Dramatica

DRAMATICA beruht auf einem Begriff des Geschichtenerzählens, den seine Erfinder „Grand Argument Story“ getauft haben. Die Software ist ein Hilfsmittel, um Logik und Vollständigkeit einer Grand Argument Story sicherzustellen. Sie wurde (laut Handbuch „15 Jahre lang…“) von Melanie Anne Phillips und Chris Huntley entwickelt. Beide sind Absolventen des Film-Studiengangs der University of Southern California (USC) in Los Angeles. Chris Huntley ist Präsident von Screenplay Systems, eines Softwarehauses, das sich in Hollywood unentbehrlich gemacht hat mit dem Kalkulations- und Drehplan-Programm MOVIE MAGIC. Implementiert wurde die Grand Argument Story von Huntleys Studienkollegen Stephen Greenfield (dem Programmierer von MOVIE MAGIC) zur DRAMATICA-Software. Greenfield ist Vizepräsident von Screenplay Systems.

Gängige Drehbuchlehren wie die Syd Fields, Robert McKees, Frank Daniels, Linda Segers u.a.m. lassen sich ohne weiteres in DRAMATICA abbilden, und es kommen noch ein paar Termini hinzu, die Zusammenhänge fassen, deren Darstellung außerhalb des Begriffsvermögens gewohnter Zugänge liegt (etwa die besondere Rolle Hannibal Lecters im SCHWEIGEN DER LÄMMER…). Die DRAMATICA zugrunde liegende Theorie der Grand Argument Story ist der Hinduismus unter den Drehbuchreligionen; sie hat für alle Zugänge Platz und spricht keinem etwas ab.

Die Grand Argument Story besteht unabhängig vom Computer. Die DRAMATICA-Software wird eingesetzt, um die vielen Einflussgrößen des Grand Arguments zu vermerken und in vorgeschriebener Beziehung zu halten. So wie ein Taschenrechner es einem erleichtert, eine verwickelte Berechnung durchzuführen, ohne dabei selbst die Mathematik zu beeinflussen oder zu erweitern.

Das Grand Argument ist keine Geschichte, sondern die Form einer Geschichte; es schlägt mit anderen Worten nicht (wie z.B. eine anderes Drehbuchprogramm: PLOTS UNLIMITED) bestimmte Inhalte vor (etwa „Zwei Freundinnen suchen einen Mann“, „Ein Marathonläufer will Olympiasieger werden“ usf.), sondern gibt an, welche Eigenschaften etwas, das erzählt werden soll, ungefähr haben muss, um ein Grand Argument zu sein, vergleichbar dramaturgischen Vorschriften wie „Im Krimi muss ein Mord aufgeklärt werden“, „Im Horrorfilm ist der Antagonist ein Ungeheuer“ oder „Eine Hauptfigur braucht ein Ziel“, womit ja auch weniger Inhalt, sondern eine Form angegeben wird, die Inhalte haben müssten, damit man von ihnen sagen kann, sie seien Teil einer Geschichte dieser oder jener Art (eines Krimis, eines Horrorfilms…). Eine Drehbuchlehre könnte man als Verzeichnis solcher Eigenschaften auffassen, eine Art Frage- oder Checkliste, anhand derer man seine Einfälle (die Inhalte) auf ihre Eignung für das prüft, was – gemäß der gerade verwandten Regel – eine Geschichte ausmacht. Das Grand Argument ist eine ziemlich lange Liste mit weit über 100 Maßgaben, die in fünf Gruppen zerfallen. Es ist folglich nicht so, dass im Fall DRAMATICAs „der Computer Geschichten schreibt“. Man braucht schon Inhalte (Einfälle, Ideen), um dann mit Hilfe von DRAMATICA überprüfen zu können, ob sie Grand-Argument-tauglich sind. Wenn sie in dieser Hinsicht etwas zu wünschen übrig lassen, wird man vielleicht Anpassungen vornehmen, und das ist dann der Einfluss des Programms. Ohne erste Vorstellungen des Autors oder der Autorin aber kann auch die Software nichts anfangen.

In DRAMATICA ist die Grand Argument-„Liste“ so aufbereitet, dass man sich ihr an jeder Stelle widmen kann. Es gibt keine vorgeschriebene Reihenfolge zum Abhandeln ihrer Punkte; man kann also etwa zuerst eine Frage in der Mitte, danach eine gen Ende, dann eine vom Anfang und so weiter in beliebigem Nacheinander beantworten. Jede Antwort aber verringert die Anzahl zugelassener weiterer Antworten auf noch nicht behandelte Fragen. So beantwortet man etwa (im nun folgenden Beispiel) zuerst Fragen nach den (wie DRAMATICA sie nennt) „Dynamics“ seines Einfalls: man informiert das Programm, ob die Hauptfigur der Geschichte, die einem vorschwebt, sich verändert oder bleibt, wie sie ist – ob sie dadurch ihr Ziel erreicht oder verfehlt – ob dieses (Erreichen oder Verfehlen) für sie gut oder schlecht ist usf. Indem man solche Antworten eingibt, legt DRAMATICA nun z. B. parallel Wesen und Entwicklung eines entsprechenden (von solchen „Dynamics“ bedingten) Grand-Argument-Plots fest, was sich dem Anwender dadurch mitteilt, dass später (an anderer Stelle der Liste) auf Plot-Fragen (etwa nach der Gestalt des Ziels) nur noch eine bestimmte Reihe von Antworten möglich ist. Man könnte aber auch andersrum erst auf Plotfragen (also z. B. nach der Gestalt des Ziels) antworten, würde dadurch aber zugleich wieder entsprechende „Dynamics“ bestimmen. Indem man sich also an einer Stelle festlegt, werden vom Programm auch woanders Wege bestimmt, die die Geschichte nun nehmen muss, damit ein Grand Argument daraus wird. So sieht es jedenfalls für den Benutzer aus. In Wirklichkeit liegen der Software infolge der vom Grand Argument zugelassenen Kombinationsmöglichkeit von Eigenschaften 32.768 mögliche „Storyforms“ zugrunde, die über ein (letztlich mechanisches) Frageschema hervorgebracht werden können.

Eine Grand Argument Story fasst die Handlung einer Geschichte aus vier Blickwinkeln auf. Diese heißen „Objective Story“, „Subjective Story“, „Main Character Story“ und „Obstacle Character Story“. Es sind vier unabhängig voneinander funktionierende Erzählungen. Jede hat für sich Bestand, miteinander aber „dimensionieren“ sie ein Grand Argument. Man stellt sich das am besten an Hand eines Beispiels (also von Inhalt) vor, etwa eines Fußballspiels: Die „Objective Story“ wäre dann das Spiel aus der Sicht des Zuschauers auf der Tribüne; es hat von dort gesehen einen Anfang, einen Verlauf, ein Ende, also einen Plot, und kann in solcher Weise wiedergegeben werden als abgeschlossenes Ereignis. Die „Main Character Story“ könnte dann etwa die des gegnerischen Torwarts sein, der zum Beispiel bestochen worden ist, den entscheidenden Ball durchzulassen. Der Main Character in einem Grand Argument ist die spielentscheidende Größe; er muss hierzu nicht der Protagonist (Mittelstürmer) sein, hält aber den Schlüssel zur Lösung des Problems (zum Ausgang des Spiels) in den Händen. Auch aus der Sicht des „verräterischen Torwarts“ lässt sich das ganze Spiel vollständig durcherzählen, ohne dass man dafür auch nur einmal von der Tribüne aus zuschauen müsste. Es ist dasselbe Geschehen, anders erlebt. Als dritten Standpunkt verlangt das Grand Argument den „Obstacle Character“, eine Person, die auf den Main Character einwirkt, also vielleicht der rechte Verteidiger, der weiß oder ahnt, was der Torwart im Sinn hat, und versucht, ihn davon abzubringen. Berühmte Obstacle Characters sind (laut Grand Argument) Hannibal Lecter oder Jack („Leonardo“) Dawson in TITANIC, da ihr Zweck darin besteht, auf den Main Character einzuwirken. Die Grand Argument Story verlangt, dass der Ausgang der Objective Story (des Fußballspiels) durch das Verhalten des Main Characters (des Torwarts) bedingt wird. Und zwar, indem der Main Character sich verändert oder bleibt, wie er ist. Des Weiteren: wenn der Main Character bleibt, wie er ist, verändert er damit den Obstacle Character; wenn dagegen der Obstacle Character bleibt, wie er ist, verändert er damit den Main Character. Und es ist letztlich diese Bewegung zwischen Main oder Obstacle Character, die im Höhepunkt den Ausgang des Grand Arguments (die Spielentscheidung) zur Folge hat. Die Bewegung zwischen Main und Obstacle Character (wer überzeugt wen?) ist zugleich Inhalt der vierten Sicht auf die Ereignisse oder Erzählung, der „Subjective Story“. Wie das Fußballspiel also ausgeht, hängt davon ab, ob der rechte Verteidiger den Torwart von seinem Vorhaben abbringen kann, den Ball einmal durchzulassen. Gelingt es ihm, hat er den Torwart verändert; gelingt es ihm nicht, ist es der Torwart, der den rechten Verteidiger verändert hat, sei es dadurch, dass er regelrecht dessen Gesinnung „umdrehte“, oder dass er ihn einfach nur dazu brachte, die Beeinflussung aufzugeben. Auch die Geschichte des rechten Verteidigers, eines Mannes, der ein Fiasko verhindern möchte, ließe sich – ohne Berücksichtigung der anderen Sichten – von Anfang bis Ende durcherzählen. Erst aber, wenn man alles zusammen nimmt und darstellt: das Spiel aus Sicht der Tribüne, des Torwarts, des Verteidigers, erlebt man das ganze „große Argument“. Und darum geht es der Grand Argument Story: sie will aus mehreren Blickwinkeln zeigen und beweisen, weswegen das Spiel so (und nicht anders) ausgegangen ist.

DRAMATICA bietet nun zu den einzelnen Grand Argument-Punkten („appreciations“ nennt sie das Programm) bestimmte Vorschläge an, zwischen denen man sich entscheiden muss. Dies geschieht vermittels mehr oder weniger umfangreicher Menüs. Um zu sehen, wie das funktioniert, nimmt man am besten einem Punkt, etwa „Goal“. Was soll das „Ziel“ in meiner Geschichte sein? Neben diesem Punkt lässt sich nun auf der Benutzeroberfläche des Programms ein Liste ansprechen, die mögliche Ziel-Eigenschaften vorschlägt. Diese werden je ausgedrückt durch einen knappen Begriff, z.B. „Obtaining“ oder „Past“ oder „Conceiving“; multiple choice-mässig muss man einen von ihnen aktivieren, um den Punkt, um den es geht, abgehandelt zu haben. Danach heißt es etwa „GOAL: Past“ – was die Frage nach dem Ziel dadurch beantwortet, dass ihm eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird, die es eher als eine andere haben soll. Es wird hier also (wie bei allen DRAMATICA-Bestimmungen) erzählerischer Inhalt nicht unmittelbar, sondern über eine Eigenschaft ausgedrückt, die er haben soll. DRAMATICA nennt solches Festlegen „Storyforming“. Es wird in dieser Weise ein Gerüst geschaffen, das dann in nächsten Schritten auszumalen ist. Dieses Gerüst besteht aus an die 100 Wortpaaren wie zum Beispiel: RESOLVE: Change / GROWTH: Start / APPROACH: Be-er / WORK: Decision / OUTCOME: Success / JUDGMENT: Bad usf.

Jede dieser Bezeichnungen ist ein Grand Argument-Fachausdruck, dessen Bedeutung in einem Wörterbuch erklärt wird. Eine Grand Argument Storyform, wie DRAMATICA sie schließlich ausgibt, ist nicht länger als zwei Seiten. Das Programm stellt neben den solcherart zusammengestellten Punkten Fenster zur Eingabe von passenden erzählerischen Inhalten zur Verfügung; dasselbe könnte aber auch jede beliebige andere Textverarbeitung leisten, in die man die Storyform-Liste übernimmt. Die eigentliche Leistung DRAMATICAs besteht im Komponieren einer Grand Argument Storyform nach den Angaben des Autors.

Aber was fängt man schließlich an mit so einer Storyform? Man malt die einzelnen Punkt aus und kommt auf diesem Weg zu einer Art Treatment. Zum Beispiel steht in meiner Storyform (unter fast 100 Wortpaaren) GOAL: Past / CONSEQUENCE: Memory – was bedeutet: das Ziel hat etwas mit „Vergangenheit“ zu tun, die Konsequenz (vom Programm-Wörterbuch definiert als „Zustand oder Vorgang, der aufhört oder anfängt zu bestehen, wenn das Ziel nicht erreicht wird“), hat etwas mit „Erinnerung“ zu tun. Diese Merkmale „sättige“ ich jetzt mit Inhalt. Ich entscheide zum Beispiel, dass die Konsequenz (Memory) bereits besteht und daher droht, nicht aufzuhören, falls das Ziel verfehlt wird. Also jemand wird zum Beispiel von Erinnerungen verfolgt, die nicht zu seinem gegenwärtigen Leben passen – ein Landstreicher meint, der Pilot eines Verkehrsflugzeugs gewesen zu sein, das vor zehn Jahren spurlos über der Nordsee verschwand – und er versucht, herauszufinden (sein Ziel!), was damals (Past) geschehen ist. Ein Mystery-Thriller…

Auf diese Art und Weise lenkt (und beflügelt) eine Grand Argument Storyform die Einbildungskraft. Ihre Vorgaben sind dabei so weit gefasst, dass sie endlos viele Geschichten ermöglichen. Denn das Wortpaar Past/Memory liesse auch ganz anders „sättigen“: ein dunkler kleiner Junge steigt bei einem Taxifahrer ein und behauptet, sein Sohn zu sein; der Taxifahrer aber kann sich an nichts erinnern – oder eine Richterin findet heraus, dass das Grab ihres Vaters leer ist, damals ein Hund darin beerdigt wurde – usf.

Lohnt es sich, die Grand Argument-Technik zu lernen – oder behindert die schiere Begriffsvielfalt einen nicht eher? Ich habe keine Ahnung. Was ich mir vorstellen könnte, ist, dass einem soap-Team, das sich auf DRAMATICA versteht, die Geschichten niemals ausgehen würden. Auch scheint sich mir die Methode zu eignen, verfahrenen Geschichten wieder auf den Weg zu helfen, einfach weil so viele originelle Fragen gestellt werden; es mag im Einzelfall z.B. reichen, nur zwei oder drei Grand Argument-Dimensionen abzuhandeln, um wieder Schwung in eine verfahrene Entwicklung zu bringen. DRAMATICA kann einem so aus einer Blockierung helfen. Es ist, wie gesagt, ein Werkzeug, vielseitig wie ein Schweizer Taschenmesser; aber man muss schon auch etwas vorliegen haben, um es damit zu beschnitzen.