Mazury

Am Gartentor des Familienhauses befand sich ein weißes Schild mit schwarzen Buchstaben, „lekarz“, das polnische Wort für Arzt.
Davor parkte der Wagen.
Das kleine Tor im Zaun stand offen.
Auf den Fahrer gestützt, torkelte ich durch den Vorgarten auf das Haus zu.
Ein Hund bellte. Drinnen ging Licht an.
Die Türe zum Behandlungsraum öffnete sich, und ich wurde hereingeschleppt von dem Fahrer und einer Frau im Morgenmantel.
Sie platzierten mich auf eine Liege.
Der Fahrer sagte etwas auf Polnisch zu der Frau, schien sich zu bedanken.
Die Frau schaute ihn abwartend an.
Seinen Worten nach musste der Fahrer wohl weiter.
Die Frau fragte ihn etwas.
Er beugt sich über die Liege.
Der Arzt käme bald, sagte er zu mir in gebrochenem Englisch. Er sei gerade bei einer Hausgeburt, müsse aber jeden Moment zurückkehren.
Mein verletztes Bein pochte.
Die Frau wiederholte ihrer Frage.
Der Fahrer antwortete.
Sie insistierte.
Er zuckte mit den Schultern.
Dann verabschiedete er sich.
Er verschwandt durch die Türe und ließ die Frau zurück mit mir in dem Behandlungszimmer.
Ihr Blick wanderte über mein trotz des Geschäftsanzuges abgerissenes Äußeres.
Sie durchsuchte die Taschen meiner Hose – meiner Jacke. Dort stieß sie auf etwas, zog es hervor.
Ein MP3-Player.
Sie fummelte daran herum, legt das Gerät dann neben meinem Kopf ab und suchte weiter.
Sie stieß auf die gummibandumwickelte Rolle 100-Euro-Scheine.
„Doktor come very soon“, sagte sie. „Good doctor!“
Sie suchte weiter durch die Taschen meines Jacketts und stieß dort auf den Revolver, aus dem vor keinen 10 Stunden die Kugeln abgefeuert worden waren.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, strebte Richtung Türe, drehte sich dort noch einmal um. „No move. Doctor come.“ Sie knipste das Licht aus und verschwand im Flur.
Von draußen drang Hundebellen herein.
Darunter mischt sich – dünner – ein Musikfaden aus den Ohrhörern des MP3-Spielers neben meinem Kopf.
Ich starrte an die Decke. In ein Gewirr von Blätterschatten, das sich, durchleuchtet vom durchs Fenster dringenden Mond, dort bewegte.
Kennen Sie dieses Gefühl, wenn man im Traum versucht, vor etwas wegzulaufen? Die Beine werden schwerer mit jedem Schritt, und es kostet einen übermenschliche Kraft, sie auch nur einen Millimeter zu bewegen? Während das, was einen verfolgt, unerbittlich näher rückt? Schwarzes Blei durchlähmt die Knochen und macht jeden Fluchtversuch sinnlos.
Es wird dich erwischen.
Früher oder später wirst du eingeholt von dem, was dir von Anfang an zugedacht war.
Die Schatten der Blätter wimmelten an der Decke, und die Musik aus den Ohrhörern – in meiner Erinnerung – wurde lauter.
*
Der Sommer hatte begonnen, da erklang überall der Hit, der Ohrwurm. Auch ich musste ihn dauernd mitsummen.
Julia sang ihn morgens, wiederholte den stumpfsinnigen Kehrreim unter der Dusche: „. . . da-ba-dee-da-ba-dei – da-ba-dee-da-ba-dei!“
Er klang aus den Ohrhörern meines MP3-Players, als ich zu unserer Verabredung radelte im dem alternativen Café hinter der U-Bahn-Station.
Ein paar junge Leute schubsten sich vor der Stiege zum Eingang.
Ich näherte mich vom Ende der Straße, trug meinen Ranzen auf dem Rücken. Mein Fahrrad parkte ich auf dem Bürgersteig.
Wie immer setzte ich mich an den Tisch, von dem aus ich die ganze Straße überblicken konnte, holte meinen Klapprechner hervor und schrieb hinein. Schaute einen Moment ins Leere. Bearbeitete weiter die Tastatur.
Klara kam und nahm die Bestellung auf.
Durchs Fenster erblickte ich Julia. Sich umsehend, stieg sie die U-Bahn-Treppe hinauf.
Sie wirkte elegant, trotz ihrer legeren Kleidung. Sie erblickte mein Fahrrad, dann mich hinter dem Fenster, der in etwas vor ihm auf dem Tisch vertieft schien.
Lächelte sie jetzt?
Klara trat zu ihr heraus, zündete sich eine Zigarette an.
„Hi“, hörte ich sie sagen.
„Hi“, antwortete Julia.
„Denkst du an meine Haare?“
„Seh’n aber gut aus, so.“
„Ich will eine von deinen tollen Frisuren.“
„Ich hab‘ doch damit aufgehört.“
„Im Ernst? Bist du nicht mehr im House of Hair?“
Julia schüttelt den Kopf.
„Du machst Deinen eigenen Laden auf?“
„Nicht direkt.“
Julia bemerkte meinen Blick. Sie nickte mir zu.
Ich schaute durchs Fensterglas zu ihr, erwiderte ihren Gruß mit meinem beschäftigten Lächeln.
Wir lebten in einer kleinen Altbauwohnung. Nichts besonderes. Die Zimmer wurden mit Kohle beheizt, und im Winter konnte es bei drei Außenwänden manchmal kalt werden. Aber dafür stimmte die Miete. Und wir hatten ja uns beide.
Und jetzt saß sie mir gegenüber in dem alternativen Café und hob meinen Kaffee-Krug an ihre schönen Lippen.
Sie hatte eigentlich einen guten Job als Friseurin, und ich hatte Zeit zum Schreiben.
Julia setzte mein Krug wieder ab und löste die Anzeigefläche des Klapprechners von der Tastatur meines Klapprechners, um zu lesen, was ich geschrieben hatte.
Kennengelernt hatten wir uns bei Dreharbeiten. Sie hatte die Haare der Statisten gemacht, und ich war einer davon gewesen.
Wir hatten Gefallen aneinander gefunden und waren schließlich zusammengezogen. Mehr gibt es im Grunde nicht zu erzählen. Eine stinknormale Liebesgeschichte, trotzdem die wundervollste Sache der Welt.
Sie hob den Blick von der Anzeigefläche, schaut zu mir herüber. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen, schon die ganze Zeit.
„Das ist toll, ehrlich.“
Ich schwieg.
Auch als wir später die Straße hinunter gingen.
Wann würde sie endlich damit herauskommen?
„Wirst du’s einem Verlag schicken?“, fragte sie.
„Mit Rückumschlag? Ich kann ihnen die Mühe sparen.“
„Ich versteh‘ ja, dass du ein bisschen verbittert bist. Aber du darfst die Hoffnung nie aufgeben. Eines Tages…“
„Eines Tages krieg‘ ich eine Schreiblähmung“, unterbrach ich sie, „und damit wäre dieses Problem für uns alle dann ein für allemal gelöst.“
„Aber…“
„Ich hab‘ keine Lust, weiter darüber zu reden.“
Die Pause zwischen uns zog sich in die Länge.
„Es ist gut, was du geschrieben hast. Echt.“
Ich schob mein Rad neben ihr auf dem Bürgersteig. „Willst du noch irgendwo was essen?“
„Lieber nicht. Ich bin gerade ’n bisschen aufgeregt.“
„Wegen mir?“
„Wie kommst du denn da rauf?“
„Wegen mir?“
Sie wollte etwas sagen, sagte dann aber stattdessen: „Gehen wir nach Hause.“
Ich blieb mit meinem Fahrrad stehen. „Was ist heute los mit dir? Du versuchst die ganze Zeit, mir was zu sagen. Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben. Ich mein‘, wir heiraten doch nächste Woche.“ Ich beobachtete ihre Reaktion. „Oder etwa nicht?“
„Darüber wollte ich mit dir reden.“
„Willst du nicht mehr?“
„Hagen, ich liebe dich. Und ich will dich auch heiraten…“
„Aber?“
„Aber nicht jetzt. Erst – erst wenn wir ein bisschen besser dastehen. Ich habe ab morgen ein Engagement.“
Es versetzte mir einen Stich. „Was denn für ein Engagement?“
„Ich wusste, dass du so reagierst. Deswegen hab‘ ich gezögert, es dir zu sagen. Ich fahr‘ morgen nach Masuren. Die Ameko dreht dort einen historischen Film. Und sie haben mir einen Job als Maskenbildnerin angeboten.“
Wir bogen in die Straße zu unserer Wohnung.
„Das ist doch völlig idiotisch“, kam es aus meinem Mund.
„Willst du damit sagen, dass du’s mir nicht zutraust?“ sagte sie.
„Das hat doch damit nichts zu tun.“
„Ich werd’s schon schaffen. Das ist eine Riesenchance für mich.“
„Vielleicht. Aber was ist mit mir? Ist es dir völlig egal, dass du alle unsere Pläne über den Haufen wirfst? Wir werden uns die ganze Zeit nicht sehen.“
„Solange dauert’s nun auch wieder nicht.“
„Vielleicht passt es dir ja sogar in den Kram.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich dachte, dass du mich liebst.“
„Ich liebe nur dich. Das weißt du doch.“
Sie öffnet die Haustüre.
Ich blieb zurück.
„Was ist los? – Hagen…“
Ich schwieg.
„…versuch’s doch auch mal aus meinem Blickwinkel zu sehen“, hörte ich sie sagen. „Ich bin noch jung. Du auch. Wir haben doch noch Zeit, bevor wir Wurzeln schlagen. Was ich vorhabe, ist Moment das Richtige für mich. Für uns. Ich mein‘, das ist doch jetzt keine Trennung. In sechs Wochen bin ich zurück. Und du kannst mich jederzeit besuchen kommen.“
„Mach’s gut.“ Ich wandte mich ab.
„Hagen! Wo willst du denn hin?“
„Brauch‘ noch ein bisschen frische Luft.“
„Küss mich.“
Ich machte einen Schritt auf sie zu, fasst sie an beiden Armen, küsste sie auf den Mund.
Dann ließ ich von ihr ab. „Bis die Tage.“
Ich dreht mich um, schwang mich auf mein Rad und fuhr davon.
Am nächsten Tag brach sie auf nach Masuren.
*
Der HIT bohrte sich wieder durch die Enden der Ohrhörer unter mein Schädeldach, während ich in meiner Fahrradkurier-Kluft durch die Straßen jagte.
Ich bremste endlich vor dem Café, stellte mein Rad ab.
Ich klettert die Stiege zum Eingang hinauf und nahm an meinem Stammtisch – mit Fensterblick – Platz.
Klara erschien, nahm die Bestellung entgegen.
Während sie sich hinter der Theke zu schaffen machte, holte ich meinen Klapprechner hervor.
Klara kam mit dem Kaffekrug, setzte ihn vor mir ab.
Als sie gehen wollte, fragt ich sie etwas, und sie wandte sich wieder zu mir.
Ich las ihr etwas von dem vor, was ich geschrieben hatte.
Sie setzte sich zu mir an den Tisch.
*
Sie kam mit mir die Straße hinauf, und wir blieben stehen vor meiner Haustüre.
„Kommst du noch mit rauf?“ fragte ich.
„Ist das dein Ernst?“
„Ich weiß nicht. Hast du Lust?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Willst du das wirklich wissen?“
„Ist es wegen Julia?“
„Nein, es ist nicht wegen Julia. – Es ist wegen dir.“
„Was ist denn mit mir?“
„Du hast nichts zu bieten.“
„Was sollte ich denn ‚bieten‘?“
„Eine warme Wohnung zum Beispiel mit einer funktionierenden Badewanne, einem Wohn-, einem Schlaf-, einem Arbeits- und einem Kinderzimmer. Ein geregeltes Einkommen, jährlich einmal in Urlaub fahren mit der Familie…“
„Du suchst einen Mann mit Geld.“
„Er sollte nicht geizig sein.“
„Ich bin geizig?“
„Ja.“
„Julia sieht das vielleicht nicht so.“
„Julia tut mir leid. – Ich muss jetzt weiter, Hagen. Gute Nacht!“
Sie winkt zum Abschied.
Mir wurde klar, dass es nicht diese Gesellschaft – solcher Frauen – war, die mir fehlte.
Sie konnten mir nicht geben, wonach ich mich sehnte.
Ich begriff, was ich zu tun hatte.
Bereits kramte ich mein Smartphone hervor, suchte eine Nummer aus dem Telefonbuch, ließ sie anwählen.
Und der Funkturm ragte über der großen Stadt in die Nacht – und sein kleineres Gegenstück glänzte 500 Kilometer entfernt im Mondlicht vor dem Hintergrund der Seen und Wälder Masurens.
Ich stand, das Handy ans Ohr gepresst, vor unserem Hauseingang: „Hallo, Julia? Hier ist Hagen! – Ich freu‘ mich auch, Deine Stimme zu hören. – Was? – Ich auch, Schatz! Ich dreh‘ hier durch ohne dich… Was? Du bist beim Catering? Die haben ja keine Ahnung, ich dachte sie suchen jemand für Make-up. – Du musst auf den Putz hauen, dann wirst du den Job schon bekommen. Nicht klein beigeben…“
Ich konnte sie vor mir sehen, nachts in ihrem polnischen Hotelzimmer. Sie saß auf dem Bett, hatte ihr Smartphone am Ohr.
Aufgeregt tigerte ich hin und her. „Versuch‘ nicht, mir’s auszureden. – Zug? Ich komm‘ mit dem Auto, dem Bus, dem Zug. Wenn’s sein muss, mach‘ ich mir Flügel, Hauptsache ich seh‘ dich bald wieder. Und dann heiraten wir – in einer kleinen polnischen Kapelle…“
Ich lauschte angespannt in der Hörer.
Dann hellte mein Gesicht auf. „Das ist genau, was ich von dir hören wollte. – Auf Wiedersehen. – Ich seh‘ dich in Kürze!“ Ich küsste sie übers Telefon. „Ja.“ Und gab ihr noch einen Kuss. „Chiao!“
*
Die Strecke zu dem Drehort schlängelte sich auf der Anzeige meines Smartphones als blaue Linie über die Karte des nördlichen Polens.
Während der Durchgangsverkehr an mir vorbeirauschte, kam ich voran auf meinem Fahrrad.
Vier Tage, hatte mir ausgerechnet, würde ich unterwegs sein.
Mit dem Zug wären es 10 Stunden gewesen. Aber ich brauchte das Geld für die Hochzeitsringe. In Polen sollten sie billiger zu bekommen sein.
Der Spezial-Halter im Rahmen meines Rades umklammerte eine große Trinkflasche, welche ich an den Rast-Stationen auffüllen konnte. Für umsonst. Ich war knapp bei Kasse.
Mit wirbelndem Vorderrad verkürzte ich die blaue Linie zwischen mir und dem Ziel bei den Seen, fuhr durch Wiesen-Landschaften, überquerte einen berühmten Fluss auf breiter Brücke und wartete – später – an eingleisigen Bahnübergängen auf das Vorüberpoltern der grünlichen Nahverkehrszüge.
Als die Ausläufer der Seen nahten, gönnte ich mir eines der fettverspritzenden Würstchen von den kleinen Kiosken am Straßenrand. Dann schwang ich mich zurück aufs Fahrrad und pedalte die Anhöhen hinauf.
Andererseits stieg ich ab, wischte mir den Schweiß von der Stirn und schob das Rad mit den schweren Gepäcktaschen am Straßenrand.
Ein protziger Geländewagen rauschte eng an mir vorbei und kippte mich in den Straßengraben.
„Arschloch!“ schrie ich ihm nach.
Ich wuchtete mich – samt Rad – wieder nach oben und steuerte auf den nächsten Rastplatz zu.
*
Der Geländewagen stand in einer kleinen Ausbuchtung am Straßenrand.
Ich stieg schräg dahinter vom Sattel, klappt die Stütze aus und parkt das Rad. Ich schaute mich um. Niemand war zu sehen.
Laut Länderkennzeichen kam der Wagen aus Deutschland. Auch das Nummernschild sah deutsch aus.
Ich begab mich zu einer Stelle zwischen zwei Bäumen, um zu urinieren.
Ich schaute in die sich mir gegenüber öffnende, menschenleere Landschaft.
Ein unbestimmtes Geräusch zog meinen Blick nach links. Dort stand – vor dem Kühler des Geländewagens – ein mittelgroßer Mann mit kräftigem Oberkörper.
Er schaute durch ein Fernglas in dieselbe Richtung, in die ich geblickt hatte.
Unsere Blicke trafen sich.
Der Mann nickte kurz, ließ das Fernglas sinken und begab sich aus meinem Sichtfeld hinter den Geländewagen.
Ich hörte die Türe schlagen. Wenig später startete der Motor.
Ich beendete mein Geschäft – sah über die Schulter, wie der Wagen sich meinem abgestellten Fahrrad näherte.
„He!“
Es wurde gestreift, fiel um.
„He! Pass doch auf!“
Der Hinterreifen des Geländewagens fuhr über das Vorderrad meines Bikes und verbog es.
„Verdammte Scheiße!“
Ich trat gegen den Kotflügel des Geländewagens, ein dumpfes Geräusch hinterlassend.
Der Wagen hielt an.
Ich zerrte mein Fahrrad hervor.
Auf der anderen Seite erschien das Gesicht des Fahrers.
„Sie haben mein Fahrrad platt gemacht! Verdammt! – Can you understand me?“
Der Mann kam um die Kühlerhaube und schaute sich Bescherung an.
„Das war ich?“
Er stand etwas unsicher auf den Beinen.
„Allerdings!“
Er holte eine mit Gummiband umbundene Rolle 100-Euro-Scheine aus der Tasche. Er zog zwei Scheine daraus hervor und hielt sie mir hin.
„Das dürfte reichen?“
Ich nahm das Geld sofort, steckte es ein. „Und jetzt?“
„Kaufen Sie sich ein neues Vorderrad.“
„Wo denn? Sehen Sie hier irgendwo einen Laden?“
Der Mann ging leicht humpelnd zum Heck seines Wagens und klappte es hoch. „Ich nehm‘ Sie mit zur nächsten Ortschaft. Können Sie fahren?“
„Auto?
„Haben Sie einen Führerschein?“
„Nicht dabei.“
„Das ist nicht so wichtig.“
Bald schaukelte der Vorderteil meines Fahrrades unter der Heckklappe des Geländewagens, während dieser die Parkbucht verließ.
*
Ich saß am Steuer. Neben „Nowak“, so hatte er sich mit vorgestellt.
Er schaute seitlich aus dem Fenster.
Er redete nicht viel, außer wenn er mir Anweisungen gab. Wir fuhren bald von der Hauptstraße ab, über ungeteerte Nebenwege, Abkürzungen, wie er meinte. Mir war nicht klar, ob er sich in der Gegend auskannte.
Ich hielt auf einer Hügelkuppe mit Waldstück.
Nowak stieg aus und humpelt an die höchste Stelle. Dort holt er sein Fernglas heraus.
Hinterm Steuer sah ich, wie er die Landschaft auf der anderen Seite mit seinem Fernglas abzusuchen schien.
Er kam zurück.
„Suchen Sie was?“
Seine Antwort ist ein unbestimmtes Brummen.
„Jemand bestimmten?“
Nowak zeigte in die Richtung, aus der er gerade kam.
„In dem Tal liegt eine Ortschaft. Da finden sie vielleicht Ihren Vorderreifen.“
Fehlanzeige. In der polnischen Kleinstadt gab es eine Apotheke, einen Gemischtwarenladen, zwei Kneipen, eine davon wegen Umbau geschlossen. Das nächste Fahrradgeschäft befand sich in einer 30 Kilometer entfernten Kleinstadt, wenn ich die Apothekerin, die mir den Weg beschrieb, richtig verstanden hatte.
Nowak schaute gedankenverloren durch die Windschutzscheibe, während wir weiter über eine Landstraße fuhren. Er war stiller geworden, nachdem er zwei von den Schmerztabletten genommen hatte, die ich ihm in der Apotheke besorgt hatte.
Migräne, hatte er mir erklärt.
Er veränderte seine Sitzposition, biss dabei die Zähne zusammen.
Das Fernglas fiel aus seinem Schoss auf den Boden.
Vielleicht suchte er ja gar nicht nach etwas, sondern befand sich davor auf der Flucht, so wie er sich weiter die ganze Zeit umschaute. Mir konnte es imgrunde egal sein, solange wir in die Richtung Julias fuhren.
Aber wenn dann plötzlich etwas Unerwartetes auftauchte, wäre ich vielleicht mit gefangen, mit gehangen. Er musste meine Gedanken erraten, denn auf einmal sagte er: „Ich suche eine Frau.“
„Ihre Frau?“
„Könnte man so sagen. Sie gehört zu mir.“
„Ist sie Ihnen weggelaufen?“
„Ja.“ Er stöhnte. „Verdammtes Miststück.“
„Na ja…“
„Sie ist brünett, kleine schlanke Figur – hat eine Narbe auf der Stirn. Wenn Sie sie sehen, sagen sie mir Bescheid.“
„Wo sollte ich sie denn sehen? Hier auf der Straße?“
„Allerdings.“
„Was fährt sie für einen Wagen?“
„Sie hat keinen Wagen. Entweder fährt sie irgendwo mit, oder sie geht zu Fuß.“
„Gab’s irgendwelche Probleme?“
„Was für Probleme?“
„Zwischen ihr und Ihnen?“
„Es ist besser, wenn ich sie finde. Da hinten kommt eine Tankstelle. Wir fragen dort, ob sie jemand gesehen hat.“
„Sprechen Sie polnisch?“
„Ja.“
In diesem Moment hätte ich wahrscheinlich noch aussteigen, mein Fahrrad nehmen und damit irgendwie zum nächsten Ort kommen können. Von dem Geld, das er mir für die Reparatur gegeben hatte, hätte ich mir dort wahrscheinlich sogar ein neues kaufen können. Aber ich dachte an Julia. Dadurch, dass ich statt per Rad nun im Auto unterwegs war, hatte die Entfernung zwischen uns überaus abgenommen, und was mein Mitfahrer suchte, lag offenbar in ihrer Richtung. Ich konnte vielleicht sogar am selben Abend noch bei ihr sein.
An der Tankstelle hielt ich bei den Zapfsäulen.
Nowak steigt aus und humpelt herüber in den Verkaufsraum.
Ich machte mich daran, den Wagen zu betanken.
Während die Tankuhr flackerte, sah ich, wie Nowak in dem gläsernen Gehäuse mit einem Angestellten redete.
Ich hängte die Tankpistole zurück und ging rüber zu dem Glaskasten, aus dem Nowak mir entgegentrat.
„Sie ist wahrscheinlich vor einer halben Stunde hier gewesen.“
„Der Tankwart hat sie gesehen?“
„Es könnte sie gewesen sein. Wir fahren in den nächsten Ort.“
Er zuckt zusammen. Pulte eine Schmerztablette aus der Folie, die ich ihm besorgt hatte, und schluckt sie herunter.
„Wasser. Ich brauch‘ was zu trinken. – Hier…“ Er zog seine Geldrolle hervor und gab mir einen Schein.
Ich betrat den Verkaufsraum, bezahlte für die Tankfüllung und ging dann zu dem Getränke-Regal – nahm eine Flasche Mineralwasser. Begab mich damit zum Tresen und stellt sie neben den Zahlteller.
Nowaks Gesicht war schmerzverzerrt, als er zurückkletterte auf den Beifahrersitz des Geländewagens.
Er zog weitere Geldscheine aus seiner Geldrolle, hielt sie mir hin.
„Hier, für dich!“
„Wofür?“
„Ich muss sie unbedingt finden.“
Der Angestellte beobachtete aus seinem Glaskasten, wie ich das Geld nahm und es wegsteckte.
Dann startete ich den Wagen und fuhr los.
Nowak sagte mir, dass er aus Hinweisen, die ihm von dem Tankwart gegeben worden waren, wisse, wo er die Frau finden werde. Den genauen Ort wolle er mir erst mitteilen, wenn wir „in der Stadt“ angekommen wären. Danach könnte ich dann mein Fahrrad reparieren lassen und mich auf den Weg zu Julia machen. Der Drehort ihres Films sei parktisch um die Ecke.
Der erregende Gedanke, ihr bald gegenüber zu stehen, ergriff Besitz von mir. Unsere Musik, der Sommer-HIT, schwoll an in meiner Fantasie. Und ich sah Julia dazu einen Mittelgang hinauf kommen, im Brautkleid.
Vor dem Altar erwartete ich sie im schwarzem Anzug. Ein Priester trat hinzu, legt unsere Hände ineinander.
„Hagen“, sagte er mit polnischem Akzent, „willst Du Julia als Deine Ehefrau annehmen, sie lieben und ehren, Freude und Leid mit ihr teilen und ihr die Treue halten an guten wie an schlechten Tagen bis das der Tod Euch scheidet, so antworte: Ja, ich will, mit Gottes Hilfe.“
„Ja ich will.“
Der Priester wandte sich Julia zu.
„Julia, willst Du Hagen als Deinen Ehemann annehmen, ihn lieben und ehren, Freude und Leid mit ihm teilen und ihm die Treue halten an guten wie an schlechten Tagen bis das der Tod Euch scheidet, so antworte: Ja ich will.“
„Ja, ich will.“
Und der der Priester segnet die Ringe. Glocken läuteten, während wir einander die Ringe ansteckten.
Unversehens regnet es Blumen.
Ein schubsender Ruck durchfuhr mich. Fasst hätte ich den Wagen von der Straße gelenkt.
Nowak war zur Seite gekippt, sein großer Kopf lag auf meinem Schoß.
Ich bremste den Wagen abrupt auf der Landstraße in der Nähe eines kleine Flusses. Fuhr ihn dann – mit einem Satz – wieder an, bog in den nächsten Feldweg und hielt vor einer kleinen Brücke.
Dann wuchtete ich Nowak von meinem Schoß, sprang hinaus und ging hinüber zur Beifahrerseite.
Bis zu diesem Moment war mein Leben eigentlich mehr oder weniger so gelaufen, wie ich’s mir vorgestellt hatte. Von jetzt an aber entglitt mir alles und kam nie wieder zurück ins normale Lot.
Als ich die Beifahrertüre öffnete, fiel der schwere Oberkörper Nowaks heraus. Seine Beine bleiben verhakt im Inneren des Wagens, das Hemd platzte auf und gab den Blick frei auf ein Einschussloch im Unterbauch.
Nowaks verdrehte Augen starrten zu mir hinauf.
„Nowak! Haben Sie sich verletzt?“ Ich blickte mich panisch um. „Nowak! – Ein Verbandskasten“, redete ich mit mir selber, „wo ist der Verbandskasten?
Ich beugte mich über den leblosen Körper ins Innere des Wagens, suchte panisch herum, öffnete das Handschuhfach, griff hinein. Meine Hand kam wieder zum Vorschein und umklammerte – einen Revolver.
Die Waffe hatte sich die ganze Zeit in der Ablage befunden. Und jetzt hielt ich sie in den Händen.
Ich warf sie in weitem Bogen in den kleinen Fluss.
Im Rückspiegel an der Beifahrertüre erkannt ich mein Gesicht, von Panik gezeichnet.
Nowaks teigige Visage starrte mich an.
Ich zerrte mein Fahrrad aus dem Wagen. Weg von hier!
Aber dann wurde mir klar, dass mir das nichts bringen würde. Im Gegenteil. Man hatte mich mit Nowak zusammen gesehen. Der Kerl in der Tankstelle würde sich als erster erinnern.
Ich packt das Fahrrad zurück in den Wagen.
Wie sollte ich mein Abhauen der Polizei erklären, falls sie mich aufspürten?
Ich schaut mich ängstlich um.
Also besser gleich zur Polizei gehen?
Wohl kaum. Die würden mich auslachen, wenn ich ihnen erzählte, was wirklich passiert war.
In mir reifte ein Entschluss . . .
Was blieb mir anderes übrig, als Nowak zu verstecken und mit seinem Auto zu verschwinden? Ich durfte es nicht stehen lassen. Genauso gut hätte ich einen Grabstein errichten können.
Ich bückt sich nach der Leiche, griff sie unter den Schultern.
Ich schleppte sie die Böschung hinab unter die kleine Brücke.
Ich klettert wieder nach oben und schaut mich um.
Fasste mich an den Kopf.
Vielleicht brauchte ich ja nochmal Geld – um beispielsweise zu tanken . . . Sicher war sicher. Außerdem war des sinnlos, Geld mit einem Toten zu beerdigen.
Ich klettert wieder herunter zu dem Leichnam
Außerdem brauchte ich die Wagenpapiere. Falls man mich anhalten sollte.
Ich bückte mich nach dem Leichnam.
Ich sträubte mich, daran denken. Ich war im Begriff, genau das zu tun, von dem die Polizei sagen würde, dass ich es getan hätte, obwohl ich’s nicht wirklich getan hatte.
Meine Kleidung, sie würde nicht zu dem Fahrer eines solchen Wagens passen – Verdacht erregen.
Ich zog Nowaks Jacke aus.
Oben beim Wagen tauchte ich in der Kleidung Nowaks auf. Meine eigene verstaute ich in den Satteltaschen des Fahrrads.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält ein PKW
Eine junge Frau stieg aus, mit ihr ein kleines Kind, dem sie die Hosen auszog, um es über dem Straßengraben abzuhalten.
In meiner Faust drehte ich die Rolle mit den Banknoten.
Die Frau schaute zu mir herüber. Lächelte wie zur Entschuldigung.
Ich wendete mich ab und kletterte hinter das Steuer des Geländewagens.
Vor dort beobachtete ich, wie das Geschäft gegenüber zu Ende gebracht wurde.
Die Mutter kletterte mit ihrem Kind wieder in den Wagen. Dieser bog zurück auf die Asphaltbahn und fuhr davon.
Ich drehte den Zündschlüssel und legte den ersten Gang ein.
*
Ich trat auf die Bremse.
Vor mir quer auf der Fahrbahn stand ein Polizeiauto.
Es fuhr an den Rand der Straße.
Ich sah, wie ein Uniformierter ausstieg.
Er bedeutete mit, die Scheibe herunter zu drehen.
Er sagte etwas auf Polnisch.
„Ich verstehe sie leider nicht.“
Er wiederholte seine Aussage, kürzer.
Ich fischte im Handschuhfach nach den Fahrzeugpapieren, reichte sie heraus.
Der Polizist studierte sie kurz, reichte sie dann zurück.
Er insistierte, dem Ton nach, in Polnisch auf etwas anderem. Dem Führerschein?
Ich zuckte die Schultern. „I don’t understand you.“
Der Polizist bedeute mir, auszusteigen.
Ich leistete seinem Befehl Folge.
Da ertönte eine Nachricht aus dem Funkgerät des Polizeiwagens.
Der Polizist eilte hin. Er stieg in den Wagen. Erwiderte etwas über Funk. Dann zog er die Türe zu. Das Alarmlicht ging an, der Polizeiwagen preschte los und mit Sirenengeheul davon.
Ich steht noch eine Weile wie vom Donner gerührt.
Dann kletterte ich zurück in Nowaks Wagen.
Ich fuhr los.
*
Die Landschaft hatte sich verändert.
Noch lange, nachdem ich losgefahren war, wartete ich darauf, dass hinter mir Sirenen aufheulen würden. Erst als ich die nächste Stadt erreichte, fühlte ich mich sicherer.
Dann wurde mir jedoch klar, dass es vielleicht zu früh dafür war. Ich hatte vor, den Wagen hier irgendwo abzustellen, mein Fahrrad reparieren zu lassen, und mich damit aus dem Staub zu machen. Aber die Stadt war zu klein. Jeder würde sich an mich erinnern. Ich musste den Wagen irgendwo anders loswerden. In einem Waldstück vielleicht oder in einem der Seen. Am besten nachts. Von dort konnte ich dann mit dem Fahrrad entkommen.
In dem Radgeschäft der kleinen Stadt ließ ich mir eine Vorderfelge von dem Verkäufer aus dem Lager heraufholen und verpacken.
Dann fiel mir ein, dass ich den Toten im Grunde gut versteckt hatte, seine Kleidung trug. Wer mich hier mit seinem Wagen sah, würde später wahrscheinlich eine Beschreibung geben, die nahe legte, dass er ihn, nicht mich gesehen hatte.
Ich tastete das Jackett in Brusthöhe ab, zog die Brieftasche heraus, aus dieser – nach kurzer Musterung des Inhalts – einen Personalausweis.
Wenn es mir gelingen würde, ein Hotelzimmer in seinem Namen zu mieten, wäre das der Beweis, dass er noch lebte, als er sich nicht mehr in meiner Gesellschaft befand. Ich wäre ein für allemal aus dem Schneider.
Wir sahen uns zwar nicht zum Verwechseln ähnlich, aber auf einen Versuch konnte man es ankommen lassen.
Ich übte auf einem Blatt Papier, die Unterschrift Nowaks nachzumachen.
Wenn es Schwierigkeiten gab, konnte ich die Einbuchung immer noch abbrechen. Selbst dann würde der Name in Erinnerung bleiben: das Fahrzeug und dass „Nowak“ zu diesem Zeitpunkt offenbar noch am Leben war.
Ich machte mich auf die Suche nach einem Hotel.
*
Am Ende der Straße zeichnet sich die Leuchtreklame Hotel ab.
Ich stellte den Wagen ab auf der anderen Straßenseite, stieg aus und schloss ab.
Am Empfang füllte ich die Anmeldung aus, beobachtet von dem kleinem Mann hinter dem Tresen.
Ich signierte mit Nowaks Unterschrift, reichte den Zettel dem Rezeptionisten.
Dieser studierte ihn kurz. „Mr. Nowak?“
„Yes.“
„Passport?“
Ich schüttelte den Kopf. „Identity Card.“ Ich suchte in den Taschen des Anzugs. „It’s in my car. I get it later?“
„Okay.“
„Can I pay now?“
Ich holt das Geldbündel aus den Taschen. Der Rezeptionist betrachtet es mit gierigen Augen.
In dem Einzelzimmer lag ich dann auf dem Bett und sah fern.
Das Mädchen von der Nachtschicht fragte nicht mehr nach dem Personalausweis. Hätte sie es getan, wäre ich hinaus zum Wagen gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
So aber fingen die Dinge endlich an, in meinem Sinn zu laufen, und ich begann, wieder Land zu sehen.
Nachdem ich in Nowaks Anzug – auf dem Bauch liegend – eingeschlafen war, suchten mich die Bilder des Toten und seiner „Entsorgung“ noch einmal heim. „Nowak!“ schrie ich in Watte. „Haben Sie sich verletzt? – Nowak!“
Telefonschrillen rissen mich aus dem Traum.
Ich nahm den Hörer des Apparates neben dem Bett ab.
„Mr. Nowak“, sagte eine Frauenstimme. „Breakfast is waiting.“
„Okay. I’m coming. In 15 minutes.“
Ich erhob mich und stieg aus Nowaks Sachen.
Sie hatten es gefressen. In ihren Augen war ich Nowak. Die Ausweis-Nummer, die ich auf die Anmeldung geschrieben hatte, war die von Nowaks Personalausweis. Seine Unterschrift würde beweisen, dass er heute Nacht hier in dem Hotel war – und nicht an einem Ort, in dessen Nähe er kurz zuvor noch in meiner Gesellschaft gesehen wurde. Ich fühlte mich erleichtert.
Ich ging ins Bad.
Ich duschte.
Als nächstes musste ich nur noch den Wagen loswerden. Ich hatte mich entschlossen, ihn in irgendeinem der vielen Seen hier zur versenken.
Danach brauchte ich nur, dachte ich beim Rasieren, wieder in meine Klamotten zu schlüpfen, aufs Fahrrad zu steigen und war wieder ganz der Alte. Na ja, nicht ganz. Ein paar Euro hätte ich schon mehr in der Tasche.
Ich musste grinsen.
Aber dafür hatte ich auch ganz schön schwitzen müssen. Ich hatte es mir verdient.
Auf dem Nachttisch lag die Geldrolle. Ich schnappte sie mir mit der Linken und steckte sie weg.
Im Speiseraum saß ich allein in einer Ecke vor den Resten meines Frühstücks.
Ich holte die Geldrolle hervor.
45.000 Euro. Ich wusste nicht, was Nowaks Geschäfte waren, und verspürte auch keine besondere Lust, sie näher kennenzulernen. Das viele Geld brannte in meinen Händen. Aber was sollte ich damit tun? Es wegwerfen? Der Wohlfahrt spenden und dadurch wieder den ganzen Verdacht auf mich lenken?
Später im Juwelier-Laden der kleinen Stadt zeigt der Besitzer zunächst auf die falsche Uhr in seinem Schaufenster, die billigere, aber ich wollte das andere Modell, sein teuerstes, haben …