, nach Hinweis im Weltatlas: „Da möchtest du hin? Da ist doch gar nichts los.“ Vielleicht ja eben drum! Nicht leicht danach auch zu erklären, mit Tristan da Cunha obendrein ein Reiseziel vorzuhaben ohne die Gewißheit, dort überhaupt zu landen. Einmal im Jahr sucht das Versorgungsschiff auf seinem Weg von Kapstadt nach St. Helena Tristan da Cunha auf. Ob mit Erfolg, entscheidet im letzten Moment das Wetter. Die Tristan-Abstecher der R.M.S. St. Helena sind trotzdem auf Jahre im voraus (jjaa^gebucht. Über das Risiko waren wir uns mithin im klaren auf dem Kapitänsempfang, wir Insel-Fans aus Frankreich, Deutschland oder USA, eine Truppe ganz unterschiedlichen Alters, Standes, Weltbilds, übereinstimmend nur in dem speziellen Reisewunsch, der unseren Eigensinn erregt hatte. Mit von der Partie die „Eingeborenen“: St. Helenianer auf dem Weg nach Hause, für die der 2.OOO-Kilometer-Umweg über Tristan, das auch sie im Leben nie gesehen hatten, eine willkommene Abwechslung war.
Unterwegs zu sein auf der R.M.S. St. Helena, ist ein getreues Überbleibsel der Königlich Britischen Postschifffahrt, wie sie einst die Weltmeere beherrschte. Ein leutseliger Zahlmeister kennt alle ihm anvertrauten Passagiere – nach Jahren noch – beim Vornamen und leitet nachmittags oder am Abend mit einem Bowler-Hut auf dem Gesellschaftsdeck die Gästeunterhaltung: Tischkegel- Wettbewerbe, Bingo oder ein Spiel, bei dem flache Froschnachbildungen aus Sperrholz von sechs „Jungfrauen“ entlang einem gespannten Bindfaden zu einer Ziellinie geruckelt werden müssen. Anschließend wird der Teppichboden des Gästedecks weggerollt, und der Hammondorgelmann spielt auf zum Gesellschaftstanz. Noch später dröhnt dann Disco aus den Decklautsprechern und immer wieder die von den St. Helenianern heiß geliebte Country Musik. Frische Luft schnappt man zwischendurch auf dem Achterdeck, wo unterm Kreuz des Südens ein kleiner Swimmingpool im Seegang schmatzt. Es ist jederzeit möglich hinauf in die Brücke zu klettern und dem gerade ruderführerden Seemann über die Schulter zu gucken. (Die völlige Zugänglichkeit der Steuerzentrale des Schiffs – auch bei schwiersten Manövern – wollte lange nicht in meinen deutschen Kopf.) Was der Tag auf See zu bieten hat, ob einen Besuch im Maschinenraum oder Albatrosgucken vom Sonnendeck, teilt einem allmorgendlich die Bordzeitung mit, die ein Reisebetreuer nebst Kaffee oder Tee ans Bett bringt. Die Kabinen sind zweckmäßig-behaglich, druckbelüftet, jede mit Dusche und WC. Es gibt einen kleinen Laden an Bord, einen Waschsälon, Bücherei und Bar, einen Fitnes-Raum, einen Arzt mit regelmäßiger Sprechstunde – alles im begrenzten, maximal genutzten Gästetrakt der R.M.S. St. Helena. Die Bordzeitung macht außerdem auf die Kleiderordnung aufmerksam: was Kapitän und Mannschaft tragen – Jacke oder Schlips, kurze oder lange Ärmel – als Vorbild für die allgemeine Aufmachung zum Abendessen. Eine ausgeklügelte Sitzordnung sorgt im Speisesaal dafür, daß niemand ohne Anschluß bleibt. Der Koch, heißt es, hat runde 20 Mark täglich pro Reisegast; neben zweierlei Frühstück und zweierlei Mittagstisch schafft er dafür ein mehrgängiges Abendessen, das einen von einer französichen Speisekarte zwischen drei Ernähungsvorlieben wählen läßt. Es scheint schwer, an Bord der R.M.S. St. Helena nicht zuzunehmen. Aber einige von uns stellen bald fest, daß sie angenommen haben. Das ständige Bemühen um Gleichgewicht gegen den Seegang, in dessen Folge man sich oft wie ein Betrunkener durch die Gänge stemmt, verbraucht, scheint es, sein Maß an Kalorien und macht wohl auch – zusammen mit der frischen Meerluft – müder als sonst. Wir alle schlafen deutlich mehr.
Das Wetter nach dem Auslaufen von Kapstadt machte zuversichtlich: zwei, drei, vier Tage Sonne, ruhige See. Wir sahen Wale, erste Albatrosse. Zur Überquerung des mitteleuropäischen Längenkreises besuchte uns der Meereskönig in Gestalt des verkleideten Kapitäns. Unterstützt vom Zahlmeister in Henkerskluft und dem zweiten Maschinisten in Netzstrümpfen richtet er über einige „verderbte“ Reisegäste, die zur Strafe toten Fisch in die Hose gestopft bekamen und geteert mit Schokoladensoße und ins Schwimmbecken geworfen wurden. Dort landete schließlich auch der von Rachegeistern heimgesuchte Meereskönig/Kapitän. In Tristan da Cunha scheint gleichfalls die Sonne, erfahren wir vom Funker, der in Fernverbindung zum dortigen Verwalter steht. Die Bewohner freuten sich auf unseren Besuch. Sie hätten ein Festessen vorbereitet.
Es leben dort knapp 300 Menschen. Sie gehen auf wenige Familien zurück, die Walfängern, Schiffbrüchigen und den Resten einer Truppe entstammen, die Anfang des 19. Jahrhunderts hier aufgestellt worden war, um der Befreiung Napoleons von St. Helena durch die Franzosen vorzubeugen. Die Vorfahren der Tristaner sind Nordamerikaner, Engländer, Italiener – die halbe Bevölkerung heißt Glass, Swain oder Repetto. In der Abgeschiedenheit des Südatlantiks entwickelte sie ihr eigenes Brauchtum. Daß etwa ein junger Mann so lange nicht heiraten durfte, bis er das Holz für einen Türstock zusammenhatte. Auf dem baumlosen Eiland war er dafür auf Treibholz angewiesen. Was dazu führte, daß mach jung Verliebte einen „anständigen Schiffbruch“ erflehten, um ihre Wartezeit zu verkürzen. Die Insel ist nur auf einer winzigen grünen Zunge Lands zu Füßen des Vulkankegels bewohnbar. Dort drängten sich ehedem die Steinhäuschen der einzigen Siedlung Edinburgh. Zwei Kilometer westlich liegen zwischen Steinmauern, damit das Erdreich nicht davonfliegt, die Kartoffeläcker. Rinder ‚ halten die Tristaner weiter oben in einem Tal auf der anderen Seite des Vulkans. Noch heute ist es üblich, sich dort bei Bedarf eine Kuh zu schießen. Hauptnahrungsmittel waren lange Zeit Kartoffeln und Langusten. Die Kartoffel diente sogar als Währung. Auf den ersten Briefmarken kann man lesen, wieviel „Kartoffeln“ jede von ihnen wert ist. Geld hielt seinen Einzug mit einer kleinen Fischfabrik, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Langustenverarbeitung unterhalb Edinburghs gebaut wurde. 1961 brach unmittelbar neben der Siedlung ein Abkömmling des Vulkans von Tristan da Cunha aus, verschüttete die Fischfabrik und bewirkte, daß die Bewohner ihr Eiland aufgaben. Sie wurden evakuiert nach England, wo sich aber die meisten nicht eingewöhnen konnten. Die Tristaner sahen damals zum erstenmal in ihrem Leben ein Auto, eine Straßenbahn. Nachdem die geologische Lage auf ihrer Insel sich beruhigt hatte, kehrten sie Mitte der 60er Jahre fast geschlossen zurück. Die Fischfabrik wurde an anderer Stelle neugebaut, und Tristan da Cunha kann seitdem wieder für sich selber sorgen. Öffentliche Aufgaben werden durch einen von der Kolonialbehörde eingesetzten Verwalter wahrgenommen. Ihm steht der Inselrat zur Seite.
Alle Reisegäste an Bord wußten dies und mehr von Tristan da Cunha. Sie waren erpicht, es nun mit eigenen Augen zu sehen. Als Tristan aber am Morgen unserer Ankunft endlich nach fünf Tagen Seefahrt endlich sichtbar wurde, umquollen dunkle Wolken den Gipfel des Vulkans. Auf dem baumlosen, feuchten Grün darunter glitzerten die weißen Häuschen Edinburghs wie durch ein umgekehrtes Fernglas. Auf der Brücke war die Radiostimme des Verwalters zu hören, der in Funkverbindung mit dem Kapitän stand. Eine Einschätzung der Wetterlage durch den Inselrat ergab bald, daß heute an keine Bootsbewegungen zu denken war. Wie zur Bestätigung verschlechterte sich die Witterung mit einer jähen, für diese Breiten typischen Geschwindigkeit. Es wurde vereinbart, daß sich die R.M.S. St. Helena bis morgen in die Deckung Inaccessibles zurückzog, einem schroffen Teil des Archipels, der vierzig Kilometer südlich aus dem Atlantik ragte.
Die schwankende Fahrt dorthin war bald nur noch verhangen. Als wir das unwirtliche Stück Fels schließlich im dichten Regen erreichten und umfuhren – empfingen uns die Wasserfälle, die romantische Leeseite Inaccessibles, die wir wohl nie erblickt hätten, wenn uns das wilde Wetter nicht hierher gescheucht hätte. Der Regen ließ gleich nach und in tröpfelnder Beschaulichkeit ging R.M.S. St. Helena vor Anker, um den Rest des Tages, durch Inaccessible vor Witterung geschützt, hier auszuruhen. Ziehender Dunst gab bald den Blick frei auf die grünen Klippenränder des Hochplateaus, auf kleine, windgeformte Bäume wie Tuschestriche auf japanischem Papier. Später am Tag trat mit verfliegendem Nebel die ganze Küste steil hervor, moosüberzogen und urtümlich, jurassisch; man hätte sich kaum gewundert, Dinosaurier zwischen den Klippen zu erblicken.
Einen Versuch hat es gegeben, Inaccessible zu besiedeln. Zwei Aachener Brüder, Friedrich und Gustav Stoltenhoff, ließen sich 1871, nachdem ihre Färberei vom Französisch-Preußischen Krieg ruiniert worden war, mit Federbett und einer kleinen KlassikerSammlung am Ufer der Windseite nieder, um Seehunde zu jagen und mit den Häuten Handel zu treiben. Nachdem ihre Vorräte verbraucht waren und die erste Ernte nur einige Radieschen abwarf, verhungerten sie fast. Auch weil sie keinen Weg auf das Hochplateau fanden, wo es wenigstens wilde Ziegen zu schießen gab. Außerdem, heißt es, hätten die Tristaner ihnen die Versorgung abgeschnitten, damit die Deutschen Inaccessible nicht für den Kaiser beanspruchten. Zwei Jahre später nahm sie ein Forschungsschiff zurück nach Kapstadt. Immerhin wurde die dritte Insel des Archipels nach den Brüdern Stoltenhoff bennannt.
Abends an der Bar höre ich die andere Deutschen-Geschichte: von Horst, der auf St. Helena einen großen Handel aufgezogen haben soll, aber mit dem Gouverneuer aneinander geriet und daraufhin verbannt worden sei. Er darf die Insel nun nicht mehr betreten, nicht mal um seine Yacht abzuholen, die nach wie vor in der Bucht vor Jamestown dümpelt. Dann ruft der Gong zum Abendessen. Das ganze Schiff ist heute Nacht verdunkelt, damit die Seevögel nicht vom Licht der Luken verwirrt werden. Draußen ragt der mächtige, Stille spendende Schattenriß von Inaccessible, der „Unzugänglichen“, im Mondlicht.
Am Morgen verbreitet sich das Gerücht, die Endurance sei in der Nähe, Ihrer Majestät Marine- und Erkundungsschiff. Die Engländer an Bord klären uns gleich auf, daß die Vertreibung der Endurance einst den Falkland-Krieg ausgelöst hätte. Jetzt patrouilliere die „Beständige“ wieder in ihren hergebrachten Gewässern knapp über der Antarktis. Sie hat einen Helikopter an Bord.
Wieder vor Tristan da Cunha gewahren wir sie, rot und kräftig, in unserem Kielwasser und, ehe wir uns versehen, ein bis zwei Seemeilen steuerbord. Auf dem Achterdeck glitzert der Hubschrauber im jähen Sonnenlicht wie eine gereiztes Insekt. Das Wetter, wenn auch regenfrei, ist weiter unruhig,- der Kegel Tristan da Cunhas in Wolken gehüllt, dann plötzlich freigeweht und wieder vollständig verborgen – alles innerhalb 5 Minuten. Es wird klar, daß an die Bewegung von Landebooten weiter nicht zu denken ist. Dabei liegt Edinburgh jetzt zum Greifen nah, aus der kurzen Entfernung anmutend wie kleine Vorstadt: helle niedrige Häuser, Vorgärten, ein Sportplatz. Darüber zerren die alles abnutzenden Winde der „röhrenden Vierziger“.
Wir drängen uns in der Brücke, um das Funkgespräch des Kapitäns mit dem Verwalter Tristan da Cunhas mitzuhören. Auch der Befehlshaber der Endurance nimmt daran teil. Und plötzlich ist abgespröchen, daß der Hubschrauber zum Einsatz kommt. Wir sehen ihn zuerst nur, hören später sein schwaches Knattern vor den grünen Kliffen des Ufers, dann donnert er unvermittelt über unserem Sonnendeck und seilt zwei Marineinfantristen ab. Sie treffen Vorbereitungen für den nun folgenden Einsatz. Von der Insel wird eingeflogen, wer dort auf das Schiff gewartet hatte: eine Tristanerin, die ihre Töchter in Kapstadt besuchen möchte, ein katholischer Pater, zwei französische Touristen, die Frau des Verwalters – eingeflogen werden auch zwei Tristaner mit Briefmarken, die sie auf dem Gesellschaftsdeck verkaufen, sowie der Insel-Polizist, um unsere Pässe zu stempeln. Es ist ein Kommen und Gehen, während die R.M.S. St. Helena – begleitet von der H.M.S Endurance – das bald sonnige, bald verregnete Eiland unausgesetzt umrundet; denn nur in voller Fahrt garantieren die Schiffsstabilisatoren eine Ruhelage hinreichend für Hubschrauberaktionen. Von der R.M.S. St. Helena werden wichtige Güter: Medizin, Post, Ersatzteile in einem großen Netz auf die Insel geflogen. Auch zwei Reisegäste, englische Berichterstatter, die an Büchern über Tristan da Cunha arbeiten, werden auf einen kurzen Besuch hinübergebracht. Sie müssen unser aller Augen, Ohren sein und werden nach ihrer Rückkunft sofort umlagert. Wir erfahren, daß die alten .Steinhütten Fertigbauwänden gewichen sind und die Flachsdächer hartem Wellblech. Bereits vierzehn Landrover gibt es auf Tristam für 2 Kilometer Straße. Der Arzt muß in der Lage sein, eine Blinddarmoperation an sich selber durchzuführen.
Und die Insulaner haben Sportvarianten – von Fußball, Völkerball – mit weniger Körperkontakt entwickelt, um Verletzungen vorzubeugen. Sie seien ausgesprochen schüchtern. Und müde, Gegenstand wissenschaftlicher Neugier zu sein. Sie heißen Besucher willkommen, wenn es keine Ethno-, Sozio-, Psycho- oder sonstige – logen sind. Kanadischen Wissenschaftlern sei soeben gelungen, aus dem überschaubaren Pool Tristan da Cunhas das Gen zu sondern, das Asthma verursacht.
Ein schmächtiger junger Mann, den der Hubschrauber an Bord gebracht hat, sitzt eingepackt wie ein Lungenpatient im Liegestuhl auf dem Promenadendeck, den melancholischen Blick nicht für eine Sekunde vom gewaltigen günen Kegel des Eilands lassend, das wir umrunden. Wir denken erst, er sei ein Insulaner, der für eine schwere Operation aufs Festland muß; aber es ist ein französischer Student, der sechs Monate Ferien auf Tristan da Cunha verbrachte. Auf dem Gesellschaftsdeck kommt es später zu einem langen Abschied zwischen ihm und dem jungen Tristaner, der uns Briefmarken verkauft hat, und nun als letzter auf seine Insel zurückfliegt.
Der Tag voller Flug- und Schiffbewegungen ist erfüllt von dem, was sich zugleich entzieht: Tristan da Cunha – allgegenwärtig in Begrüßungen und Abschieden, Wortwechseln, Unternehmungen, Vorstellungen, Briefmarkenbögen und Erinnerungsstücken – sowie als ständig wechselner, wetterwendischer Anblick unserer Ümrundungen. Abends, schon auf dem Weg nach St. Helena, lauschen wir den Erzählungen der an Bord gekommenen Tristanerin über den Vulkanausbruch 1961, der fast das Ende der Siedlung bedeutet hatte. Wie es die Insel damals Hals über Kopf zu verlassen galt; wie sie als junges Mädchen nur ihre Schminksachen aus dem Wohnhaus gerettet hätte; wie es ihnen danach in England erging, wo sie gleich eirx^mbekanntertVolksstamm medizinisch und psychologisch „vermessen” wurden.
Ein südafrikanischer Geschäftsmann macht uns anderntags klar, daß Tristan da Cunha nach seiner Einschätzung eigentlich kommunistisch sei. Alle verdienten das gleiche; es gäbe kaum Eigentum; Entscheidungen würden nur gemeinsam gefällt. Die Leute hätten wenig Grund, sich zu sorgen. Keiner wolle mehr als der andere. „It’s Nirwana!“
Was man von St. Helena, das wir inzwischen ansteuern, nicht behaupten kann. Die Vorfahren der dortigen Bewohner, sind nicht – wie die Tristaner – aus eigenen Stücken gekommen, sondern meist „verfrachtet“ worden: um den entlegenen Versorgungsposten zu besetzen, als Angestellte von Handlungsgesellschaften und deren Sklaven, als politische Gefangene wie etwa Napoleon oder auch der ein oder andere aufmüpfige Bure oder Zulu-Prinz. Die Bevölkerung ist heute eine Mischung aus allen Rassen der Welt. Sogar eine Tausendschaft Chinesen ist völlig absorbiert worden. Selbst nennen sich die Bewohner St. Helenas heute „Saints“. Verglichen mit den Tristanern sind sie Ausbünde an Betriebsamkeit. Die R.M.S. St. Helena betrachten sie als „ihr“ Schiff und stellen auch den größten Teil der Besatzung. Auf eine rührende Art hängen sie am Mutterland Großbritannien, daß sie so stiefmütterlich behandelt. Offiziell gelten sie nicht als englische Staatsbürger, dürfen somit nicht in Großbritannien oder der EU ihren Unterhalt verdienen. Da es auf ihrer Insel keine funktionierende Wirtschaft gibt, arbeiten viele von ihnen auf den militärischen Anlagen von Ascension oder den Falkland Inseln. Sie hoffen, daß mit dem Fall Hongkongs an China diese Einschränkung zurückgeht. Denn die britische Staatsbürgerschaft, glauben sie, wird ihnen nur solange vorenthalten, wie auch Millionen Hongkongchinesen darauf Anspruch hätten. Was sich erledigt, wenn diese Kolonie nun nicht mehr britisch ist. Dieses Politikum wird einem, auch als außenstehenden Urlaubsreisenden, gerne wiederholt erklärt. Verglichen mit Tristan da Cunha „gärt“ es ihn St. Helena. Bestimmte intellektuelle Kreise erwägen sogar, beim französischen Konsul, der die letzten Wohnstätten Napoleons bewacht, politisches Asyl zu beantragen, um ihr Eiland und dessen Sache vielleicht auf diese Art einmal endlich in die Schlagzeilen zu katapultieren. Aber als „Saint“ darf man’s nicht eilig haben. Mindestens fünf Tage dauert die Reise zum nächsten Festlandhafen.
Auch wir haben – von Tristan da Cunha – 2.500 Kilometer zurückzulegen, bevor wir St. Helena erreichen. Die Seereise wird zur Gewohnheit: der melodiöse Gong zum Mittag- oder Abendessen, die Partyspiele (inzwischen sind Rate-Teams gebildet worden; ich gehöre zu „Ernie’s Militia“). Wir lümmeln auf dem Sonnendeck und hören einen Vogelfachmann seiner fernglasbewehrten Truppe dartun, daß Albatrosse Nahrung für ihre Jungen – etwa auf Tristan da Cunha – aus bis zu 2.000 Kilometer Entfernung heranbringen. Wieder ziehen Wale vorbei. Abends gibt es ein großes Grillfest auf dem Sonnendeck. Ich sehe jetzt, daß man nicht nur sinnbildlich vom „roten Mond“ redet; tief orangefarben steigt er aus dem Atlantik. Der Navigator erklärt und zeigt uns die Sterne der südlichen Himmelkugel. Danach wird vom Zahlmeister ein Menuett eingeübt mit dem Ziel, die teilnehmenden Männer und Frauen in möglichst eindeutige Lagen zu befördern. Ausgesprochen albern – und anregend.
Vier Tage später sichten wir in der Früh St. Helena, aus der Ferne eine überwölkter umgestülpter Trog. Ist Tristan da Cunha die einsamste, so ist St. Helena die isolierteste Insel der Welt. 1.200 Kilometer sind es von hier zum nächsten Stückchen Land. „Diese Insel mag mich nicht!“ soll Napoleon beim ersten Anblick ausgerufen haben. Die Küste ist kahl, baumlos, trocken, gräulich-brauner Fels. Ein Stück Wüste mitten im Atlantik. Jamestown, die kleine Hauptstadt, ist in ein karges Tal gezwängt, einen sonnverbrannten Schlund, an dessen steilen Seiten sich zwei Fahrwege hinauf ins Inselinnere schlängeln. Den rechten Hang reicht eine stark ansteigende Treppe mit 700 Stufen hinauf, die Jakobsleiter zum hochgelegenen Fort. Tagsüber braucht man 15 Minuten, sie zurückzulegen. Und der ganze Ort schaut einem dabei zu.
Auch St. Helena verfügt über keinen Hafen. Die R.M.S. St. Helena ankert in James Bay und wird dort mit Hilfe von Barkassen und Pontons für Container entladen. Halbstündlich verkehrt ein Wassertaxi für Reisegäste zwischen Schiff und Landungssteg. In St. Helena ist „ship day“ und die ganze Insel auf den Beinen. In Jamestown, sonst ein niedlicher, verschlafener Außenposten eines nicht mehr bestehenden Imperiums fliegen die Geschäfte auf, selbst wenn’s – wie heute – gerade Sonntag ist. Die zwei Hotels am Ort stehen bereit für eins der wenigen Male, wo sie im Jahre Gäste haben. (Die müssen dann allerdings für die lange Leerzeit mitbezahlen!) Abends steigt ein Ball zum Wohl der Pfadfinder, deren Aufmarsch anderntags vom Gouverneur abgenommen wird. Die Pfadfinder sind die größte stehende Truppe St. Helenas. Sie könnten wohl die Macht an sich reißen, wenn sie wollten.
Im Keller unterm Wohltätigkeitsball dröhnt Discomusik. Die Schiffsmannschaft ist an Land gekommen, läßt im kleinen Biergarten weiter vorn die Runden springen. Tout St. Helena ist anwesend. Man spürt, daß die Mädchen, hübsche Mulattinnen, gerne jemand zum Freund hätten, der auf dem Schiff arbeitet, oder – nicht dran zu denken – vielleicht sogar selbst einen Arbeitsplatz auf dem Schiff, das allein einen hier rausbringen kann. Ständig werde ich in irgendeine Lokalrunde einbezogen und lande viel früher, als beabsichtigt, vollkommen betrunken auf meinem Hotelzimmer. Die Musik draußen geht weiter, sagt man mir, bis 4 Uhr früh.
Im Früstücksraum des Hotels prangt das handgemalte Bild einer Wassermühle in Schwarzwaldambiente. Sowas gibt es sonst nur in Japan. Oder auf den Malediven. Draußen wartet ein zum Kabrio zurechtgfesägter 1937-Chrysler-Lkw, um uns herumzufahren. Er keucht an Jamestowns ödem Westhang herauf und taucht, zu unserer Überraschung, in zusehends grüne Landschaft. Wir besichtigen den kleinen Pavillion, wo Napoleon auf die Errichtung seines letzten Domizils wartete. Damals scheute man sich nicht, brokatenes Bettzeug mit hellgrünen Fensterrahmen zusammenzustellen. Indem unsere Fahrt weitergeht, verändert sich die Landschaft vollkommen, gewinnt etwas Liebliches, Bukolisches: enge grasgrüne Täler, Wäldchen, kleine Anwesen hinter Hecken. Viele der Hänge sind über und über mit Neuseelandflachs bewachsen, der hier früher verarbeitet wurde. Wir kommen nach Longwood, dem ummauerten, einstöckigen roten Wohnkomplex, wo Napoleon seine letzten Jahre verbrachte, heute französisches Staatsgebiet. Eine junger Konsul wacht unter der Trikolore über das Anwesen. Auf seinem Wagen prangt das CC des diplomatischen Dienstes.
Die Landschaft auf St. Helena ist abwechslungsreich. Aus üppigen Flachsanlagen stürzt die Straße hinab in eine Halbwüste, die unvermittelt einer Oase aus Farn und Palmen weicht, um dann in einem dunkelsandigen Strand am Meer auszulaufen. Hier unten ist es brütend heiß, während auf den Pässen in Sichtweite der Wind den Flachs zerwühlt. Die Rundfahrt endet vor Plantation House, dem wellblechgedeckten Herrschaftssitz des Gouverneurs über 6.000 St. Helenianer. Auf dem Nummernschild seines Mittelklassewagens glänzt statt Ziffernfolge eine goldene Krone.
St. Helena ist ein liebenswürdiges Überbleibsel des britischen Weltreichs, Insel wie ihr Mutterland, das sie nun am Leben hält. Fragt man einen St. Helenianer, der Beschäftigung hat, für wenn er arbeitet, kriegt man unweigerlich zu hören: „Für die Regierung.“ Denn einen anderen Arbeitgeber gibt es auf St. Helena nicht. Folglich auch keine Bank. Keine Zeitung. Produkte, die man vielleicht ins Ausland verkaufen könnte wie Flachserzeugnisse oder Fisch, werden über Gebühr verteuert durch den langen Transportweg. Den Fremdenverkehr erschwert die lange An- und Abreise. Man macht sich Gedanken über einen Flugplatz, oder neuerdings Arbeitsplätze per Internet. Im Moment aber schlummert das Eiland noch einen nur einmal auf dieser Welt vorkommenden Dämmerschlaf zwischen Napoleon, Pfadfindern, Arbeitsausflügen zu den Falklands und dem „Schiff“.
Als wir zurück nach Kapstadt fahren – noch einmal 3.000 Kilometer – haben wir viele neue Reisende an Bord. Etliche St. Helenianer, die zur medizinischen Behandlung nach Kapstadt müssen, weil das Jamestown-Krankenhaus ihnen nicht weiterhelfen kann. Auch Fachkräfte im Sold der britischen Überseeverwaltung: einen Mathematiklehrer, einen Psychologieprofessor. Er untersucht, wie sich das neulich eingeführte Fernsehen auf die Kinder St. Helenas auswirkt. Er meint, die Kinder auf St. Helena seien glücklicher als in Großbritannien, der Familiensinn stärker. Ein kleines Mädchen fährt zum erstenmal nach Kapstadt; sie begleitet ihren Vater, der dort operiert werden soll.
Die Strecke von St. Helena nach Kapstadt ist rauher als die vorherigen Abschnitte unserer Seefahrt. Wir kommen in das grüne Wasser des arktischen Benguelastroms; statt Walen begleiten uns jetzt Seehunde. Kalter Dunst liegt über der Uferwüste Namibias. Nach drei Tagen nähern wir uns dort der Kleinstadt Lüderitz. Durchs Fernglas sieht man erst nur Dünen, dann unvermutet einen Kirchturm, einen wilhelminischen Herrschaftssitz, wachend über eine Herde grauer Häuser. Die Leuchtturmwärterin stellt sich fernmündliche als „verrücktes Fräulein Clay“ vor, Ex-Reisende auf der R.M.S. St. Helena. Der Zahlmeister kann sich natürlich an ihren Aufenthalt erinnern. Sie plauschen über Funk und stellen dabei fest, daß einer gemeinsame liebe Bekannte nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Auch der Gouverneur ist an Bord. Er muß in Kapstadt die jährliche Regatta nach St. Helena starten. Wir lernen ihn als flotten Tänzer kennen, auf dem Gesellschaftsdeck im 3/4-Takt, später im Mannschafts-Quartier zu lauter Rockmusik. Das Freizeitprogramm gipfelt in einer „Nacht der komischen Hüte“. Alle machen diesmal mit (selbst die Franzosen). Das Tanzen hat danach eine besonderes Format aufgrund des außerordentlich starken Seeganges. Es schubst und kegelt einen über die Fläche. Aber fast alle Beteiligten sind inzwischen derart seefest, daß sie eine fidele Kür daraus zu machen verstehen.
Als wir uns nach 5 Tagen Kapstadt nähern, ist es schon dunkel. Alle beobachten das kleine Mädchen aus St. Helena, die soviel Lichter auf einmal noch nie in ihrem Leben gesehen hat. Dann startet zu ihrem Entzücken auch noch ein Langstreckenflugzeug. Der Tafelberg wird von Flutlichtern angestrahlt wie anderswo eine Kathedrale oder Festung. Er überragt alles.
Wendig wie ein Go-Kart nähert sich von hinten die Barkasse des Lotsen. Schon ist er über eine Strickleiter an Bord geklettert und übernimmt das Kommando. Wieder steht es uns frei, die nächtliche Einfahrt in den Hafen Kapstadts auf der Brücke zu bezeugen: das Hin- und Hergerufe zwischen Losten und Ruderführer, die fernmündliche Aufeinander-Abstimmung zweier Schlepper, die unser Schiff zuletzt zentimetergenau an seinen Liegeplatz stupsen.
Noch eine Übernachtung und Frühstück an Bord, dann entläßt uns die . R.M.S. St. Helena mit einer Kopie des Logbuchs und guten Ratschlägen für die große Stadt. Wer aber später noch auf den sonnigen Terrassen von Kapstadts Waterkant etwas zu sich nahm und zum Hafen rüberblickte, konnte „unser“ Schiff unter allen anderen herauskennen – das einzige mit knallgelbem Schornstein.